» Texte / Betroffenheit kollektivieren, Wohnungsfrage politisieren

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings, mit dem er dem kreativen Aufwertungsdilemma lustvoll-provokant nachgeht. Und tatsächlich: Die Debatte um Aufwertung und Verdrängung ist im deutschsprachigen Raum lange, um nicht zu sagen zu lange rund um die Schuldfrage geführt worden: Die kreativen Pionier-Kohorten aus prekären KünstlerInnen, StudentInnen oder Angehörigen linker Alternativszenen sind über viele Jahre in die individualisierte Gentrifizierungsfalle getappt, aus der sie sich halb selbst zerfleischend, halb mit dem Zeigefinger auf die jeweils anderen gerichtet, nicht zu befreien wussten. Eine Freude für all jene, die an der Gentrifizierung gut verdient und das konservative Storytelling in der medialen Öffentlichkeit genährt haben.
       Nur langsam hat sich mit Manifesten der Recht auf Stadt Bewegung wie Not in our Name – Marke Hamburg (2009), Christoph Twickels Bestseller Gentrifidingsbums (2010) oder Andrej Holms Wir bleiben Alle! (2010) die Erkenntnis durchgesetzt, dass den Verwerfungen an den Wohnungsmärkten und der fortschreitenden Inwertsetzung des öffentlichen Raums nur mit einem kollektiven Ansatz auf der Ebene von Systemkritik in Theorie und Praxis beizukommen ist.
       Es ist das große Verdienst der Stadtforscherin und Stadtaktivistin Lisa Vollmer, in der ersten Hälfte ihres schmalen, konzentrierten Bandes eine ebenso detaillierte wie zugängliche Abhandlung zum Stand der Gentrifizierungsforschung zu liefern, um dann erfolgreiche »Strategien gegen Gentrifizierung«, so auch der Titel des Buchs, systematisiert und übersichtlich den LeserInnen in flüssiger und verständlicher Sprache zur Verfügung zu stellen. Es geht Vollmer ganz eindeutig darum, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen Beitrag für die Praxis zu leisten, ein Handwerkszeug für die Selbstorganisation von MieterInnen, für StadtaktivistInnen und alle, die sich gegen die systematische Verdrängung durch Aufwertung wehren müssen. Ohne die LeserInnen zu bevormunden, nimmt die Publikation nichts als gegeben an: Fachbegriffe werden im Text kurz und verständlich erläutert, ökonomische und politische Zusammenhänge transparent gemacht. Vollmer stellt klar, dass Gentrifizierung Teil der kapitalistischen Stadtproduktion ist mit »ihrer Inwertsetzung der baulichen Infrastruktur wie ihrer kulturellen Urbanität«. Auf erstaunlich wenigen Seiten werden sämtliche Aspekte kurz und knapp in Beziehung gesetzt: Klassische Gentrifizierungsphasen, Verdrängung und ihre individuellen Folgen, Segregation und ihre Folgen für die urbane Gesellschaft, unterschiedliche Erklärungsansätze, kulturelle Dynamiken, Finanzialisierung der Wohnungsmärkte, die Rolle des Staats, von Touristifizierung, Gewerbe und Neubau.
       Nachdem Vollmer das Feld aus allen Blickwinkeln beleuchtet hat, macht sie klar, dass Gentrifizierung verstanden als »Bevölkerungspolitik«, ebenso wie der Kapitalismus an sich, kein Naturgesetz darstellt: »Ob Aufwertung auch zu Verdrängung führt, ist von politischen Entscheidungen abhängig.« Damit diese im Sinne des Gemeinwohls getroffen werden, braucht es Druck durch »die Stadt von unten«, damit »Politiken gegen Inwertsetzung« wie ein effektiver MieterInnenschutz, der Ausbau der MieterInnen-Mitbestimmung und der (Wieder-)Aufbau des gemeinnützigen und nicht-gewinnorientierten Sektors implementiert werden.
       An dieser Stelle beginnt auch die praxisorientierte kritische Analyse der »Strategien gegen Gentrifizierung« mit vielen Beispielen aus den Recht auf Stadt Netzwerken, von MieterInnen-Bündnissen wie Kotti+Co, Bizim Kiez, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Esso Häuser St. Pauli, Gängeviertel, dem Bündnis Stadt für Alle Bochum und vielen mehr. Analysiert werden Kampagnen-Strategien und kreative Werkzeuge, aufgestellte Fettnäpfchen und produktive Wege, um sich aus Sackgassen und Partizipationsfallen zu befreien, ebenso wie Möglichkeiten und Bedingungen für Bündnisse außerhalb des angestammten Milieus. Exkurse zum Transformative Community Organizing oder zum Mietshäuser Syndikat bilden wichtige Querverweise zu Methoden und Modellen der Selbstorganisierung.
Mit Strategien gegen Gentrifizierung ist Lisa Vollmer eine Analyse gelungen, die Theorie und Praxis verbindet und Möglichkeiten der Selbstorganisierung aufzeigt. Damit stellt es ein wertvolles Werkzeug für die Weitergabe von erarbeitetem Wissen von und für urbane soziale Bewegungen dar. Man wünscht sich, die Stadtforscherin bekäme die Mittel, um darauf aufbauend ein noch umfassenderes illustriertes Handbuch zu erstellen, um dieses Wissen auch grafisch breiter rezipierbar zu machen. Das Zeug zum Klassiker hätte es.


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