Jochen Becker

Jochen Becker ist Autor, Kurator und Dozent in Berlin. Er ist Mitbegründer von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten.


Die außergewöhnlichen 73 Tage der Pariser Commune sind nicht zuletzt Folge des von Preußen angezettelten Deutsch-Französischen Kriegs, aus dem in Folge sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite ein Nationalstaat entstand. Das bislang bäuerliche und vielsprachige Geflecht in Frankreich wuchs zu einer durch Industrialisierung und den Takt der Eisenbahn homogenisierten Nation, während Bismarck das zwangsgeeinte Deutsche Reich formte.
        Die kurze Zeit der Commune schlug große Wellen. Wirklich an ein Ende kam der ewige Kampf zwischen Deutschland und Frankreich wohl erst in den 1960er Jahren. Und zumindest das allgemeine Recht auf Bildung ist bis heute in Frankreich übriggeblieben, welches sich offiziell jedoch lieber an 1968 denn an den blutig niedergeschossenen Aufstand von 1871 erinnern möchte: Denn nicht die preußischen Truppen waren der wirkliche Feind der Kommunard*innen, sondern eine französische Regierung, die die hungrigen und wütenden Menschen von Paris ihrem Schicksal überließ und sich nach Versailles verzog.
        Auch in der Bundesrepublik findet 150 Jahre Pariser Commune vor allem auf der Literaturseite der Feuilletons statt. Zwei eher schlanke Publikationen von Kristin Ross sowie Detlef Hartmann und Christopher Wimmer beschreiten abseits der Geschichtsautobahnen neue Pfade. Während Hartmann und Wimmer die regionalen Kommunen von Lyon über die »industrielle Kommune« Le Creusot bis nach Algier als kaum enden wollende Abfolge von Revolten und Protesten der »Handwerker-Bauern« aufrufen, verfolgt die New Yorker Kulturwissenschaftlerin den langen Wellenschlag der Revolution entlang der Exilzeit geflohener Kommunard*innen und Zeitzeug*innen. Allerdings erinnern der Kölner Anwalt Detlef Hartmann und der Berliner Soziologe Christopher Wimmer daran, dass damals nur gebildete Schichten Lesen und Schreiben konnten. Somit sind zumindest die »Spuren ,der Straße‘ als Ort der Selbstorganisation der Aufständischen  weitgehend verweht« (Hartmann & Wimmer, S. 115).
        Während das Buch von Hartmann und Wimmer ganz Frankreich aufsucht, die Wucht des Eisenbahnbaus beschreibt und dabei auch kurz Haussmanns radikalen Stadtumbau von Paris streift, liest Ross die Commune in ihrer doppelten Verortung. Also gleichsam gefangen innerhalb der Festungsgrenzen von Paris und zugleich mit internationalen Auswirkungen, wenn etwa Karl Marx aus London die damals zwanzigjährige Journalistin, Feministin und Schauspielerin Elisabeth Dmitrieff als Berichterstatterin nach Paris entsandte, um an direkte Information zu gelangen. Im Sinne einer Mituntersuchung schloss sie sich den Barrikadenkämpfen an und war Mitbegründerin der Union des Femmes. Nur Tage nach dem blutigen Ende der Commune veröffentlichte Marx seinen Text Der Bürgerkrieg in Frankreich in mehreren europäischen Sprachen.
        Paris als Zentrum des französischen Kolonialimperiums war zur Zeit der Kommune längst schon eine internationalisierte Stadt. Ross stieß auf Erinnerungen der anarchistischen Lehrerin Louise Michel, die mit einem zur Commune übergetretenen Zuaven (nordafrikanischer Söldner) Wache schob. Als algerischer Berber hatte der Soldat zuvor für Frankreich im Krieg gegen Preußen gedient. Der Übertritt zu den Kommunarden – als Soldat des innerfranzösischen Gegners, und als Schwarzer Berber aus dem kolonisierten Algerien – kündet von der Kommune als Befreiungs- und Emanzipationsbewegung. Zuhause nutzte die algerische Commune den Abzug französischer Truppen in den europäischen Krieg für ihre antikolonialen Attacken. Zurück in Paris, erfuhren die dortigen Kommunard*innen am eigenen Leib, wie brutal die Kolonialsoldaten gegen ihre Feinde vorgingen: »Soldaten, die in Algerien jahrelang Dörfer niedergebrannt und Stämme massakriert haben, sind auch dazu fähig, in den Straßen unserer Städte ein Blutbad anzurichten«, so der Kommunarde Benoît Malon, denn »alle Generäle der Versailler sind durch diese Schule gegangen« (Ross, S. 47). Später trafen Kommunard*innen aus Paris mit Aufständischen aus Algerien in der gemeinsamen Verbannung in der ozeanischen Kolonie Neukaledonien zusammen.
        Die Versammlungen der Commune waren »Schulen des Volkes«, von »Bürgern, die vorher größtenteils noch nie miteinander gesprochen hatten«, so der Kommunarde Élisée Reclus. Hierbei bildete sich das Recht zu sprechen beschleunigt heraus. Die Treffen fanden als fix situierte Klubs statt, waren aber auch ambulant. Man traf sich Woche für Woche an anderen Orten, zog quer durch die Stadt und verbreitete so die Debatten. Öffentliche Plätze und die zahlreichen Barrikaden boten den Akteuren einen Versammlungsort und den Hinzukommenden einen Stützpunkt.
        Die Vollversammlung der Kommunard*innen, unter dem Druck der Einschließung und der Entschlossenheit zum gemeinsamen Kampf vollzogen, benötigte vielfältige Abstimmungsprozesse. Erfahrene Kämpfer*innen trafen auf junge Arbeiter*innen, Frauen auf politische Flüchtlinge aus London und Nordafrika, Brüssel oder Genf. Dennoch war dies für Hartmann und Wimmer »nicht die Abwesenheit einer Regierung, sondern die Anwesenheit einer schwachen Regierung. Schwach aufgrund der internen Diskussionen, Konflikte und Debatten, die sie weiter von den Basisorganisationen und den Menschen in den Vierteln entfernten, die eben nicht von oben regiert werden wollten.« Dennoch konnten einige tiefgreifende Erlasse zu Beschäftigung, Bildung und Gleichstellung beschlossen werden, bis die existenzielle Verteidigung der Stadt alle Kräfte band und die militärische Logik Überhand gewann.
        Die Kommune gestaltete sich gezwungenermaßen als eine urbane Revolution: »Sie wird blockiert, im Stich gelassen, belagert und bombardiert; sie wird ihre eigene Geschichte haben. Sie bildet eine isolierte Welt, gleichermaßen isoliert durch den sie umgebenden Ring aus Feuer wie durch den sie beseelenden Geist«, zitiert Ross den Kommunarden George Jeanneret. Als »Laboratorium für politische Erfindungen« widmet Ross den emanzipativen Zusammenschlüssen der Frauen sowie der autonomen und angewandten Künste mit dem präindustriellen Handwerk große Aufmerksamkeit. Denn im Manifest der Fédération des artistes forderten die Arbeiter-Künstler den gemeinschaftlichen Luxus für alle.


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