Iris Meder


»Der Achleitner« ist fertig!« Ja, eh, nicht vollständig, aber dass den Band 4, Niederösterreich, jemand anderer machen muss, war ja schon länger klar. Trotzdem: Wien ist fertig! Das ultimative Kompendium zur österreichischen Architektur im 20. (und mittlerweile 21.) Jahrhundert umfasst jetzt, mit dem Erscheinen des von Gabriele Kaiser redaktionell mitbetreuten und vom Architekturzentrum Wien herausgegebenen Bandes zu den Bezirken 19 bis 23, die ganze Stadt.
Dicker als die anderen ist es, 496 Seiten, um genau zu sein, und beim ersten Aufschlagen ächzt und knarzt das stabil gebundene Buch ein wenig. Nicht umsonst hat man Dekaden darauf gelauert: Selbst für Auskenner und Auskennerinnen gibt es Perlen zu entdecken, von deren Existenz man nichts geahnt hat – alles ohne Pauschalurteile vorurteilsfrei betrachtet, was einen guten Teil der immer wieder bewundernswerten Qualität Achleitnerscher Architekturpublizistik ausmacht. Schon sympathisch anachronistisch ist die Ausstattung des Buches, die der der älteren Bände folgt. Die Gebäudetypen-Piktogramme entwickelte für den 1980 – und damit vor 30 Jahren – erschienenen ersten Band (Vorarlberg/Tirol/Salzburg/Oberösterreich) die Künstlerin Birgit Jürgenssen.
Das neue Buch über den kurz nach seiner Präsentation 90jährig verstorbenen Johannes Spalt ist ebenfalls beim traditionsreichen Salzburger Residenz Verlag erschienen. Seine exzeptionelle Gestaltung stammt unverkennbar von der Wiener Grafikerin Gabriele Lenz: teils geprägtes Textilcover, oben ein kecker Goldschnitt, A4 quer in guter Anlehnung an von Spalt (mit)herausgegebene Paperbacks der Siebziger und Achtziger wie den 1978 erschienenen Oswald-Haerdtl-Katalog oder das rot-weiße Josef-Frank-Buch von 1981. Innen geht die Freude am Objekt Buch optisch wie inhaltlich weiter: Fotos von Verena von Gagern zeigen die ganz spezifische lässige Wiener Wohn-Moderne, mit Frank-, Loos-, Thonet- und eben Spalt-Möbeln in entspannter und extrem sympathischer Koexistenz. Man fühlt sich zu Hause in diesen Häusern und Wohnungen, so sieht es auch bei Achleitners, Czechs, Uhls, Kurrents, Blaus, Mangs und Puchhammers aus. Wenig überraschend haben Wachsmann, Kurrent, Hoffmann, Frank und Loos die meisten Einträge im Register.
Albumartig sind gestalterische Prinzipien und Einflüsse Spalts zusammengestellt: Japan, Türkei, Anonyme Architektur, dazwischen eigene Bauten und Einrichtungen. Dazu kommen kenntnisreiche Essays von Monika Platzer, die das ebenfalls vom Az W herausgegebene Buch zusammengestellt hat, sowie von Wilfried Wang und Otto Kapfinger. In anderer Papierqualität und anderer Schrifttype sind die englischen Texte mit roter Fadenbindung und mattgoldenen Überschriften zwischen die deutschen gesetzt. Insgesamt ist der Band der ergänzende Zwilling zum ebenso empfehlenswerten Buch über die Arbeitsgruppe 4.
Deren zweites Hauptmitglied, Friedrich Kurrent, meldet sich im müry salzmann Verlag mit einem von Gabriele Kaiser zusammengestellten und von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur herausgegebenen schwarzen Band mit cremefarbener Bauchbinde namens »Aufrufe, Zurufe, Nachrufe« zu Wort. Chronologisch gruppiert von 1955 (damals gegen die Einrichtung eines österreichischen Bundesheeres) über historische Begegnungen etwa mit Hans Scharoun, Alvar Aalto, der Tochter Otto Wagners oder Adolf Loos’ Bürochef Heinrich Kulka bis zur jüngsten Vergangenheit (Abriss des Palasts der Republik, Begräbnis von Alfred Hrdlicka), ist das alles, ergänzt durch Manuskripte, Zeichnungen und Fotos, trotz der oft traurigen Anlässe nicht nur äußerst unterhaltsam, sondern auch sehr erhellend zu lesen. Was lernt man von den großen alten Männern der österreichischen kritischen Moderne? Den unvoreingenommen, unkorrumpierbaren Blick ganz sicher, das Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung und fundierte Meinung, den unprätentiösen, sachlichen Zugang. Dass man, wie Kurrent, ruhig auch an Angela Merkel und Papst Benedikt XVI. schreiben sollte, wenn etwas in die falsche oder aber in gar keine Richtung zu gehen droht. Dreimal: Empfehlung. Dreimal: Kaufen!


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