Gabriele Kaiser


In seiner Unentschiedenheit zwischen Entwurfshaltung (Ethik) und Stil (Ästhetik) ist der Brutalismus ein wunderbares Beispiel für das Eigenleben eines Begriffs, der als Etikett einer architektonischen Bewegung globale Strahlkraft erreichte. Die Auslegungen brutalistischer Architektur sind vielfältig und widersprüchlich, so dass es kaum verwundert, dass heute jeder etwas anderes darunter versteht. »Wie viele Brutalismen gibt es eigentlich?«, fragen die Kuratoren Oliver Elser, Philip Kurz und Peter Cachoa Schmal im Buch zur Ausstellung SOS Brutalismus – rettet die Betonmonster!, die Ende 2017 im deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (DAM) zu sehen war und die nun um signifikante Beispiele aus Österreich erweitert im Architekturzentrum Wien Station macht. Die Organisatoren der Ausstellung starteten eine globale Recherche, haben genauer hingeschaut und ließen trotz großzügiger Begriffsausdehnung nicht jeden spätmodernen Sichtbetonbau ungefragt unter dem Hashtag #SOS Brutalismus segeln. Das Spannungsfeld zwischen dem Sichtbeton-Hype der Populärkultur und den wissenschaftlichen Analysen zum New Brutalism, den die Architekten Alison und Peter Smithson sowie Reyner Banham einst in den britischen Architekturdiskurs der Nachkriegszeit eingebracht hatten, nutzten die Ausstellungsmacher vielmehr als Chance für eine globale Neudeutung und setzten mit ihrer Bestandsaufnahme genau dort an, wo der Brutalismus sein theoretisches Fundament bereits verloren hatte. Der kämpferische Untertitel Rettet die Betonmonster! verweist auf den aktivistischen Hintergrund des Projekts und erklärt auch den weiten und lockeren Bogen, den das Thema in der Populärkultur zwischen dem Brut einer Champagnerflasche und dem Purismus eines Parfumflakons aus Beton aufspannt.

Die Ausstellung, die in der Wiener Fassung um zehn großartige Brutalismus-Beispiele aus der Sammlung des Architekturzentrums Wien erweitert wurde (Kuratorin Az W: Sonja Pisarik, Ausstellungsgestaltung: Peter Duniecki), rückt die Frage nach dem Denkmalwert der Bauten ins Zentrum, für die »noch keine Routinen der Bewahrung entwickelt« worden sind. Geschmäht oder verehrt – viele der ausgewählten Bauten befinden sich in der Grauzone des Gerade-Noch-Existierens und blicken einer unsicheren Zukunft entgegen. Während in der Ausstellung kleine Betonmodelle die bauplastische Vielfalt brutalistischer Architektur zelebrieren und raumfordernde Kartonmodelle die Monumentalität jener Großbauten ironisieren, die heute verletzlich und schutzbedürftig erscheinen, gehen zahlreiche Autorinnen und Autoren im Katalog der Genese und den Transformationen des Brutalismus ausführlich nach. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass für die ProtagonistInnen des New Brutalism die Ethik einer anderen Architektur (und nicht so sehr die Ästhetik) im Vordergrund stand; in ihren Bauten und Projekten war es um Themen wie Lesbarkeit der Konstruktion und ungeschönte Materialverwendung (as found) gegangen, man wollte – wie die Smithsons es formulierten – »die Holzigkeit des Holzes, die Sandigkeit des Sandes« ergründen und in einer radikalen Akzeptanz des Alltäglichen mit der als lähmend empfundenen Wohlfühlarchitektur des New Humanism brechen. Die Schule in Hunstanton von Alison und Peter Smithson (1949–1954) gilt in ihrer unverblümten Stahl- und Ziegelbau kargheit als Prototyp eines Brutalismus im Sinne der Art brut, in der sich der Ausdruck eines Werks aus der Rohheit des Materials jenseits etablierter Formansprüche wie von selbst ergibt. Mit Le Corbusiers Formversuchen in Sichtbeton kam Mitte der 1950er Jahre der Béton brut ins Spiel, der allmählich zum Signum des Brutalismus im Sinne einer skulpturalen Beton-Moderne wurde. Ernö Goldfingers Trellick Tower in London (1966–1972) ist ein signifikantes Beispiel für diesen Brutalismus als Caprice der Form, der – einst Hassobjekt – heute als Ikone eines ganzen Stadtteils gefeiert wird. Mit seinem Buch Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? legte Reyner Banham 1966 schließlich eine Art Nachruf auf die von ihm selbst propagierte Strömung vor, die aus einer ethischen Haltung entstanden und nun endgültig zur Formvorlage verkommen sei.
Mit der Ausstellung SOS Brutalismus kehrt der damals totgesagte Ismus nun ebenso freudig wie kämpferisch in die Architekturdebatte zurück. Die Beispiele eines dritten Brutalismus – aus aller Welt zusammengetragen und liebevoll als Betonmonster bezeichnet – verdichten sich zu einem Kaleidoskop der rhetorisch aufgeladenen Strukturen, die in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren zum Nation Building beitrugen, einen architektonischen Oppositionsgeist vertraten oder in Betonornamenten ein letztes Mal handwerkliches Können an die Oberfläche brachten, ehe die Energiekrise zum Umdenken zwang. Hat sich unser Blick auf brutalistische Architektur nicht dramatisch gewandelt, seit Gebäude mit einer dicken Isolationsschicht ummantelt werden müssen, die die Unmittelbarkeit einer Art brut ins Reich der Utopien verweist? Mit ihrem aktivistischen Impetus versucht die Ausstellung die Grenze zwischen Fachdiskurs und Öffentlichkeit zu überwinden und die »Energie aus den Filterblasen des Internets dorthin zu lenken«, so Oliver Elser, »wo Bagger und Abrissbirnen darauf warten, das nächste Betonmonster zu zerstören«. Für die Wohnanlage Robin Hood Gardens der Smithsons in London kam jeder Hilferuf zu spät. Dass Kampagnen zur Rettung dennoch ein Gebot der Stunde sind, zeigt auch ein Blick auf die österreichischen Beispiele. Der Internatsturm von Karl Schwanzer in St. Pölten wurde vor Jahren sang- und klanglos abgerissen, aber vielleicht bekommen unter den Auspizien eines wohlwollenden Brutalismus das Kulturzentrum in Mattersburg von Herwig Udo Graf und Gerhard Garstenauers Kongresszentrum in Salzburg noch eine Chance?


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