Frank Roost


Entwertung, Abriss und Wiederentdeckung des Städtebaus der Moderne

In Ostdeutschland stehen derzeit fast eine Million Wohnungen leer, davon etwa die Hälfte in Plattenbauten. Da aber nach wie vor kein wirtschaftlicher Aufschwung und erst recht kein Bevölkerungszuwachs in den neuen Ländern absehbar ist, gibt es mittlerweile von der Bundesregierung geförderte Stadterneuerungsprogramme, die darauf abzielen, vor allem die aus der DDR-Zeit stammende Bausubstanz zum »Rückbau« freizugeben. Doch während die ersten Konzepte zum systematischen Abriss gerade ausgearbeitet werden, erschließt sich die Berliner Kulturszene einige der untergenutzten 60er-Jahre-Bauten um den Alexanderplatz als neues Experimentierfeld. Die neuen, zum Teil kommerziellen Nutzungen führen dazu, dass bereits über mögliche Aufwertungsprozesse und eine daraus resultierende Gentrification des Quartiers spekuliert wird. Diese beiden unterschiedlichen Entwicklungen erscheinen zunächst widersprüchlich. Bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich aber als Teil des selben Prozesses, in dessen Verlauf die überkommenen Bauten zunächst kulturell entwertet und baulich vernachlässigt wurden, nun aber langsam wieder entdeckt und für neue Nutzungsformen erschlossen werden – ein Prozess also, der im Grunde genommen nicht neu ist, der aber bisher auf viel ältere Bausubstanz beschränkt war.
Es ist kein Zufall, dass dieser Bewusstseinswandel im Umgang mit der Moderne ausgerechnet in Berlin einsetzt, denn die alte und neue Hauptstadt ist nicht nur stärker als alle anderen europäischen Metropolen von Nachkriegsarchitektur geprägt, sondern auch von einer besonders intensiven Auseinandersetzung um den historischen und kulturellen Wert dieser Bauten. Das Zentrum des ehemaligen Ostberlin besteht zum größten Teil aus Gebäuden der 60er Jahre, die eines der bedeutendsten Ensembles des modernen Städtebaus bilden. Zwar werden solche Megaprojekte der Nachkriegszeit heute fast nirgendwo besonders geschätzt. Doch während Brasília oder Chandigarh zumindest ein gewisser Denkmalcharakter zugestanden wird, hat der Berliner Senat dem in den sechziger Jahren wieder aufgebauten Teil des Zentrums den planerischen Kampf angesagt. Mit Hilfe mehrerer Großprojekte soll der Bereich vollkommen umstrukturiert und dabei der Stadtgrundriss der Vorkriegszeit im wesentlichen wiederhergestellt werden.

Widerstand gegen den »Rückbau« der DDR-Bauten

Diese Vorhaben treffen auf den teilweise heftigen Widerstand einer sehr heterogenen Koalition aus AnwohnerInnen, kritischen Fachleuten, NachwuchsarchitektInnen und LokalpolitikerInnen. Trotzdem hebt die Berichterstattung zu diesem Thema meist den Konflikt zwischen Ostberliner Intellektuellen und etablierten Westberliner PlanerInnen hervor. Diese Sichtweise wird der Komplexität der Auseinandersetzung aber nicht gerecht, denn es handelt sich keineswegs nur um eine Kontroverse zwischen DDR-NostalgikerInnen und westlichen ModernisiererInnen. Vielmehr wird hier von einer jüngeren, noch nicht dem Establishment angehörenden Generation in Frage gestellt, ob die im Berliner PlanerInnenmetier verbreitete gestalterische Orientierung an vormodernen Stadtstrukturen, wie sie im städtebaulichen Leitbild der »europäischen Stadt« verankert sind, wirklich sinnvoll ist – insbesondere, wenn dabei die in der Nachkriegszeit entstandenen Quartiere vollständig überformt werden sollen.
Brisant wird diese Diskussion vor allem dadurch, dass das bestehende Leitbild ja einst von Angehörigen der Achtundsechziger-Generation durchgesetzt wurde, weil es als Teil einer an den Interessen der BewohnerInnen orientierten Planung galt. In den siebziger Jahren konzipiert und in den Achtzigern als »behutsame Stadterneuerung« durchgeführt, funktionierte diese Verbindung von gestalterischem Konzept und sozialem Anspruch auch tatsächlich eine Zeit lang. Seit dem Fall der Mauer wurden aber im Berliner Zentrum fast ausschließlich hochwertige Bürogebäude errichtet, die sich in ihrer Dimensionierung und mit ihren Sandstein-Fassaden zwar dem historischen Stadtbild anbiedern, deren Nutzungen jedoch kaum zu sozialer und kultureller Vielfalt beitragen. Damit wurde bereits erkennbar, dass sich die so genannte »kritische Rekonstruktion« der Stadtmitte zwar noch durch ein Leitbild legitimierte, mit dem einst basisdemokratische Ideen verbunden waren, in der Realität aber längst gestalterische Elemente wie Blockrandbebauung oder Lochfassaden für wichtiger erachtet wurden als die Interessen der BewohnerInnen des sozialstaatlichen Wohnungsbaus.[1]
Die seither geführte Auseinandersetzung über die Zusammenhänge zwischen Stadtbildgestaltung, urbanen Qualitäten und sozialen Konflikten hat sich in den letzten Jahren noch weiter verschärft, insbesondere seitdem der sozialdemokratische Baudirektor Stimmann 1999 das umstrittene »Planwerk Innenstadt« durchgesetzt hat. Denn dieser Masterplan für die Innenstadt zielt nicht nur darauf ab, den Stadtgrundriss der Vorkriegszeit durch Bebauung der Freiräume zwischen den Plattenbauten wiederherzustellen, sondern ist vor allem Programm zur sozialen Restrukturierung des Stadtzentrums. Er richtet sich nämlich gar nicht an die BewohnerInnen, sondern explizit an wohlhabende BildungsbürgerInnen, die von der Peripherie wieder in die Innenstadt gelockt werden sollen. Zu diesem Zweck soll die Neubebauung überwiegend aus freifinanzierten Wohnungen für gehobene Ansprüche bestehen. Da die BewohnerInnen der Plattenbauten aber zumeist schon zu DDR-Zeiten eingezogen sind und in den vergangenen Jahren nur selten einen sozialen Aufstieg erlebt haben, kann es nicht verwundern, dass das Planwerk von den Betroffenen weniger als Freiflächenqualifizierungsprogramm denn als Angriff auf soziale Errungenschaften wahrgenommen wird.

Bewusstseinswandel in der Bewertung der Nachkriegsquartiere

Der überzogene Anspruch des Senats, nicht nur einzelne Quartiere, sondern binnen weniger Jahre gleich das ganze Ostberliner Stadtzentrum baulich und sozial umzustrukturieren ist aber paradoxerweise auch einer der Gründe dafür, dass derzeit in einigen Bevölkerungsschichten ein Bewusstseinswandel in der Bewertung der Nachkriegsquartiere einsetzt. Vor allem das komplett zum Abriss freigegebene Quartier rund um den Alexanderplatz, dessen Geschäftsbauten aus den sechziger Jahren dem Masterplan von Hans Kolhoff entsprechend durch neue Hochhäuser ersetzt werden sollen, erfreut sich in der Kulturszene neuerdings wachsender Beliebtheit. Die Wiederentdeckung und Neubewertung der Nachkriegsarchitektur ist aber mehr als nur ein kurzlebiger Szenetrend. Vielmehr geht es den Beteiligten darum, sich einen Raum, der von den Verwertungsmechanismen der Ökonomie und der ihr zuarbeitenden Planung ignoriert wird, für eigene Zwecke zu adaptieren.
Dieser Prozess der Aneignung der Moderne weist erstaunliche Parallelen zu dem Comeback auf, das die Mietskasernen der Industrialisierungsära seit den siebziger Jahren erlebt haben. Denn schon damals war die Wende zur behutsamen Stadterneuerung mehr als nur ein Wandel des städtebaulichen Leitbilds. Vor allem war es eine Abkehr von der Standardisierungsmaschinerie der Nachkriegszeit, gegen die jene aufbegehrten, die von dieser Entwicklung nicht profitierten. Große Teile der Bevölkerung strebten seinerzeit die durch die Planungspraxis vorangetriebene Lebensweise mit Auto, Einbauküche und Wohnung im Grünen an. Auch die innerstädtischen Gebiete sollten entsprechend umgestaltet werden. Nicht berücksichtigt blieben aber die MigrantInnen, denen zunächst nur ein vorübergehender Aufenthalt zugebilligt wurde, sowie diejenigen, die nicht willens oder in der Lage waren, den vorgesehenen Weg mit einer geregelten Arbeit in Industrie oder Verwaltung und dem traditionellen Familienmodell zu gehen.
Die jungen Menschen, denen das Leben in einer sozial und kulturell homogenen Vorstadt nicht erstrebenswert erschien, eigneten sich deshalb nach und nach die Wohngebiete des 19. Jahrhunderts an, die mit ihren niedrigen Mieten und dem teilweisen Leerstand eine Art Vakuum darstellten. In einem noch kurz zuvor unvorhergesehenen Prozess wurden Bauten, die für gänzlich andere Nutzungen errichtet worden waren, für alternative Lebensformen adaptiert. Einst für großbürgerlichen Lebensstil zugeschnittene Altbauappartements wurden zu Fünfer-WGs, Hinterhauswohnungen zu Single-Unterkünften und selbst die für rigide organisierte Produktionsabläufe gebauten Industriehallen dienten plötzlich als Orte für Kunst und Kultur. Das Schema der fünfziger und sechziger Jahre, als Neubauwohnungen mit Nierentisch noch Zeichen für zeitgemäßen Lebensstil und Parkettbodenwohnungen mit Stuckdecke Sinnbild von Spießigkeit waren, verkehrte sich so ins Gegenteil.
Diese vor etwa 25 Jahren geprägte kulturelle Codierung von »Altbau = junger urbaner Lebensstil« und »Neubau = solider vorstädtischer Lebensstil« hat sich im Grundsatz bis heute gehalten, dabei aber auf der ökonomischen Ebene im Laufe der Zeit einen wesentlichen Wandel erfahren. In den siebziger Jahren galt die Altbauwohnung noch als ein Symbol einer alternativen, weniger materiell orientierten Lebensweise, während der Neubau ein Zeichen wirtschaftlichen Erfolgs war. In dem Maße aber, in dem in der postindustriellen Gesellschaft die Young Urban Professionals zu Wohlstand gekommen sind, Arbeiter dagegen ihre Jobs verlieren, hat sich auch das Image der Stadtteile verändert. Während viele traditionelle Wohngegenden als hip gelten und unter Aufwertungsdruck stehen, werden einige Neubauviertel als Kulturwüsten des sozialen Wohnungsbaus stigmatisiert.

Die Stadtpolitik wiederholt alte Planungsfehler

Die Reaktion der Berliner Stadtpolitik verschärft dieses Problem auf fatale Weise und wiederholt dabei einige Fehler der Sanierungsstrategie der Nachkriegsjahrzehnte. Damals wie heute ist ein ursprünglich aus sozialreformerischen Motiven entwickeltes Leitbild zum Selbstzweck geworden, dessen Realisierung schließlich vor allem der Bauwirtschaft, einer aufgeblähten Bürokratie und den GewinnerInnen der ökonomischen Restrukturierung dient. Die VerliererInnen sind auch im Jahre 2002 wieder die unmittelbar von der Planung Betroffenen. Zwar bietet ihnen die postmoderne Konsumgesellschaft eine größere Bandbreite an Lebensstilen als die spießig-autoritäre frühe Bundesrepublik, doch der Zwang zur Anpassung an die vorherrschende Ökonomie ist kaum geringer geworden. Heute genau wie damals ignoriert die Politik die Bedürfnisse derjenigen, die nicht am Umstrukturierungsprozess gewinnen können oder wollen. Dies betrifft vor allem die VerliererInnen der sozialen Polarisierung. Weil sie nicht am allgemeinen Konsumrausch teilhaben können, bringt ihnen die neue Lifestyle-Orientierte Urbanität auch keine Verbesserung der Lebensqualität. Hinzu kommen diejenigen, die trotz guter Bildungschancen nicht zu den sich selbst ausbeutenden freien MitarbeiterInnen der Kreativbranchen, JungunternehmerInnen oder EDV-SpezialistInnen gehören wollen. Stattdessen erkennen sie ihre Mitverantwortung und nehmen es nicht hin, wenn die VerliererInnen des ökonomischen Wandels ausgegrenzt werden. Im Rahmen von Aktionen wie »Reclaim the Streets« protestieren sie mit ironischen Mitteln (die vom demonstrativen Schwarzfahren bis zum Rave in der Sparkassenfiliale reichen) gegen Privatisierung, Kommerzialisierung und Sicherheitswahn.

Aneignung durch die alternativen Kulturszene

Die jetzt einsetzende Aneignung untergenutzter DDR-Bauten entspringt einem ähnlichen Geist. Insbesondere die Gebäude rund um den Alexanderplatz werden zunehmend für alternative kulturelle Zwecke verwendet. So fand beispielsweise in den Rathauspassagen, einem gleich neben dem Fernsehturm gelegenen Wohn- und Handelskomplex der siebziger Jahre, auf den Baudirektor Stimmann am liebsten »eine Bombe schmeißen«[2] würde, letztes Jahr das Kulturfestival »Interzone« statt. Ganz in der Nähe hat sich der Szeneclub »Sternradio« in dem vor 30 Jahren für das staatliche Reisebüro der DDR errichteten »Haus des Reisens« einquartiert. Und noch ein paar hundert Meter weiter östlich werden neue Nutzungskonzepte für die entlang der Karl-Marx-Allee aufgereihten kubischen Pavillons der sechziger Jahre erarbeitet, wobei der spröde Charme einstiger gastronomischer Einrichtungen wie der »Mokkabar« oder des »Café Moskau« erhalten bleiben soll.
Mit solchen Projekten eignen sich die Nachkommen der Achtundsechziger eben die Räume an, die von ihrer einstmals alternativen Elterngeneration bis heute so vehement abgelehnt werden. Da in den Altbauvierteln immer weniger Platz für Subkultur bleibt, weil wohlhabend gewordene Ex-Hippies, grüne SpitzenpolitikerInnen, Architekturbüros oder Werbeagenturen die Mieten in die Höhe treiben, werden von der nachfolgenden Generation eben die Produkte der städtebaulichen Moderne genutzt. Mit einer naiven Sehnsucht nach der DDR hat das Interesse an diesen Bauten nichts zu tun – genau so wenig, wie die in den siebziger Jahren getroffene Entscheidung der ersten Wohngemeinschaften, in Altbauwohnungen zu ziehen, sie seinerzeit als MonarchistInnen geoutet hätte.
Die »WiederentdeckerInnen« gehen in diesem Prozess eine Interessenkoalition mit den VerliererInnen der sozioökonomischen Entwicklung ein, die zwar befristet sein mag, aber trotzdem einen kulturell und politisch bedeutsamen Effekt hat. Denn im Verlauf der Etablierung einer Stadterneuerungspolitik spielt die Auseinandersetzung um einzelne herausragende Bauten eine wichtige Rolle. Erst die kulturelle Abwertung der Gebäude einer Epoche ermöglicht dem Planungsapparat, ganze Quartiere und die Lebensweise ihrer BewohnerInnen als nicht mehr zeitgemäß darzustellen und so einen Modernisierungszwang zu schaffen. Die Diffamierung der Stadt des 19. Jahrhunderts als »Mietskasernen« war eine Voraussetzung für die Kahlschlagsanierung. Umgekehrt war die kulturelle Aufwertung der Altbauviertel durch sozialwissenschaftliche Forschung ein wichtiger Beitrag zu ihrer Rettung.[3]

Verunglimpfung des modernen Städtebaus

Einen ähnlichen Diskurs erleben wir heute bezüglich der Stadt des 20. Jahrhunderts. Das Ende der DDR machte die Verunglimpfung des modernen Städtebaus und den Großangriff durch Projekte wie das »Planwerk Innenstadt« zunächst einfacher. Die Entsorgung selbst der gelungensten, oder zumindest bekanntesten, Bauten dieser Epoche legitimiert dabei den bedenkenlosen Umgang auch mit allen anderen Gebäuden derselben Ära. Um so wichtiger ist darum die Gegenrede. Die Rettung des damals direkt an der Mauer gelegenen ehemaligen Kunstgewerbemuseums (heute als Martin-Gropius-Bau bekannt) war im West-Berlin der achtziger Jahre ein bedeutender Beitrag zur kulturellen Aufwertung der Stadt des 19. Jahrhunderts. Darum ist die heutige Debatte über den Palast der Republik bzw. dessen Ersatz durch eine Schlossrekonstruktion nicht nur eine Frage der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit, sondern auch eine Weichenstellung für die Zukunft.
In den kommenden Jahrzehnten wird die Qualifizierung von Gebieten, die von der baulichen Massenproduktion des 20. Jahrhunderts geprägt sind, eine der wichtigsten Aufgaben der Planung werden. Dabei geht es aber nicht nur darum, lieblose Hochhauskomplexe oder vernachlässigte Grünflächen irgendwie zu verhübschen, sondern neue Wege zu finden im Umgang mit den städtebaulichen Brüchen zwischen der rehabilitierten vormodernen Stadt und der Patina ansetzenden Stadt der Großsiedlungen, Einfamilienhäuser, Supermärkte und Gewerbegebiete. Einen Weg zurück zur vermeintlich guten, alten Stadt wird es dabei nicht geben, denn das würde bedeuten, den gesamten Baubestand aus den letzten Jahrzehnten, und damit den größten Teil des Bestandes, zu ignorieren. Schlimmer noch: In dem Maße, in dem die alte Stadt als einzig wahre, schöne, gute städtebauliche Form verherrlicht wird, droht die Gefahr, dass die von der Moderne geprägten Räume vernachlässigt und stigmatisiert werden - und mit ihnen ihre BewohnerInnen. In Ostdeutschland zeigt sich, wie eng die soziale Entwicklung der entsprechenden Stadtteile und die öffentliche Wahrnehmung dessen, ob ein Quartier städtebauliche Qualitäten aufweise oder nicht, miteinander verknüpft sind. Denn das Gebiet der ehemaligen DDR kann als ein Modellfall verstanden werden, an dem bereits jetzt erkennbar ist, dass die Stigmatisierung ehemaliger Arbeitersiedlungen und die soziale Polarisierung im Zuge der Auflösung einer Industriegesellschaft Hand in Hand gehen. Denn in Ostdeutschland wurde durch den plötzlichen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft bereits der Deindustrialisierungsprozess vorweggenommen, der dem Westen des Landes bzw. Europas in seinem ganzen Ausmaß erst noch bevorsteht.

Experimentierfeld Berlin

Berlin ist deshalb ein Experimentierfeld für die komplexe Aufgabe, die bisher beziehungslos nebeneinander gestellten Räume der vormodernen Quartiere und der Stadt der Moderne miteinander zu verknüpfen, ohne dabei eine historische Schicht höher zu bewerten als die andere, und – untrennbar damit verknüpft – ohne dabei die Interessen der GewinnerInnen der ökonomischen Restrukturierung gegen die Interessen der VerliererInnen der sozialen Polarisierung gegeneinander auszuspielen. Die Erfahrungen, die Berlin dabei macht, werden irgendwann auch für andere Städte relevant sein, denn dieselbe Aufgabe stellt sich in fast allen deutschen Städten, und ebenso in den anderen europäischen Ländern, wo sich zwar nicht das Problem der kriegszerstörten und wiederaufgebauten Altstadt, aber zumindest die Frage nach der Gestaltung des Stadtrands stellt, an dem die traditionellen Quartiere auf die Großsiedlungen der Nachkriegszeit und die diffusen Strukturen der »Zwischenstadt« treffen.
Trotz der massiven Bautätigkeit seit dem Mauerfall stehen Berlin nach wie vor alle Wege offen, denn bisher wurden überwiegend große Freiflächen entlang der Mauer und Baulücken in bestehenden vormodernen Quartieren gefüllt. Die planerischen Fragen aber, die in Berlin heute auf der Tagesordnung stehen, entscheiden darüber, ob die Stadt einmal als Negativbeispiel für den Umgang mit dem baulichen Erbe des 20. Jahrhunderts gelten wird, oder ob sie einmal als Vorbild dienen könnte, von dessen Erfahrungen andere Städte profitieren würden. Voraussetzung für die positive Variante ist aber, dass die PlanerInnen die einsetzende Wiederentdeckung der Plattenbauten als innovatives Potential erkennen, und sich von ihrem einseitig am Bild der historischen Stadt orientierten Leitbild lösen.

Fußnoten


  1. vgl. Werner Sewing: »Leiden am Leitbild Europäische Stadt«, in: Verlagsbeilage »Wohnkonzepte« der tageszeitung, 3./4. Juni 2000, S. 26. ↩︎

  2. zitiert in: Uwe Rada und Ulrike Steglich: »Entsetzen über Stimmann«, in: die tageszeitung, 2.10.2001, S. 21. ↩︎

  3. vgl. Harald Bodenschatz: »Platz frei für das neue Berlin! Geschichte der Stadterneuerung seit 1871.« (Studien zur neueren Planungsgeschichte, Band 1) Berlin 1987. ↩︎


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