Stephan Grigat

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien.


Die in der Edition Tiamat publizierten ausgewählten Briefe Guy Debords aus den Jahren 1957 bis 1994 bieten einen Parforceritt durch die Geschichte der revolutionären Erhebungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob Algerien in den 1950er und 60er Jahren, Portugal während der Nelkenrevolution oder Spanien im Übergang vom Franquismus zur Demokratie: Debord stand stets in engem Kontakt mit kleinen linken Zirkeln, um sich über den Stand der revolutionären Sache zu informieren und in die Umbrüche wenn möglich zu intervenieren. Man erfährt einiges über die Verwandlung Italiens in »ein europäisches Labor der Konterrevolution« und über die Arbeiterstreiks im poststalinistischen Polen der 1980er Jahre, die Debord zu den »wichtigsten Ereignissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zählte. Debord äußert sich zur Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Debatte über Integration und Migration ebenso wie zum Zusammenbruch der Ostblockstaaten, die er stets kritisiert hatte. Über die Marxisten spottete er: »Das Proletariat ist ihr heimlicher Gott.« Anstatt seiner Anbetung forderte Debord die »Selbsterziehung des Proletariats«. Er hielt es für unerlässlich, dass »die Mehrzahl der Arbeiter Theoretiker werden«. Über das Ziel einer befreiten Gesellschaft notiert er: »Weder Paradies noch Ende der Geschichte. Man hätte andere Übel (und andere Freuden), das ist alles.«
Anhand der Briefe lassen sich die Geschichte der Situationistischen Internationale und die Positionierung Debords in ihr rekonstruieren. Grundbegriffe der »Kritik des Spektakels« werden in Auseinandersetzung mit linken Gruppen in Japan und anderen Ländern dargelegt. Seine Korrespondenz macht deutlich: Nicht dialektische Aufhebung, die sich stets eine gewisse Skepsis gegenüber dem revolutionären Furor bewahren müsste, ist sein Programm, sondern Tabula rasa, wodurch der Furor stets noch befördert wird. In den Briefen wird das an der schroffen und mitunter nahezu brutalen Sprache deutlich, die nur noch selten etwas von jener verzweifelten Zärtlichkeit erahnen lässt, die man beispielsweise aus den Schriften Adornos kennt. Im Politischen schlug sich das in einer fast schon naiven Begeisterung für spontane Aufstände nieder, die stets in einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Forderung stand, die Arbeiter müssten Dialektiker werden.
Durch seine Absage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu ermöglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, dem Spektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber merkwürdig abstrakt bleibt. Was das Lebendige ausmacht, was das demnach tote Spektakel negieren soll, bleibt unklar. Debord postuliert ein vermeintlich richtiges Leben inmitten der falschen Gesellschaft als subversive Strategie. Er überschätzt die Verpflichtung der an Emanzipation interessierten Menschen, jetzt und hier anders zu leben, und gelangt in seinem autobiographischen, ebenfalls bei Tiamat auf Deutsch erhältlichen Panegyrikus aus dem Jahr 1989 zu einer Selbsteinschätzung, die sämtliche sich notwendigerweise ergebenden Ambivalenzen und Paradoxien einer kritischen Existenz in der spektakulären Gesellschaft ausblendet, ja negiert: »Ich habe jedenfalls bestimmt so gelebt, wie ich gefordert habe, dass man leben müsse.«
Dennoch ist Debord weit entfernt von jener Lebensphilosophie, für die sein ehemaliger Mitstreiter Raoul Vaneigem mit seinem zeitweise ausgesprochen populären »Handbuch der Lebenskunst« und ähnlichen Publikationen die vitalistischen Stichworte lieferte. In seinen Briefen aus den späten 1970er und den 80er Jahren begegnet Debord dem Autor von An die Lebenden nur mehr mit beißendem Spott. Vaneigems »Buch der Lüste« bescheinigte er: »Es ist zur Gänze und auf einzigartige Weise repetitiv und blöd, bemüht sich um Zynismus, scheitert aber.«
Besonders verdienstvoll an dem gewissenhaft edierten Briefband ist die erstmalige Übersetzung von Artikeln, die Debord für die Zeitschrift Encyclopédie des Nuissances geschrieben hatte, in der in den 80er Jahren in Frankreich versucht wurde, die situationistische Kritik aufzugreifen und mittels einer Enzyklopädie der Schädigungen zu aktualisieren. In seinen Briefen an die Redakteure der Encyclopédie, denen die Artikel für die Zeitschrift wie jener über das Stichwort »Abschaffung« beigefügt sind, werden grundsätzliche Probleme der Kritik in der spätbürgerlichen Gesellschaft angerissen. Debord erläutert beispielsweise Einwände gegen einen inflationären Gebrauch von Ironie, wenn er der Redaktion mitteilt: »Ironie ist objektiv ein wenig überholt angesichts der einseitigen Plumpheit, mit der die Welt ihrem Ruin entgegengeht. Schließlich (…) wird und muss Eure Ironie angesichts der Schädigungen, von denen Ihr sprecht, unvermeidlich bitter sein und riskiert in diesem Sinne, den Feind nicht so zur Verzweiflung zu bringen, wie es vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren der Fall gewesen wäre. Der Feind hat keinerlei gemeinsames Terrain mehr mit Euch, nicht einmal auf der Ebene der formalen Logik.« Dagegen empfiehlt Debord: »Kritik mit der Axt (…), drohende Denunziation, Beschimpfung, Prophezeiung ad hominem
Für die Encyclopédie des Nuissances schrieb Debord auch über den »extremen Verfall der Nahrung«. Nicht um einen verzichtsneurotischen Vegetarismus oder gar Veganismus war es ihm zu schaffen, sondern er lobte die Ökobauern, weil bei ihnen Rind, Kalb und Schwein von »ausgezeichneter Qualität sind, wie der erste Bissen bestätigt.« Die »allgemeine Rückbildung der Sinnlichkeit«, die sich gerade im Desinteresse am Geschmack von Essen und Trinken zeigt, sah er mit einer »außerordentlichen Rückbildung geistiger Klarheit« einhergehen. Und er hat Recht: wer nicht genießen kann, kann in aller Regel auch nicht denken.


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