Iris Meder


Wie es dazu kam, dass die Grün-Politikerin Madeleine Petrovic sich in den neunziger Jahren im Rahmen eines Buches mit dem Gürtel befasste, kann sie, so schreibt sie im Vorwort zur erweiterten und veränderten Neuauflage, selbst nicht genau sagen. Wie auch immer: Es dürfte sich erstaunlicherweise, im Gegensatz zur immer wieder thematisierten Ringstraße, um die einzige umfassende historische Aufarbeitung und Gesamtdarstellung eines ziemlich einzigartigen Phänomens handeln. Jetzt mit ausführlichem neuem Fotomaterial von Dieter Nagl versehen kommt das Buch jedenfalls um einiges attraktiver daher als seine Erstauflage.

Aufschlussreich ist vor allem die Darstellung der historischen Zusammenhänge der einstigen Linienwälle. Dies umfasst nicht zuletzt auch die wirtschaftlichen Interessen, die sich sowohl von inner- wie von außerhalb, das heißt aus den Vorstädten einerseits und den Vororten Wiens andererseits, mit ihnen verbanden, da sie lange Zeit auch die Grenze der außerhalb nicht zu entrichtenden Verzehrsteuer waren. So wollten die GastronomInnen ihren Wettbewerbsvorteil und die StadtbewohnerInnen Wiens ihre Exklusivität nicht aufgeben. Als die Linienwälle im Zuge der zweiten Stadterweiterung schließlich doch geschleift wurden (Bruchstücke der alten Wälle sind, wie aus dem Buch zu erfahren ist, in einigen Hinterhöfen erhalten geblieben), kamen sehr unterschiedliche Vororte zur Stadt, was sich vor allem auch in der sehr heterogenen Bebauung des äußeren Gürtels spiegelt. Ein großer und wichtiger Punkt in der Geschichte des Gürtels ist der Stadtbahnbau, dessen Zusammenhänge Petrovic ebenfalls detailliert darstellt – das städtebauliche Leitbild Wiens ging damals von vier Millionen künftiger Bewohner und Bewohnerinnen aus. Zur Verkehrsgeschichte des Gürtels gehört auch das städteplanerische Konzept Roland Rainers – als Bundesstraße war der Gürtel geraume Zeit die meistbefahrene Straße Österreichs. Heute nimmt der Autoverkehr hier zumindest nicht mehr zu, wie Petrovic stolz vermerkt – im Übrigen ist das Buch trotz der politischen Sozialisation seiner Autorin weitgehend frei von (partei-)politischen Parolen.

Die zweite Auflage wurde um einen Über- und mittlerweile auch schon Rückblick zum Gürtel-Revitalisierungsprogramm URBAN erweitert, mitsamt einer kritische­n Bestandsaufnahme anders geplanter Nutzungen, nämlich eher kultureller als Flatrate-gastronomischer.

Trotz der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema und der gründlichen historischen Recherchen vermisst man einige Themen, darunter eine ausführlichere Darstellung des sozialen Raums Gürtel. War er tatsächlich jemals als „Prachtstraße“, als Boulevard geplant, worauf einige Abschnitte mit ihren vielen Geschäftslokalen und Kaffeehausräumlichkeiten noch schließen lassen? Welche Cafés, Theater, Salons, Etablissements bot der Gürtel? Wann wurde er zur Rotlichtgegend? War die Parole des Roten Wien von der „Ringstraße des Proletariats“ ernst gemeint? Wie kam es eigentlich, dass damals fast der ganze Margaretengürtel neu bebaut wurde, und warum stammt die Bebauung des Döblinger Gürtels überhaupt erst aus den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg?

Für eine dritte Auflage sollte man Madeleine Petrovic jedenfalls einen architekturversierten Korrekturlesedurchgang gönnen. Dann käme es nicht zu peinlichen Fauxpas, wie dass das Gebäude der Postsparkasse Adolf Loos zugeschrieben wird, die Wohnbauten am Draschepark aber, die Otto Wagners gleichnamiger, als Architekt eher vernachlässigbarer Sohn entworfen hat, seinem Vater.


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