André Bideau

André Bideau hat sich als Architekturtheoretiker, Dozent und Kritiker mit postmoderner Urbanität , Architektur und symbolisches Kapital auseinandergesetzt.


Bei der Frage, welches Bild die von Europa politisch abgeschnittene Schweiz von sich 
gelten lassen will, lassen sich wirtschaftliche, politische und emotionale Räume immer weniger zur Deckung bringen. Seit 
den neunziger Jahren wird das schweizerische Selbstbewusstsein von den Kraftfeldern der Globalisierung und der EU in Mitleidenschaft gezogen. Das Verschwinden der Swissair von der Bildfläche war nur der spektakulärste Fall in der Kette helvetischer Enttäuschungen. Von Sinnkrisen begleitet war auch die Expo.02, deren Macher an die Tradition der großen Landesausstellungen im 20. Jahrhundert anknüpfen wollten. Nur knapp entging das inhaltlich umstrittene Spektakel finanziell und organisatorisch 
dem Schiffbruch. In die nationale Nabelschau schalten sich nun vier Architekten ein, deren Architektur zu den erfolgreichen Exportartikeln der Schweiz gehört und die deshalb über einigen medialen Hebelarm verfügen. Das Buch, das Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili und Pierre de Meuron gemeinsam mit dem Zürcher Stadtgeografen Christian Schmid vorlegen, will die „spezifischen urbanen Verhaltensmuster der Schweiz“ ergründen. Programmatische Absichten verheißt schon sein Titel: Die Schweiz – Ein städtebauliches Portrait. Jacques Herzog konstatiert in der Einführung eine „tief sitzende Ablehnung des Urbanen“, der selbst Projekte der Marke Herzog de Meuron zum Opfer gefallen seien. Den Autoren geht es unter anderem um die Hemmung, durch die das Städtische immer wieder zugunsten agrarer Mythen benachteiligt wird.

Das Städtebauliche Portrait leitet ein hinfälliges Regime der Abschottungen, Blockaden und Redundanzen aus tradierten Denkstrukturen und Wahrnehmungen her, zeichnet mit Diagrammen, Statistiken, Fotostrecken und Skizzen das räumliche und kulturgeschichtliche Bild jener Kräfte, denen die Schweiz ihre widerborstige politische Körnung zu verdanken hat. Wie in einem Herbarium sind im ersten der drei Bände die Pläne sämtlicher 2768 Gemeinden des Landes abgebildet. Im politischen Spielraum, über den die schweizerischen Kommunen verfügen, sehen die Autoren die Ursache einer „Negativprägung“ im heillos zersiedelten Territorium. Dort werden enorme Anstrengungen und Reibungsverluste zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher und politischer Konstrukte in Kauf genommen. Lobbies und ganze Parteien sorgen dafür, dass strukturschwache Berggegenden und die schweizerische Landwirtschaft zu Tode subventioniert werden.

Anstelle dieses „Alpinen Patts“ fordert das 
Städtebauliche Portrait, dass ökonomische, aber auch mentale Ressourcen für vitalere Siedlungsräume – sprich: die Agglomerationen von Zürich, Basel, Lausanne und Genf - freigesetzt werden. So stellt eine aus fünf Großräumen - Metropolitanregionen, Städtenetzen, Stillen Zonen, Alpinen Ressorts und Alpinen Brachen - konstruierte „Siedlungstopographie“ die zentrale These der Autoren dar. Darin werden Denkräume und räumlich-morphologische Kategorien kurzgeschlossen – zu einer Auslegeordnung, die sich zwangsläufig außerhalb politischer Realitäten bewegen muss.

Wenn das Städtebauliche Portrait einen Röntgenblick auf die „verborgene Zellstruktur“ eines zersiedelten Landes richtet, dann erfolgt dies auch, um Kritik an den unliebsamen Traditionen und Methoden der Planung zu formulieren. Zugleich spiegelt das Unterfangen wider, wie einflussreiche Architekten auf wissenschaftliches Terrain vorzudringen versuchen: Diener, Herzog, Meili und De Meuron lehren an der Zürcher ETH, die jedoch nicht unbedingt zur Avantgarde der internationalen Städtebaudiskussion gehört. Ausgerechnet Vittorio Magnago Lampugnani leitet an der Architekturabteilung das „Netzwerk für Stadt und Landschaft“, zu dem auch das von Diener, Herzog, Meili und De Meuron aufgebaute Institut gehört. Auf größtmögliche Abgrenzung zur Zürcher Architekturabteilung bedacht, gründeten Diener, Herzog, Meili und de Meuron schon 1999 das „Studio Basel“, in der Stadt also, in der drei von ihnen ihre Büros führen. Nicht um Handschriften sollte es am Studio Basel gehen, sondern um eine Art „Garagenexperiment“ der Praktiker – um Forschung. Und so entfaltete sich Die Schweiz – Ein städtebauliches Portrait aus den „Bohrungen“, die von den Studenten am Studio Basel über viele Semester hinweg vorgenommen wurden.

Programmatisch grenzen sich Diener, Herzog, Meili und de Meuron von der medienwirksamen Empirie und den schlauen Tricks ab, die für die niederländische Mapping-Welle der späten Neunziger typisch waren. In den Worten Meilis bestand vielmehr das Bedürfnis, „Plattitüden so gegeneinander zu montieren, dass sie zu glühen beginnen.“ Weil das Städtebauliche Portrait weder das architektonische Projekt als Aussagebene zulässt, noch politisch oder ökonomisch verbindliche Argumentationen entwickelt, bleibt letztlich unklar, welches Publikum seine Autoren erreichen wollen. Die Folge sind ein gewisses Vakuum - und literarische Essenzen wie „Ist das Matterhorn ein urbaner Ort? Das Matterhorn liegt nicht mehr anderswo, sondern irgendwo – aber nahe.“

Zwar mobilisiert das Städtebauliche Portrait auf den Spuren von Henri Lefebvre Begriffe wie Netzwerk, Grenze und Differenz, thematisiert alltagsweltliche Erfahrungen, Tourismus und Urbanität. Doch gehört heute zur Urbanität gerade der Immobilienmarkt. Und dieser bleibt - wie auch das Gebaren der großen anonymen Anleger, die das Bild der Schweiz seit dem Strukturwandel gestaltet haben - völlig ausgeblendet. Dass Einfamilienhäuser gegenwärtig drei Viertel der Schweizer Wohnbauproduktion ausmachen, ist als Tatsache zumindest bedenkenswert: Suburbia ist beliebter denn je. Dass das neue Schweizbild urbanisierender Architekten bei Land und Leuten mehrheitsfähig sein wird, ist zu bezweifeln.


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