» Texte / All we have is now. »Ich muss heute noch die Welt retten!«

Ursula Maria Probst


»May you live in interesting times« – der vom US-amerikanischen Direktor der Londoner Hayward Gallery Ralph Rugoff als Kurator für die diesjährige Kunst-Biennale in Venedig ausgewählte Titel richtet sich direkt an sein Gegenüber und löst zunächst ein erstauntes »Mmmh« aus. Wie wir schließlich in Erfahrung bringen, bezieht sich der beiläufig harmlos klingende Titel auf einen alten chinesischen Fluch und dient als Parabel für die derzeitigen durch Klimaerwärmung, Artensterben, Digitalisierung, Biotechnologien, Robotik, Migration, Rassismen, Krieg und Gewalt global existierenden Turbulenzen und Verunsicherungen.
Die von Rugoff dazu thematisch zusammengestellten 79 internationalen künstlerischen Positionen in den Werfthallen des Arsenale werden durch eine mit vier Meter hohen blanken Sperrholzwänden gestaltete Ausstellungsarchitektur kojenartig in einer Just-do-it-Baustellen-Manier in Szene gesetzt. Die Dominanz von KünstlerInnen, die von der mexikanischen Galerie Kurimanzutto und dem Berliner Galeristinnenduo Sprüth/Magers vertreten werden, ist auffällig. Ebenso die US-Lastigkeit – woher ein Drittel der KünstlerInnen kommt. Diesem Manko stehen politische Werke zum Thema Blackness und Queer-Aktivismen von Künstlerinnen wie Njideka Akunyili Crosby oder Zanele Muholi gegenüber, ohne dabei allerdings auf aktuelle Diskurse zu Fragen der Dekolonialisierung oder Genderpolitics einzugehen. Ebenfalls Thema ist eine posthumane Welt, in der Roboter die Herrschaft übernehmen. Verblüffend realistisch wirkt die performative Installation der chinesischen KünstlerInnen Sun Yuan und Peng Yu, in der ein Roboter – wie nach einem Akt der Gewalt – blutrote Flüssigkeit hin- und herwischt. Skype-Interviews mit SoldatInnen in der Installation Global Agreement von Neil Beloufa vermitteln ein authentisches Bild vom Leben in der Armee und im Krieg. Aktiviert werden die Videos durch körperliche Interaktion auf Fitnessgeräten. Ansonsten ist das Angebot an partizipatorischen Optionen beschränkt. Eine Ausnahme bilden die erfolgserprobten Installationen von Hito Steyerl, die zu einer virtuellen Stadttour einlädt. Im Hauptpavillon in den Giardini treffen wir auf weitere Arbeiten der im Arsenale gesichteten KünstlerInnen.
Derzeit sind es 91 Länderpavillons – Tendenz steigend – die in den Giardini, im Arsenale, quer durch die Stadt oder auf Inseln wie Giudecca – im Estland-Pavillon ist eine gelungene exzentrisch-schamanistische Installation von Kris Lemsalu zu sehen – tagsüber zur Nonstop-Kunsttour einladen. Im kanadischen Pavillon ist mit dem Kollektiv Isuma und deren Video One Day in the Life of Noah Plugattuk erstmals die Volksgruppe der Inuit vertreten. Exklusiv-, Herrschafts- und Machtverhältnisse thematisierend, enterte der Künstler Manfred Grübl mit der temporären Brücke Transition-Übergang die Giardini. Die Eröffnung des österreichischen Pavillons geriet zum Staatsakt. Der Andrang der, aufgrund der Neukonstituierung der österreichischen Regierung mittlerweile Exminister und deren Vorgänger war groß. Unter anderem weil sich im Kunst- und Kulturbereich durch eine Reihe politischer Fehlentscheidungen die Situation verschärft hatte, rief eine Gruppe von KünstlerInnen die während der offiziellen Eröffnungsrede von Gernot Blümel Anwesenden zur Protestaktion auf. Als Blümel mit seiner Rede startete, wendete sich mehr als ein Drittel der Anwesenden (viele von ihnen trugen Sticker mit Anti-Blau-Schwarz-Statements) von diesem ab und kehrten ihm den Rücken zu.
Erstmals wurde mit Renate Bertlmann – eine Pionierin und wichtige Vorreiterin der zweiten und dritten Generation der Performancekunst – der österreichische Pavillon von einer Frau im Alleingang bespielt. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, die von der Kuratorin des Pavillons Felicitas Thun-Hohenstein durch Biennale-Lectures wie Ästhetik des Riskanten im Vorfeld – an der unter anderen Inna Shevchenko von Femen teilnahm – gesteigert wurden. Anstatt ein radikales Zeichen zu setzen, entschieden sich Künstlerin und Kuratorin – für viele enttäuschend – für ein nüchternes, reproduzierendes Statement, indem Schwarz-weiß-Kopien von Dokumentationsmaterial vergangener Performances im verblassenden Großformat als Wandtapete in dem zur weißen Faltschachtel stilisierten Pavillon affichiert wurden. Wie unzählige KünstlerInnen vor ihr verfiel Renate Bertlmann der verführerischen Wirkung des Muranoglases und ließ daraus 312 rote Rosen produzieren. Die daran montierten Messer als Waffe gegen patriarchale Aggression büßen durch die kitschige Gestaltung der Rosen stark an ihrer politischen Intention ein. Der an der Außenwand angebrachte Neon-Schriftzug amo ergo sum wirkt unschlüssig und im feministischen Kontext fehl am Platz.
Im Unterschied dazu gelingt dem KünstlerInnen-Duo Bárbara Wagner und Benjamin de Burca im brasilianischen Pavillon in ihrer Auseinandersetzung mit Fragen von Identität, Gender, Hierarchien und Schönheitsidealen eine authentische politische Message. In ihrem Zweikanal-Video Swinguerra zeigen sie performende brasilianische Jugendliche, die einen speziellen Tanz- und Musikstil praktizieren, der im urbanen Raum im Nordosten Brasiliens als Möglichkeit zur sozialen Integration herangezogen wird.
Im Hier und Jetzt kommen wir auch im Pavillon Litauens an, in dem durch die Inszenierung einer Strandoper dringliche Themen wie Klimaerwärmung, das Aussterben der Artenvielfalt und Vermüllung des Ozeans behandelt werden. Direkt gegenüber vom Arsenale, einem ehemaligen Sperrgebiet des Militärhafens, wurde in einer leergeräumten Lagerhalle zur Inszenierung eines Badestrandes samt Liegestühlen und Badehandtüchern Sand aufgeschüttet. Die von der Situationistischen Internationale einst angestimmte Parole »Unter dem Pflaster liegt der Strand« gewinnt hier neue Züge. Kuratorin Lucia Pietrouisti beauftragte für die Realisierung der Strandoper die Regisseurin Rugilé Barzdziakaite, die Drehbuchautorin Vaiva Grainyté und die Komponistin Lina Lapelyté. Vereinzelt aufspringende SängerInnen konfrontieren uns in ihrem Gesang mit Dystopien als Folgen von Konsumwahn und Tourismusindustrie. Die Erwärmung der Arktis führt weltweit zu Wetterextremen. 815 Millionen Menschen leiden an Hunger, das sind knapp 11 Prozent der Weltbevölkerung. Ein Großteil der Treibhausgase wird durch Fleisch- und Milchproduktion erzeugt. Nature Sustainability und Ausstellungen über das Ineinanderwirken von Natur und Technik liegen derzeit im Trend.
Treibende, ganze Kontinente bildende Inseln aus Plastik im Pazifik, Meldungen über Unmengen von Plastik in Kadavern von Meerestieren, Müllberge, die Lebensräume formen, schießen einem angesichts des auf dem Canale Grande in Venedig treibenden Bootes durch den Kopf, auf dem sich ein vier Meter hoher Berg von Plastikmüll befindet. Dieser bildet einen extremen Kontrast zu den vor den Giardini vor Anker liegenden Luxusyachten der KunstsammlerInnen. Der amerikanische Künstler Christian Holdstad bezeichnet sein ortspezifisches Kunstwerk Consider yourself as a guest (Cornucopia), das im Kanal vor der Ca’Foscari University bis 12. Juni installiert ist, als »Einladung, sich mit der dringlichen Frage auseinanderzusetzen, den Ozean vor der totalen Verschmutzung durch Plastikmüll zu retten«. Der Sponsor des Projekts ist das globale, in mehr als 100 Ländern aktive Unternehmen FPT Industrial, das unter anderem Industriefahrzeuge und Marinemotoren erzeugt und als Mitverursacher des Problems seit April 2019 Partner des europäischen Projekts Clean Sea Life ist.
Ambitionen, sich für transnationale und interdisziplinäre Projekte zu öffnen, mehren sich. Der Research-Pavillon auf der Insel Giudecca, in dem sich KünstlerInnen wie Saara Haanula, Charlotta Ruth Ralo Mayer, Nikolaus Gansterer unter anderem mit der Analogie von Augmented Reality und Übungen zur Schaffung neuer Bedeutungen beschäftigen, ist dafür ein gelungenes Beispiel.


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