Aufruf zur Offensive
Manchmal müssen wir die Räume, die uns zur Verfügung stehen, denen überlassen, die für alle eine notwendige Arbeit leisten. Das ist in diesen Tagen in Form der Gegenoffensive zu den nationalistischen Offenbarungen der »Jubiläumsjahre« eingetreten. Hier also der Aufruf zu einer gemeinsamen Aktion gegen den ganzen identitären Schwachsinn, mit dem wir im nächsten Jahr überschüttet werden.
Präventivoffensive Gegenjubiläum 2005
60 Jahre Befreiung, 50 Jahre Staatsvertrag und 10 Jahre EU-Mitgliedschaft: das ist das Programm des Jubiläumsjahrs 2005. Die relativierende Ballung der Jubiläen unter - dem vom Bundeskanzler beauftragten - Ex-Presse-Kulturchef Hans Haider als Koordinator lässt vermuten, dass es sich um ein konzertiertes revisionistisches Unternehmen handelt. Eine Verschärfung der Verzerrung der österreichischen Nachkriegsgeschichte steht zu befürchten: ein neuerlicher, und noch radikalerer Schub an Chauvinismus, österreichischem Opfermythos und diversen Nationalismen. Wird jetzt die Tatsache der Befreiung der Opfer des Nationalsozialismus durch Alliierte und PartisanInnen und deren Würdigung zusehends ersetzt mit der ebenso falschen wie scheinheilig-selbstmitleidigen Behauptung, Österreich als Ganzes wäre als Opfer des Nationalsozialismus oder gar erst 1955 befreit worden?
Das 70-jährige Jubiläum des Februar 1934 hat anstelle einer Verdichtung der Debatten über den Austrofaschismus und seine Kontinuitäten, anstelle einer Kritik der Aktualisierung austrofaschistischer Komponenten im Österreich des Jahres 2004 eine weitere verheerende Verschiebung des Diskurses nach rechts gebracht (vgl. die Berichterstattung in Standard, Presse, ORF, etc.). Wir interpretieren diese Verschiebung als diskursiven Effekt der zwei Perioden der schwarzblauen Regierung, die in den letzten vier Jahren eine weitgehende Verschränkung von neoliberalen und autoritär-nationalistischen Tendenzen in Gang gebracht hat. Aus der Erfahrung, dass Reaktionen auf derartige Geschichtsklitterungen nur Wasser auf deren Mühlen bedeuten, meinen wir, dass es notwendig ist, rechtzeitig eigene Projekte zu entwickeln, die ein anderes Jubilieren möglich machen. Wir fordern daher alle Individuen, Initiativen und Institutionen auf, ihre Jahresplanung 2005 danach einzurichten und Projekte zu realisieren, die gleichzeitig präventiv und offensiv gegenjubilarische Schritte setzen.
Etwa zu den Fragen:
Wie wird der österreichische Opfermythos zugunsten reaktionärer Geschichtsschreibung aktualisiert?
Wie wirkt er fort in Debatten um Temelin, Benes- und Avnojdekrete?
Wer wurde 1945 befreit? Etwa die TäterInnen von sich selbst?
Oder sollte nicht anstattdessen die Niederlage des Faschismus gefeiert werden?
Wer hat die FaschistInnen besiegt?
Welche Ausblendungen produziert das Bild der »4 im Jeep«?
Wo bleiben PartisanInnen, Resistance, jüdische Brigaden, schwarze Befreier, etc.?
Wie unvollendet ist die Entnazifizierung?
Welche Identitätskonstruktionen und identitäre Zuschreibungen, welche Ausschlüsse werden durch die Jubiläumsfeiern zu Staatsvertrag und EU-Mitgliedschaft in Gang gesetzt?
Was sind die rassistischen/antisemitischen Implikationen von Konzepten nationaler (Österreich) und supranationaler (EU) Identitätsbildung?
Welche Kontinuitäten durchziehen die Diskurse vom »Vaterlandsverrat« bis zur »Europeancitizenship« und der »Festung Europa«?
Was ist gegen die radikale Verlumpung der Geschichtspolitik (bis hin zur Evidenz rechtsextremer Revisionisten als EU-Abgeordneter) zu unternehmen?
Brauchen wir Debatten über den Staatsvertrag und die EU-Verfassung oder nicht eher solche über die Staatsauflösung (Stichwort: decontraction)?
Oder wird diese Auflösung schon von der neoliberalen Praxis der Deregulierung sozialstaatlicher Systeme übernommen? ...
Ziel der Plattform ist eine breite Palette von politischen und kulturellen Veranstaltungen und Publikationen, die im Jahr 2005 die vielfältigen Themen der verschiedenen Jubiläen aus verschiedenen emanzipatorischen Blickwinkeln thematisieren. Die Plattform steht allen Interessierten offen, versteht sich jedoch nicht als zentrale Koordination solcher Veranstaltungen, sondern als Impulsgeberin und Anstoß zur Versammlung.
Die Plattform trifft sich monatlich. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Arbeitsgruppen und einige Aktionen sind schon im Gange. Macht mit!
Ljubomir Bratić lebt als Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist, Aktivist und Flüchtlingsbetreuer in Wien.