Kurt Handlbauer

Kurt Handlbauer studierte Architektur an der TU-Wien mit Studienaufenthalten in Tokio.


Von der Bubble zur Box

Spätestens seit dem Zusammenbruch der »Bubble Economy« zu Beginn der 90er-Jahre ist es offensichtlich, dass Arbeitslosigkeit und der damit verbundene soziale Abstieg in Japan zur gesellschaftlichen Realität geworden ist. Galt es bis dahin als üblich, ungeachtet der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen das gesamte Arbeitsleben in einer Firma zu verbringen, die neben der Absicherung der wirtschaftlichen Existenz des Einzelnen auch ein erweitertes familiäres Umfeld gewährleistete, fällt dieses Konzept nun zunehmend auseinander. Dieser Umbruch ist vor allem im Aufbrechen der traditionellen japanischen Rollenbilder, aber auch im zahlenmäßigen Anstieg jener Personengruppen abzulesen, welche ihr Leben am Rande der gesellschaftlichen Konventionen führen. Liegen die objektiven Zählungen der »Obdachlosen« auch weit unter dem Durchschnitt sämtlicher Industrienationen, so manifestieren sich die dorfähnlichen Konfigurationen der Boxmen sehr wohl als irritierendes Moment im urbanen Raum der japanischen Metropolen.

Leben zwischen »uchi« und »soto«

Einen wesentlichen Punkt für das Verständnis der japanischen Realität bilden die beiden Begriffe »uchi« und »soto«. Die kleinste räumliche Einheit wird nicht durch das Ich geprägt sondern durch »uchi«, das Heim, die Familie, den Haushalt, das Innen. Dieser Begriff ist jedoch nicht nur räumlich zu verstehen, sondern hat auch eine ganz klare soziologische Bedeutung. Frei übersetzt bedeutet er etwa so viel wie innerhalb einer definierten Grenze befindlich. Dem gegenüber steht »soto«, das Außen. »Soto« kennzeichnet all die Lebensbereiche außerhalb dieser Grenze, die allerdings nicht immer klar zu ziehen ist. Auch in der japanischen Sprache reflektiert sich dieses Modell. Für Personen, die gesellschaftlich innerhalb des eigenen Kreises stehen, wird eine andere sprachliche Form verwendet wie für Personen, die sich außerhalb dieses Kreises befinden. Die soziologische Grenze zwischen »uchi« und »soto« ist dabei oft genauso schwammig wie die räumliche im japanischen Haus, was sich nicht selten in sprachlichen Missverständnissen äußert, vor allem von Personen, die mit diesem Konzept noch nicht so vertraut sind. Liegt es auch nahe, diese beiden Begriffe vereinfacht mit »privat« und »öffentlich« zu übersetzen, so wird die Abstraktion ihrer Bedeutung aber nicht gerecht.
Auch die traditionelle gesellschaftliche Rollenverteilung, welche allerdings in einem massiven Umbruch begriffen ist, baut auf diesen Begriffsmustern auf. Es ist kein Zufall, dass im japanischen Wort für die eigene Frau (kanai) das Schriftzeichen von »uchi« enthalten ist. Auch die Bezeichnung für die Frau von jemandem anderen (okusan) beinhaltet ein Schriftzeichen, welches das Innere (oku) definiert. Die Frau entfaltet somit traditionellerweise ihre gesellschaftliche Position nach innen, der Mann übernimmt die Aufgaben nach außen hin. Ist dieses Modell heutzutage auch aufgeweicht, so findet sich darin doch ein Erklärungsaspekt für den männlichen Überhang bei den Boxpeople. Nicht selten finden sich darunter Männer, welche durch den Verlust ihrer Arbeit diesen Bereich außerhalb der inneren Zelle nicht mehr zufriedenstellend erfüllen können und sich teilweise aus Scham von ihren Familien abwenden oder von diesen schlichtweg verstoßen werden. Ist die Zahl der Boxwomen auch im Steigen begriffen, so werden diese jedoch noch eher durch das soziale Netz von bereits erwerbstätigen Kindern aufgefangen. War es zu Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität durchaus üblich, Mitarbeiter, die für einen Betrieb nicht mehr von Nutzen waren, als »Fenstergucker« mitzuschleppen, um so diese Idee des gesellschaftlichen Konsenses aufrechtzuerhalten, ist aufgrund des ökonomischen Drucks und der damit veränderten Prämissen diese Vorgangsweise heute nicht mehr durchführbar. Als »Fenstergucker« bezeichnete man jene MitarbeiterInnen, welche innerhalb der Firma einen von den übrigen Angestellten isolierten Platz am Fenster zugewiesen bekamen, wo sie ihre restlichen Arbeitstage mit Nichtstun verbrachten.

Irritierendes Blau im Stadtraum

Ein Spaziergang durch den Uenopark in Tokio zur Zeit der Kirschblüte fokussiert den Blick auf das hiesige Boxmendorf. Eingebettet zwischen Kunstmuseen, einer Konzerthalle und durchziehenden Menschenmassen, die sich an den Kirschblüten erfreuen, liegt in einem eher abgeschiedenen Bereich rund um eine öffentliche Toilette eine Zeltstadt, die durch das kräftige Blau der verwendeten Plastikplanen sofort ins Auge sticht. Nur unweit davon entfernt sieht man Gruppen von JapanerInnen, welche auf denselben Planen ihr Kirschblütenpicknick zelebrieren. Scheint diese oberflächliche farbliche Analogie auf den ersten Blick auch nichtssagend, so verbirgt sich dahinter doch mehr. In beiden Fällen wird »uchi« praktiziert. Die Plane dient dabei als territoriale Abgrenzung. Das gemeinsame Bestaunen der Kirschblüte und das damit verbundene Picknick (hanami) mit Personen, die in verschiedenen Bereichen (Beruf, Familie, Freundeskreis) eine soziologische Einheit bilden, ist ein jährlich wiederkehrendes Ereignis, bei dem sich der soziologische Aspekt von »uchi« sichtbar im öffentlichen Raum manifestiert. Dem gegenüber stehen die Boxmen, die durch ihre einfachen räumlichen Konstruktionen ebenfalls ihr Bestreben nach einem minimalen »uchi« sichtbar machen. Ist es in unseren Breiten üblich, dass Obdachlose meist gänzlich auf diese unmittelbare Hülle verzichten und ihre Bedürfnisse durch eine Aneignung von Funktionen des öffentlichen Raumes befriedigen, so erweist sich für die Beschreibung der Lebenssituation der Boxmen der englische Begriff »homeless« als weitaus treffender als die Bezeichnung »obdachlos«. Das konstruktiv abgegrenzte Territorium, welches von den Boxmen bewirtschaftet wird, erinnert eher an eine abgespeckte Minimalversion des japanischen Hauses, welches räumlich klar erfassbar ist, als an ein von Selbstaufgabe geprägtes Lebensumfeld im urbanen Raum.

Tradition als verinnerlichtes Konzept

Die genaue Betrachtung der räumlichen Konfigurationen der Boxmen bringt in der Tat erstaunliche Parallelen zum traditionellen japanischen Haus ans Licht. Sind diese Parallelen auch weniger als gewollte Absicht zu verstehen, so zeigen sie sehr wohl, dass sich gewisse räumliche Denkmuster im Laufe der Zeit verinnerlicht haben. Yoshinobu Ashihara versucht in seinem Buch »The hidden order«, der Typologie des japanischen Hauses auf die Spur zu kommen. Seiner Erkenntnis nach ist die spezifische Typologie weniger ein Produkt der kulturellen Bedingungen als vielmehr die pragmatische Reaktion auf klimatische Voraussetzungen. Die Miniarchitekturen der Boxmen, die sich in vielerlei Hinsicht dieser Typologie bedienen, bestätigen dabei diese These, denn es ist wohl nur zu verständlich, dass dabei die pragmatische Befriedigung des Wohnbedürfnisses im Vordergrund steht. Da sich ein Großteil des japanischen Lebens am Boden abspielt, kommt diesem auch eine erhöhte Bedeutung zu. Die unterschiedlichen flächenmäßigen Zuordnungen reflektieren sich in unterschiedlichen Bodenhöhen und Materialien. Die Hauptwohnfläche mit Tatamimatten (183 x 91,5 cm) ist in der Regel ca. 40 cm über dem Erdboden aufgeständert, um darunter eine ausreichende Luftzirkulation in den feuchten heißen Sommern zu gewährleisten. Der mit Zementestrich oder Fliesen versehene Eingangsbereich liegt in der Regel auf Erdbodenniveau und ist räumlich klar artikuliert, genauso wie der Küchenbereich und die Nebenräume. Verwenden die Boxmen auch keine Tatamimatten, so übernehmen standardisierte Getränkepaletten die Funktion des erhöhten Wohnbereiches. Sind die Dimensionen auch minimiert, so ist die räumliche Zonierung klar abzulesen. Selbst das im traditionellen Haus übliche, leicht erhöhte tokonoma (Bildnische), welches den Rahmen für ein Rollbild oder ein Blumenarrangement bildet, ist in der Boxmenarchitektur vorhanden, wenn auch in abgewandelter Form. Auch die in unseren Breiten oft als formale Qualität missdeutete Horizontalität welche durch die Öffnung der papierbespannten, leichten Schiebewände entsteht und der Querlüftung in den feuchtwarmen Sommermonaten dient, ist im Rahmen der Möglichkeiten übernommen. Aufrollbare Zeltplanen bzw. mit Klebeband verschließbare Ausschnitte stellen eine vergleichbare Reaktion auf die klimatischen Bedingungen dar.

Mobilität und territoriale Stabilität

Wird die Existenz der Boxmen in ihren dörflichen Anordnungen auch aufgrund eines Mangels angebotener Alternativen von offizieller Seite geduldet, so sind diese doch Gejagte. Vor allem gejagt von der Notwendigkeit, ihre alltägliche Versorgung sicherzustellen. Der Aspekt der Mobilität im urbanen Gefüge wird dabei zur Überlebensstrategie. Der mobile Rollwagen bildet dabei oft den Größenmaßstab für ihre Architektur, die mit wenigen Handgriffen konfiguriert ist. Nicht selten sieht man diese kompakten Pakete verwaist im Stadtraum parken, während deren Insassen ihren Tätigkeiten nachgehen. Auch bedienen sich die Boxmen oft an weggeworfenen Gegenständen, die sie zweckentfremdet in ihre Architekturen integrieren. In einer von Überfluss geprägten Gesellschaft, die permanent nach neuen attraktiveren Objekten jagt, ergibt sich so die Möglichkeit, sich am Weggeworfenen der Überflussgesellschaft zu bedienen. Die Hierarchien, welche durch Einkommensunterschiede der unterschiedlichen Stadtteile Tokios entstehen, integrieren die Boxmen konsequent in ihren Lebensrhythmus. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Seitenstraße der noblen Ginza hochkarätigen Sake oder eine Flasche edlen französischen Rotweines, der aufgrund eines beschädigten Etiketts weggeworfen wurde, zu finden, ist groß. Genauso gebrauchsfähige Dinge wie Möbel, Kleidung und Bücher, welche von den Boxmen aufgelesen und in einen Second-Hand-Kreislauf übergeführt werden. Der Rollwagen wird hierfür auch oft als Arbeitsgerät verwendet. Doch im Gegensatz zu den räumlich entwurzelten herumstreifenden Obdachlosen in unseren Breiten kehren die Boxmen nach vollzogener Tätigkeit wieder in ihr »uchi« zurück, welches sie entweder aus der kompakten Verstauung am Rollwagen neu konfigurieren oder das in vielen Fällen bereits den Charakter einer dauerhaften Bleibe in den dorfähnlichen Organisationsformen aufweist. Auf jeden Fall gilt es Abend für Abend die territoriale Abgrenzung klar zu ziehen und für die notwendige Stabilität in einem Leben voller Unsicherheiten zu sorgen.
Auch die Essensausgabe einer Hilfsorganisation in der Nähe des Zeltdorfes im Uenopark zeigt, wie stark dieses Konzept der territorialen Definition von »uchi« in der japanischen Denkweise verinnerlicht ist. Vier Lautsprecher, die an den Ecken eines Quadrates von 30 mal 30 Metern postiert sind, begrenzen, wenn auch nicht eindeutig, mit vertrauter japanischer Schlagermusik ein Feld im öffentlichen Raum, das temporär von den Boxmen in Besitz genommen wird. Das unvermittelte Eindringen von Fremden in diesen Raum wird mit strafenden Blicken quittiert, welche einem eindeutig mitteilen, dass es sich dabei um eine Grenzverletzung handelt.
Dieser Respekt, der von Seiten der Boxmen eingefordert wird, wird jedoch auch von ihnen im Umgang mit der Gesellschaft praktiziert. Stigmatisiert in einer leistungsorientierten Gesellschaft, versuchen sie ihre Situation auszublenden, indem sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu den Abläufen der Gesellschaft beitragen und unter größtmöglicher Rücksichtnahme versuchen, das Bild einer funktionierenden Ordnung nicht zu trüben. Das Sammeln von Aluminiumdosen und gebrauchten Mangas stellt eine Einnahmequelle dar, welche minimale Einkünfte garantiert, aber auch der Gesellschaft dienlich ist. Nicht selten sieht man auch Boxmen, welche sich unaufgefordert der Pflege öffentlicher Flächen annehmen, um dadurch ihren Beitrag zur öffentlichen Ordnung zu leisten und sich so für ihre Situation förmlich entschuldigen.

Die Adresse als Rückfahrticket ins System

Sind viele Boxmen auch bestrebt, ihrer Situation zu entkommen und in ein normales Leben zurückzukehren, so stellen die herrschenden rechtlichen Rahmenbedingungen für die Erlangung einer geregelten Arbeit ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Das Vorhandensein einer postalischen Adresse ist die Grundvoraussetzung für den Beginn eines dauerhaften Arbeitsverhältnisses. Gibt es von staatlicher Seite auch die Möglichkeit, für kurze Zeit in eine Art Wohnheim zu übersiedeln und somit in den Besitz einer physischen Adresse zu gelangen, so hat die Praxis gezeigt, dass die zeitlich begrenzte Wohndauer zu kurz ist, um im Arbeitsleben wieder Fuß zu fassen. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass diese Möglichkeit nur einmal gegeben ist. Gelingt es innerhalb dieser Frist nicht, eine geregelte Arbeit zu finden, so bleibt die erneute Rückkehr in das Boxmendorf die einzige Alternative.
Die Tatsache, dass man als Boxman kein Anrecht auf eine Adresse bekommt, verwundert bei näherer Betrachtung des japanischen Systems der städtischen Toponymie. Das völlige Fehlen von Straßennamen macht eine numerische Ordnung im europäischen Sinn nicht möglich. Vielmehr bezieht sich der abstrakte Zahlencode einer Adresse auf ein Kataster nach Vierteln und Blocks ohne jede Geometrie. Dieser Zahlencode ist nur für SpezialistInnen lesbar und bringt für LaiInnen eine gewisse Unschärfe in der Bestimmung der Wohnung mit sich. Ohne das Hilfssystem einer räumlichen Skizze ist es unmöglich, sich einem konkreten Objekt zu nähern. Die räumliche Bedeutung des Einzelobjektes wird dabei zu Gunsten des Viertels zurückgedrängt. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Dörfer der Boxmen territorial klar zu fassen und diese Territorien öffentlich auch bekannt sind, verwundert es, dass diese nicht in das improvisiert anmutende System der Adresszuordnung aufgenommen werden. Es wäre zu überlegen, ob durch diese relativ einfach durchführbare organisatorische Maßnahme nicht eine effiziente Hilfestellung für die Bewältigung der Lebenssituation der Boxmen geschaffen werden könnte.


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