Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Die Künstlerin Maria Theresia Litschauer rekonstruiert in einer unglaublich detailgenauen und umfangreichen Studie Arbeit, Leben und teilweise Tod von etwa 1.200 ungarischen Juden, Frauen, Männern und Kindern, die von Juni 1944 bis April 1945, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn, nicht nach Auschwitz deportiert worden waren, sondern in 31 Betrieben in 29 Ortschaften im Waldviertel im nördlichen Niederösterreich Zwangsarbeit leisteten. Das Projekt basiert einerseits auf Interviews mit 127 ZeitzeugInnen aus den Jahren 2003 bis 2005 und andererseits auf umfangreicher Archivrecherche in Yad Vashem, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, dem Niederösterreichischen Landesarchiv, dem Österreichischen Staatsarchiv, den Archiven der Staatsanwaltschaft Wien und Krems sowie des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Kreisgerichts Krems, in niederösterreichischen Verwaltungsarchiven sowie in Gemeinde-, Pfarr- und Firmenarchiven im Waldviertel. Für die Auffindung von Quellenmaterial waren teils geradezu „detektivische Strategien“ nötig, da viele Aufzeichnungen verloren gegangen waren.

Das Projekt verbindet eine Archäologie mit einer Topografie der Geschichte der ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen im Waldviertel. Ausgehend von der Perspektive der ZeitzeugInnen, der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen selbst, und unter Einbeziehung der Sicht von AugenzeugInnen an den Orten ihrer Ausbeutung sollte anhand des „Individuellen und Partikularen der Erinnerungsnarrative eine Lektüre archivaler Dokumente“ unternommen werden, um eine hochgradig differenzierte Darstellung zu erreichen. Die Aussagen derer, die dabei gewesen waren, sollten trotz der Veränderungen, die ihre Erinnerungen notgedrungen durchmachen mussten, den Blick auf die archivarischen Quellen steuern. Dem gemäß ist das Buch eine umfassende Mikrohistorie, die allerdings nicht, wie viele bekannte französische Beispiele einer solchen Methode, eine lineare Narration konstruiert, sondern durch die Montage von Texten der Autorin, von Dokumentenzitaten, Passagen aus den Erinnerungsnarrativen sowie historischen und aktuellen Bildern der Schauplätze des Geschehens ein dichtes, vielgestaltige Bild zeigt – immerhin geht es nicht um wenige „typische“ Personen, sondern um 1.200 Individuen, deren Weg dokumentiert werden sollte. Das Projekt steht somit durch die Konzentration auf die Einzelpersonen außerhalb des Mainstream der historischen Forschungspraxis.

Zu Beginn des Buches steht eine makro-historische Einführung zur Besetzung Ungarns, zur Vertreibung, Ghettoisierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung und zum Transport eines kleinen Teils davon nach Straßhof, wo die Selektion für die österreichischen Zwangsarbeits-Standorte stattfand. Von den 762.007 ungarischen Jüdinnen und Juden überlebten etwa 255.500 die Nazi-Herrschaft. 15.011 konnten im Juni 1944 durch Verhandlungen des zionistischen Rettungskomitees Va’adah mit Eichmann vor der Deportation nach Auschwitz gerettet werden, indem sie als ZwangsarbeiterInnen nach Österreich transportiert wurden; die Zionisten nahmen dafür Lösegeldforderungen und Unterhaltsleistungen in Kauf.

Darauf folgt eine schon einen kleineren Horizont umfassende, aber immer noch makrohistorische Darstellung der Abläufe ab der Ankunft in Straßhof, der Verteilung auf die Zwangsarbeits-Standorte, der generellen Rahmenbedingungen während der Zwangsarbeit sowie des Endes dieses Zeitraums – ab Ende 1944 wurden die ZwangsarbeiterInnen in die Konzentrationslager Bergen Belsen, Theresienstadt und Mauthausen transportiert, wo ein großer Teil von den Armeen Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA befreit wurde. Litschauer schließt, dass von 1.200 ZwangsarbeiterInnen 29 während der Arbeit starben, eine unbekannte Zahl in den Konzentrationslagern getötet wurde, aber insgesamt ein Großteil überlebte und nach Ungarn zurückkehrte. Auf die beiden einleitenden Abschnitte folgen 27 Kapitel zu insgesamt 32 Orten im Waldviertel, an denen ZwangsarbeiterInnen tätig waren, die sich um die Situation vor Ort, die Firmengeschichten sowie Arbeits- und Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen drehen. Einsatzorte waren Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Gewerbe (Textil, Stein, Bau, Agrar, Holz, Glas) sowie öffentliche Stellen, die Infrastrukturprojekte durchführten.

Ein zentraler Aspekt des Publikationsprojektes ist das Gedenken an die Toten: Viel Sorgfalt wurde darauf verwendet, Namen und Todeszeitpunkte zu eruieren sowie die „Nicht-Orte, an denen die infolge und während der Zwangsarbeit verstorbenen jüdischen Männer, Frauen und Kinder namenlos eingegraben liegen“, ausfindig zu machen, was oft sehr schwierig war – trotz des Kriegsgräberfürsorgegesetzes von 1948 und der daraus folgenden Verpflichtung der Republik handelt es sich dabei „fast ausschließlich [um] undefinierte oder kraft klerikaler Ordnung abgesonderte Stellen, deren Kennzeichen ihre Unkenntlichkeit oder Verwechselbarkeit mit einer G’stättn ist, in der sich die Auslöschungspraxis nationalsozialistischer Politik fortschreibt.“ In diesem Sinne versteht sich das Publikationsprojekt auch als Basis eines Folgeprojektes, indem es die Daten liefert, um diese „Nicht-Orte“ entsprechend zu gestalten, die Namen der Toten am Ort zu nennen und „die Bedingung der Möglichkeit von Gedenken“ zu schaffen.


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