Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Die Prekarität des Alltags ist auch im reichen Deutschland mit seinen stolzen Budgetüberschüssen für viele Menschen längst gelebte Realität: Der Wohnraum ist kaum mehr finanzierbar und die Lohnarbeit so schlecht bezahlt, dass ein Job nicht mehr reicht, um über die Runden zu kommen. Für alle jene, die bereits am Arbeitsmarkt aussortiert wurden, warten die Demütigungen des Jobcenters oder des Sozialamts in Zeiten von Hartz IV. Angesichts dieser sozialen Verwerfungen besteht seit Jahren Verwunderung, warum es in Zeiten kontinuierlich ansteigender sozialer Ungleichheit und demokratiebedrohender Reichtumsverteilung emanzipatorischer linker Politik nicht gelingt, an politischer Relevanz zu gewinnen, sondern ganz im Gegenteil, die extreme Rechte mit ihrem autoritären Führerpopulismus weltweit punktet. Die Gesellschaft schafft sich ab, indem sie selbst nicht mehr an die Idee von Gesellschaft glaubt. Begriffe wie Solidarität verkommen zur hohlen Phrase einer radikalen Linken, die irgendwo zwischen autonomem Schrebergarten und angestaubten Slogans mäandert. »Was tun?« bleibt die Frage aller Fragen.
        Hier setzt der Sammelband Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten der Herausgeber Peter Nowak und Matthias Coers an. In Interviews und Selbstreflexionen, entstanden in den Jahren 2015 bis 2019, porträtieren sie Suchbewegungen radikaler und autonomer linker Organisierungen im Stadtteil und wollen damit einen Beitrag zur Organisierungsdebatte innerhalb der Linken leisten. Entlang der Forderung »Solidarität muss praktisch werden« versuchen die im Buch versammelten AkteurInnen aus Deutschland, Polen, Griechenland und Spanien, Kämpfe um Wohnraum mit anderen Feldern des prekären Alltags zu verknüpfen. Schließlich steckt, wer seine Miete nicht mehr bezahlen kann, meist auch in prekären Arbeits- und Lebenssituationen mit Löhnen oder staatlichen Transferleistungen, die weit davon entfernt sind, die Lebenskosten zu decken. Der Stadtteil bildet den lokalen Anknüpfungspunkt an den Alltag, schafft Schnittmengen gemeinsamer Erfahrungswelten und ermöglicht den langfristigen Aufbau von Beziehungen und die Schaffung solidarischer Netzwerke.
        Das schließt an die Praxis des in den USA weit verbreiteten Transformative Community Organizing ebenso an wie an die Erfahrungen des sich weltweit ausbreitenden Neuen Munizipalismus, der Wege aufzeigt, wie institutionelle politische Macht in den Städten erobert und für emanzipatorische Ziele genutzt werden kann. Interessante Einblicke zum Aufbau der notwendigen Strukturen geben zwei Interviews aus Spanien: Carlos Macias, Sprecher der PAH Katalonien, nennt die Strategie der »kollektiven Beratung« das »Herz der PAH«. Unter dem Eindruck von 600.000 Zwangsräumungen als Folge der Wirtschaftskrise bei gleichzeitig 3,5 Millionen leerstehenden Wohnungen, organisierte die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (Plattform der von Hypotheken Betroffenen) mittels kollektiver Hilfe-zur-Selbsthilfe-Treffen solidarischen Widerstand gegen Zwangsräumungen und direkte Aktionen in Bankfilialen, bei Politik und Verwaltung. Parallel entwickelte die PAH in verschiedenen selbstorganisierten Arbeitsgruppen politische Forderungen und Gesetzesvorlagen, Strategien für Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen. Insgesamt geht es bei der PAH »sowohl um individuelle Lösungen für Betroffene als auch kollektive politische Lösungen«. Wie die Arbeit der PAH und anderer zivilgesellschaftlicher AkteurInnen innerhalb der Institutionen weitergetragen werden kann, erläutert Josep Maria Manta- ner. Der Senator für Wohnen in Barcelona, also jener Stadt, in der Ada Colau in ihrer bereits zweiten Amtsperiode als Bürgermeisterin der linken Wahl-Plattform Barcelona en Comú neue emanzipatorische Wege des Regierens beschreitet, bezeichnet das Ziel der linken Plattform »einen Umverteilungs-Urbanismus zu schaffen, der die Stadt ausbalanciert«.
        An diesen zwei Positionen wird auch eine kleine Schwäche der Publikation deutlich. Der Zeitraum der Gespräche erstreckt sich über fünf Jahre und eine Aktualisierung durch Anmerkungen der Herausgeber wäre gerade bei den älteren Texten wünschenswert gewesen. Auch eine den Interviews und Selbstbeschreibungen beigefügte Infobox würde dabei helfen, das geteilte Wissen besser einordnen zu können. So bleibt nur eine URL am Ende jedes Textes, um Näheres zu den Personen oder Initiativen zu erfahren.
        Eine Stärke der Publikation sind jedoch die mit großer Offenheit geführten Interviews und Selbstbeschreibungen, die Erfahrungen teilen, Fragen aufwerfen, Probleme in der politischen Arbeit klar benennen und nichts zu beschönigen versuchen, etwa wenn die Berliner Stadtteilinitiative Hände weg vom Wedding bisherige linke Organisierungsbestrebungen analysiert: »Inhalte und Diskussionsformen unserer Organisationsform, wie beispielsweise akademisierte Sprache, ausufernde Plenarsitzungen und eine Überbetonung der eigenen, individuellen Meinung stellen weitere Hemmnisse dar. Die Anschlussfähigkeit für Menschen, die nicht Anfang bis Ende 20 und ungebunden sind, im besten Fall aufgrund eines Studiums Zeit haben, sind schlichtweg nicht gegeben.« Gleichzeitig offenbaren die verschiedenen Ansätze den weit vernetzten Erfahrungs- und Wissensaustausch. So haben sich etwa Hände weg vom Wedding beim Aufbau ihres Kiezhauses Agnes Reinhold explizit vom kurdischen Rojava und seinen Strategien inspirieren lassen. Zahlreiche der porträtierten Stadtteil-Initiativen aus Deutschland, Polen, Griechenland, Spanien oder den USA berichten über ihren kontinuierlichen Erfahrungsaustausch im Aufbau von solidarischen Netzwerken, untereinander und international. Insgesamt zeigt die Gesamtschau der versammelten Momentaufnahmen, dass sich die Wohnungsfrage längst mit anderen Themen verknüpft. Der Fokus der Organisierungen wandert dabei von temporären Großevents in Richtung Aufbau von langfristigen solidarischen Strukturen mit gesellschaftlicher Breite. Gut so, wir werden sie brauchen.


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