» Texte / Ahnen, nicht wissen: von der Freiheit im Überraum

Christoph Gollner


Ich war zwölf und es war geschafft – das U-Bahn-Netz für Gresten[1] war fertig gestellt. U1, U2, U3 und U4 waren in Betrieb und durchmaßen den Ort in alle Himmelsrichtungen. Betriebsmittel waren zur Hauptverkehrszeit (und bei guter Wetterlage) ein nagelneues 12-Gang-Rennrad, zu den Randzeiten (und bei schlechter Wetterlage) ein 3-Gang-Jugendrad, dem der Fahrer gerade entwachsen war. Die Fahrten sind einsam: der Cousin zwar zum Triebwagen degradiert, aber sonst – keine Passagiere. Und Fahrgäste werden nicht einmal imaginiert. Die Festschrift Die Grestner U-Bahn (1986) berichtet zwar vom extremen Personenmangel des mysteriösen glücklosen Vorläufers der U-Bahn, der Linie S1, die zunächst gerade mal die Gartelmühle mit dem Autohaus Weissensteiner verbunden hatte und vor der Anbindung des Grestner Zentrums aber unerklärlicherweise zurückgeschreckt war, schweigt sich über die aktuellen Fahrgastzahlen des neuen U-Bahn-Netzes aber aus.

Fahrgäste waren auch nicht wichtig. Es gab keinen Bedarf zu decken, nur das Bedürfnis des Autors zu befriedigen. Der Weg war das Ziel. Es war ein Netz entworfen worden, das in angenehmer Ausgewogenheit das Siedlungsgebiet abdeckt. Kreis- und achterförmig schlängeln sich die Linien durch den Ort. Der Netzplan ist, professionell von der Banalität der exakten Örtlichkeiten zu einem künstlichen Geflecht abstrahiert, eine ästhetische Befriedigung. Jetzt, an einem der vielen Enden der Kindheit, mit zwölf, hatte ich die läppische Linie S1 korrigiert, unbeholfene Stationsnamen wie Altes Haus eliminiert und daraus die moderne U1 gebaut. Der Altbestand war überwunden, aber nicht vernichtet. Er war, unvollkommen zwar, ein Teil des Neuen, Besseren, Professionellen. Das Befahren der Linien wurde zum unbewussten, vorweggenommenen Abschied von einer zentralen Kindheitswelt. Die Orte verloren den Inhalt und wurden zu Stationen, zu kurzen Haltepunkten, deren Teil ich nun nicht mehr sein würde: Gresten war begriffen. Die Planung einer U-Bahn als Akt der Überwindung des kindlichen Kosmos. So wenig wie nunmehr neun Wochen Sommerferien eine unüberblickbar unendliche Zeitspanne waren, so wenig konnten Orte wie der Bauernhof, das Freibad, der Tennisplatz oder der Hauptplatz beim sonntäglichen Kirchgang Orte bleiben, an denen ich mich einfach verlieren konnte, ohne dass von Interesse war, was außerhalb dieser Welt war. Ich blickte von außen auf das, was noch vor kurzem Kosmos gewesen und nun ein handlicher Plan war.

Grafik © Christoph Gollner
Grafik © Christoph Gollner

Und jetzt ist, in Wien, die U1 nach Leopoldau verlängert worden. Nicht, dass ich davon einen Nutzen hätte – doch ich hatte mich auf den Tag der Eröffnung gefreut. Dem ersten Befahren der Strecke entgegengefiebert und dann alle Stationen auf deren Funktionalität und Architektur untersucht. Zwei, drei Mal die Strecke abgefahren. Freude am Eintauchen in den Tunnel und am Auftauchen in neuer Umgebung gehabt. Über die Stadtplanung der 1960er-Jahre sinniert und die real existierende Peripherie von heute aus erhöhter Perspektive begutachtet. Erstmals die Nordrandsiedlung betreten. Festgestellt, wo ich überall nicht wohnen möchte. Die solide Wiener Einheit von Partei, Stadt und ausgelagerten städtischen Unternehmen in voller Blüte bewundert. Bemerkt, wie fremd einem die Menschen sind, die wegen des Musikprogramms zu einer U-Bahn-Streckeneröffnung kommen.

Man kann U-Bahn fahren um einigermaßen bequem in die Arbeit zu kommen. Oder um am Abend auszugehen. Jedenfalls mit Maß und Ziel. Und man kann U-Bahn fahren um des U-Bahn-Fahrens willen. Man kann Linien entlangfahren ohne irgendwo hin zu wollen. Man kann aussteigen an Stationen ohne Bedeutung für das eigene Leben mit dem einzigen Ziel, jetzt genau hier eine Zigarette zu rauchen und mit dem nächsten Zug wieder weiterzufahren. Man kann die Umsteigerelationen an fast jeder Station ohne persönlichen Nutzen kennen und aufzählen können. Klingt nach den spröden Freuden eines notorischen nerd? Und doch: Die reine, pure U-Bahn-Fahrt birgt eine Wahrnehmung der Stadt von einer reflexiven Sinnlichkeit besonderer Qualität. Die meditative Fahrt im extraterritorialen Unter- und Übergrund lässt einen vom Teil der Stadt zu deren Beobachter werden. Und lässt das Abstrakte der Stadtstruktur – wenn schon nicht begreifen, so doch zumindest erspüren. Siebenhirten wird ebenso zu einem realen Teil der Stadt wie es der Karlsplatz schon immer war. Innerhalb weniger Minuten ergeben sich Einblicke in die unterschiedlichsten Stadtwelten mit deren Atmosphäre, deren Menschen, deren Gebäuden.

Die U-Bahn hat das Verständnis von Stadt revolutioniert wie das Flugzeug das Verständnis unserer Welt. Nicht, dass man wirklich mehr wüsste, aber man hat mehr Ahnung. Der Flug durch die Troposphäre gleicht in seiner Un-Örtlichkeit der Fahrt durch den dunklen Tunnel – eine Fahrt im Überraum mit eigener Lebensqualität, nur abstrakt nachvollziehbar anhand der Bildschirminformationen im Flugzeug und der Stadtpläne mit den bunten Linien in den U-Bahn-Wägen und Stationen. Gerade die Unergründbarkeit des zurückgelegten Weges lässt den Unterschied zwischen Start- und Zielort so fast surreal verstärkt hervortreten. Nicht ohne Grund beschwört die Wiener-Linien-PR-Abteilung bei jeder U-Bahn-Teileröffnung die Reiseminuten zwischen in ihrer Wirkung möglichst deutlich differierenden Stationen: Und fassungslos wäre man auch, würde man ohne abstumpfende Gewöhnung nach einer Fahrt vom Stadtzentrum Minuten später an der Station Donauinsel aussteigen, so wie man noch immer, immer wieder, fassungslos sein sollte, wenige Stunden nach dem Abflug in Wien durch New York zu spazieren.

Und so wie Flughäfen einen beruhigend überregionalen, orts- und zeitlosen Charakter haben, Orte sind, an denen man sich, egal, ob in Shanghai, Mexiko City oder Wien, auf merkwürdige Art fern vom Leben und doch nicht fremd fühlt, sind auch die U-Bahn-Stationen neutrale, gleichförmige und deren BenützerInnen egalisierende Horte eines Mindeststandards an Modernität, die Schutz bieten inmitten der oft unverständlichen oder gar abstoßenden städtischen Realität. Zwischenhalt London, Ziel Klagenfurt? Umsteigen Stephansplatz, Aussteigen Aderklaaer Straße? Egal – bis zum Verlassen des Flughafens, bis zum Verlassen der Station sind wir eine Familie, verbunden durch die Gemeinsamkeit der Anonymität und die Universalität des Verkehrsmittels, ob als global travellers oder als BewohnerInnen derselben Stadt. Wie viele Menschen waren in zig Städten rund um den Globus ohne den Zugang zum anderen Ort auch nur gesucht zu haben? Ich war in Unter-St.-Veit, an der Perfektastraße und am Enkplatz! Habe gesehen und versucht, zu spüren – und auch keinen Zugang gefunden! An Orten sein zu können, mit denen man nichts zu tun hat und die nichts mit einem zu tun haben – eine Freiheit, die beständig fremd macht, beständig einsam, wie fast jede Freiheit.

Und doch eine Freiheit, die das Heimelige der Welt, die man als die eigene betrachtet, erst verständlich und überwindbar macht. Und die – folgt man Georg Simmel[2] – das Zusammenleben in der Großstadt erst ermöglicht. Die Sicht des Fußgängers auf den Mikrokosmos des Stadtteils, in dem gerade ein Einkauf erledigt zu werden hat, auf dem Weg der Inhaber des Kebab-Stands gegrüßt und ein Freund getroffen wird, weitet sich zur befreiend teilnahmslosen Abgehobenheit der Parallelwelt U-Bahn. Dem oft ländlich anmutenden sozialen Geflecht des Stadtviertels mit all seinen Qualitäten und den ritualisierten Abläufen des privaten Alltags zu entfliehen und in die Sinnlosigkeit des reinen, zweckbefreiten Fahrens abzutauchen und einmal aufatmen in der Weite von Simmering – das entspannt.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass jetzt in Wien schön langsam Schluss sein müsste mit neuen U-Bahn-Strecken. Dass die Kosten in keinem Verhältnis zur Verkehrswirksamkeit in einer stagnierenden Stadt mit zersiedelter Peripherie stehen. Dass Schnellstraßenbahnen das wesentlich effizientere Verkehrsmittel sein dürften.[3] Aber ich verstehe die Lust am Planen, die die Stadtväter beim Entwurf der absurd gigantischen Netze der 1960er- und 1970er-Jahre[4] gehabt haben müssen, ganz offensichtlich frei von einer ökonomischen Sinnhaftigkeit. Und ich verstehe die Lust, mit der U-Bahnen nach wie vor ohne erkennbaren absehbaren Bedarf in die entlegensten Gebiete der Stadt geplant werden (mal ganz abgesehen von der höchst eigenwilligen Dynamik politischer Entscheidungsvorgänge). Denn ja: auch Rothneusiedl will als Teil der Stadt begriffen werden! Doch hier denkt nicht der vernünftige studierte Planer, sondern der Errichter eines U-Bahn-Netzes für eine 2.000-Seelen-Gemeinde in Niederösterreich.

Das Grestner U-Bahn-Netz existiert übrigens nicht mehr. Der damals brandneue Fuhrpark vergammelt im Hof meines Wohnhauses im 2. Bezirk. Ich habe ein neues Rad und mit dem fahre ich eigentlich meistens herum, in meiner kleinen Welt.

Fußnoten


  1. Gresten, Niederösterreich. Kleine Marktgemeinde im Mostviertel, niedergegangene Sommerfrische und nun Industrie- und Landwirtschaftsort. Rund 2.000 EinwohnerInnen. ↩︎

  2. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: Georg Simmel, Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Hg. von Michael Landmann.. Stuttgart: K.F. Köhler Verlag, 1957. ↩︎

  3. Kritisch zur Netzerweiterung nimmt u.a. auch Horst Prillinger auf seiner sehr umfassenden und guten Website über die Wiener U-Bahn Stellung: http://homepage.univie.ac.at/horst.prillinger/metro/deutsch/zukunft.html ↩︎

  4. Eine jeden Fan erfreuende umfassende Zusammenschau der U-Bahn-Planungen (wie der Verkehrsplanung insgesamt) für Wien findet sich in: Ernst Kurz, Die städtebauliche Entwicklung der Stadt Wien in Beziehung zum Verkehr. Wien: Magistrat der Stadt Wien, 1981. ↩︎


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