» Texte / Dekonstruktion des Mythos »Wiener Moderne«

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Die beiden Bände Metropole Wien umfassen fünf längere Beiträge zur Dekonstruktion des Mythos "Wiener Moderne" und eine ganze Reihe von Auszügen aus Referaten, die 1996 beim Symposion »Metropole Wien – Texturen der Moderne« gehalten wurden, sowie Kurzbeiträge der Mitglieder des internationalen Beirats eines im Mai 1995 abgehaltenen Workshops, der unter anderem das Symposion vorbereitet hatte.
Ausgangspunkt des späteren Forschungsprojekts war die Kritik an der Forschungspraxis zur Thematik "Wiener Moderne". Dieser wird vorgeworfen, sich auf eine "Ontologisierung eines auf Elitenkunst und Wissenschaft begrenzten Begriffs von Wiener Kultur" zu beschränken, "anstatt die bei Carl Schorske in Richtung eines Anderen, Offenen der Moderne anklingenden Momente aufzugreifen und zu dynamisieren". Das Forschungsprojekt formierte sich am Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Symposion wurde dann in Kooperation mit dem Institut für Kulturwissenschaften veranstaltet.
Carl Schorskes Begriff "Wiener Moderne" wurde die längste Zeit statt als Interpretation einer Epoche und Gegenstand eines Diskurses als Tatsachenfeststellung und Sachverhalt gewertet. In der Einleitung zu Band 2 wird sie als "spezifisch historische Ausprägung globaler Trends gesellschaftlichen Wandels im 19. und 20 Jahrhundert« bezeichnet. Als Ausgangspunkt für Forschungen stellen sich Fragen nach den »urbanen Vorleistungen (Dynamik, Migration, soziale und intellektuelle Offenheit, technologische Umwelt...)", die in bestimmten Phasen Denk- und Lebensstile hervorbringen.
Die AutorInnen wollen in Anlehnung an angloamerikanische ForscherInnen "Moderne" nicht als Qualität behandeln, sondern als eine Variante, komplexe Gesellschaften zu organisieren. "Innerhalb des kritischen Konzepts von ›Moderne‹ wird es dadurch zwingend, ästhetische, allgemein-soziale und technologische Trends nach Eigengesetzlichkeiten und Selbstbezug zu untersuchen, sie aber gleichzeitig sinnvoll in Bezug zu setzen durch die paradigmatische Befragung auf ihre Funktion hin, gesellschaftliche Wirklichkeit in der modernen Massengesellschaft in einem zu produzieren und verstehbar zu halten."
Siegfried Mattl weist in seinem Beitrag "Wiener Paradoxien" in Anlehnung an das high modernists / low modernists Modell von Scott Lash und Jonathan Friedman auf die parallele Existenz zweier "moderner Kulturen" hin: "Einerseits diejenige Moderne in der Tradition der Aufklärung, mit ihren Postulaten der Selbstbeherrschung und Selbstmeisterung, die auf Kognition, Diskurs und Subjekt beruhen sollen. In ihr (...) käme Kultur vor allem als wissensgeleitete Kunst und Ich-Identität zum Tragen. Andererseits diejenige Moderne, die von den Systemen und ihrer Ausdifferenzierung ausgeht, und Kultur mit der Bewältigung der Systemwelten durch die ›Person‹ gleichsetzt."
Im Detail untersucht er die Rationalisierung, Ökonomisierung und Technifizierung der Kommunikation am Beispiel von Radio, Postkarte, Telefon, Rohrpost, Film/Kino und Grammofon. Dabei stellte er fest, dass es den ZeitgenossInnen nicht gelungen war, die neue Kommunikations-Situation anzuerkennen. Es war nicht gelungen, eine "Brücke von den Medien zu den sozialen Mechanismen" zu schlagen.
Roman Horak arbeitet in seinem Artikel die unterschiedlichen Positionen rund um den Wien-Auftritt (1928) der afroamerikanischen Tänzerin Josephine Baker heraus, die auf der einen Seite von denen beherrscht wurde, die den Untergang des Abendlandes kommen sahen, auf der anderen von den InszeniererInnen "einer popkulturellen Ikone". Einen besonders interessanten Spagat unternahm die Partei der Völkischen, die in der Person ihres Vorsitzenden Walter Riehl versuchte, sich von den christlich-konservativen Antimodernisten abzugrenzen, aber gleichzeitig nicht auf antisemitische und rassistische Hetze verzichten wollte. Riehl kam bei seinem unter der eigenen AnhängerInnenschaft umstrittenen Vortrag zur Conclusio, dass ein "arischer Bursche" einen modernen Tanz »sittlich« tanzen könne, was einem Juden hingegen nicht einmal bei einem Walzer gelänge. Die SozialdemokratInnen fanden ihre Nische, indem sie den Auftritt von Josephine Baker einer Enterotisierung und Entsexualisierung unterzogen. "Wenn Sexualität, genauer Erotik, mit bürgerlicher Dekadenz gleichgesetzt wird, so bleibt als nicht-rassistische Codierung des Phänomens der schwarzen Frau Josephine Baker nur mehr der Rekurs auf die puritanische Sauberkeit."
Gerhard Meißl zeichnet in seinem Beitrag "Hierarchische oder heterarchische Stadt?" die Wiener Altstadt-Debatte, die um die Jahrhundertwende, der Zeit der Modernisierung, aufs heftigste geführt wurde und für die u.a. die Personen Camillo Sitte und Otto Wagner stehen nach. Auch der Wien-Berlin-Vergleich ist in diesem Zusammenhang zu sehen, wobei in der Debatte Wien als Symbol der alten, traditionellen und Berlin der jungen, modernen Großstadt standen. "Die Verstärkte Individualisierung bei gleichzeitig gestiegenem Bedarf zu integrativer Systembildung, die Ausbildung neuer leistungsfähigerer Technologjen und Medien der Produktion und Kommunikation, die gesteigerte und beschleunigte Produktion und Kommunikation, die gesteigerte und beschleunigte Produktion und Zirkulation von Informationen (...) sowie von Sachgütern und die Ausdehnung des Raumes der diesbezüglichen Kommunikationsvorgänge" sieht Meißl als maßgebliche Elemente des Modernisierungsprozesses. Diesen stellte er z.B. anhand der Entwicklung von überregionalen und intraurbanen Netzen (Eisenbahn und Straßenbahn) in Wien dar. Der Beitrag von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner ist eine Zusammenstellung von Teilen des Buches Die Anarchie der Vorstadt, das in dérive Nr. 1 bereits besprochen wurde. Alfred Pfosers Beitrag analysiert die Bedeutung des Werkes von Schnitzler für das Studium Wiens um 1900.
Im zweiten Band gibt es Beiträge von Geoff Eley, Rolf Lindner, Mica Nava, Richard Saage, Walter Euchner, David Luft, Anson Rabinach, Marshall Berman, Helmut Gruber, Michael P. Steinberg, Andreas Huyssen, Malachi Hacohen, Jessica Benjamin und Lawrence Grossberg.

Roman Horak,... (Hg.)
Metropole Wien. Texturen der Moderne
Wien 2000 (WUV)
2 Bände, 380 und 262 Seiten
(Band 2 in englischer Sprache) ATS 398.-


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