Catarina Proidl


Dynamik und Geschichte

Die Wien stellt naturräumlich betrachtet einen furkierenden Fluss dar, d.h. ein starker Geschiebetrieb und mittleres bis hohes Gefälle führen zur Ausbildung eines verzweigten Gerinnes mit hoher Variabilität. Die Flussmorphologie ist sehr stark durch ständige Umlagerungsprozesse geprägt. Durch die geologischen Untergrundverhältnisse in seinem Einzugsgebiet entspricht die Wien einem Wildfluss, der im Hochwasserfall auf das 2000fache seiner Wasserführung anschwellen kann. Sein Verlauf durch das gesamte westliche Stadtgebiet stellte schon frühzeitig eine Gefahr für Siedlungsflächen dar. Im Zuge der Stadtausdehnung wurde die Hochwassergefahr durch näher liegende Siedlungsbereiche verschärft. Die Urbanisierung machte den Wienfluss zum Abwassersammelgerinne. Hygienische Probleme waren die Folge. Durch das anhaltende Stadtwachstum verschärften sich die Probleme im Wiental. Die Stadtregulierung der Gründerzeit hat die Stellung des Wientals als Ver- und Entsorgungslinie in den Westen der Stadt nachhaltig festgelegt. Stadthygienische Überlegungen (Choleraepidemien) führten zur Errichtung der Abwasserkanäle beidseitig des Wienflusses, die noch heute Überläufe in den Fluss besitzen. Ursprünglich blieben weite Fläche aufgrund der Flussdynamik frei von Siedlungstätigkeit. Dieser Raum konnte für die moderne Verkehrserschießung der Jahrhundertwende (Stadtbahntrasse, Wienzeilen) genutzt werden. Der Flussraum wurde parallel zur Stadtbahn in ein Kastenprofil gelegt, eingetieft und auf eine Breite von ca. 25m beschränkt. Das Herzstück des Hochwasserschutzbauwerkes Wiental bilden die Retentionsbecken in Auhof, die eine Reduktion des Abflussprofils auf 25m erst ermöglichten. Um die Stadt nachhaltig vor Hochwasser zu schützen, hat Otto Wagner sieben nacheinander geschaltete Retentionsbecken so konzipiert, dass sie die Hochwasserspitze aufnehmen und dosiert abgeben. Die Gesamtkonzeption ist auf ein 100jähriges Hochwasser ausgelegt gewesen. Aus heutiger Sicht beeindruckt vor allem die Gesamtkonzeption mit starren Überläufen. Trotz einfacher Mittel wurde eine hohe Effizienz erreicht, die viel über das Verständnis der Zusammenhänge am Wienfluss vermuten lässt.

Handlungsbedarf 100 Jahre später

Aufgrund anstehender Sanierungsarbeiten sowohl der Sohlbefestigung im Wienflussgerinne als auch an der Trennmauer zur U-Bahn sind weiterführende Überlegungen zum Hochwasserschutz und zur Modernisierung des Abwassersammelsystems im Wiental in den Vordergrund getreten:

  • Zwei Bäche des Lainzer Tiergartens fluten bei Hochwasserereignissen hintere Rückhaltebecken, die im Extremfall nicht mehr die volle Retentionswirkung übernehmen können.
  • Die Kapazität der Kläranlage in Simmering ist bereits an ihren Grenzen angelangt, nicht zuletzt auch durch die Überlastung aus den Mischkanalsystemen.

Bewegliche Wehreinbauten in das starre Beckengefüge Wagners sollen ein gesteuertes Freihalten der nötigen Kubaturen für den Extremfall sicherstellen. Anstehende Sanierungsarbeiten der Wientalsammelkanäle sollten beim Umbau in ein Trennsystem durchgeführt werden. Fortan soll auch ein Einleiten ungeklärter Abwässer in den Wienfluss unterbunden werden. Wenn nun schon großräumige Umbauten im gesamten Wientalbereich anstehen, bietet sich die Möglichkeit, den hart regulierten Flussraum und die Retentionsräume naturnahe auszugestalten und auch als Erholungsraum zur Verfügung zu stellen. Letztere Überlegungen sind immer unter vorrangiger Betrachtung des Hochwasserschutzes und des Kanalumbaus zu sehen, die bei jeglichen Umgestaltungsmaßnahmen Priorität haben.

Stadtraum und Flussraum

Die besondere Herausforderung der Restrukturierungsüberlegungen im Gesamtverlauf des Wienflusses ergibt sich aus der Lage des Flusses im Stadtraum. Die Wien führt durch unterschiedlich weit entwickelte urbane Strukturen (von Hütteldorf bis in die Innere Stadt). Je nachdem wechseln Charakter und Nutzungsanspruch an den umgebenden Stadtraum, und somit an ein Gewässer in seinem städtebaulichen Kontext. Vor dem Hintergrund des städtebaulichen und naturräumlichen Umfeldes macht es Sinn, dem Wienfluss dort Naturnähe zuzugestehen, wo noch ausreichend Raum für natürliche Prozesse eines furkierenden Flusslaufes vorhanden ist. Das betrifft die Flächen der Rückhaltebecken zwischen Westautobahn und Bahntrasse, die dort eine Breite bis zu 250m erreichen.

Planung und Baumaßnahmen im Bereich Auhof

Die Konzeption des Restrukturierungsprojektes hat sich an historischen Kartendarstellungen und den Rahmenbedingungen der Beckenabfolge orientiert. In Hinkunft wird der Wienfluss bis zu einem zweijährigen Hochwasser durch die Retentionsbecken geführt und diese als Flusslandschaft prägen. Damit soll natürlichen Umlagerungsprozessen im Rahmen des Hochwasserschutzes Raum gegeben werden. Erst bei stärkeren Hochwasserereignissen wird die Retentionswirkung der Rückhaltebecken in Anspruch genommen. Alle anderen Hochwässer werden über den Verlauf des Mauerbaches abgeführt. Bauliche Eingriffe für den neuen Flussverlauf erfolgten nur im unbedingt erforderlichen Ausmaß. Die Bauarbeiten beschränkten sich auf Eintiefungen der künftigen Gerinne innerhalb der Becken auf den tiefsten Stellen des Beckenbodens. Störsteine initiieren eine Dynamik, die in der Folge durch die Wasserführung selbst weiter gesteuert wird. Gegenwärtig sind die Bauarbeiten in den Retentionsbecken und an den Wehrbauten nahezu abgeschlossen. In diesem Bereich kam auch die Baustelle des »Lainzertunnels« zu liegen. Dadurch wurde im vergangenen Jahr eine Umleitung des Wienflusses nötig. Derzeit ist die Geländeoberfläche plangemäß wiederhergestellt und es besteht keine weitere Beeinträchtigung des Flussverlaufes. Seit Sommer 2000 fließt der Wienfluss durch die Retentionsbecken. Die erwarteten Veränderungen sind bisher nur in geringem Ausmaß bzw. bereichsweise eingetreten; dies vor allem aufgrund der niedrigen Wasserführung des vergangenen Jahres. Ein begleitendes Monitoring (Evaluierung des Erfolges von Revitalisierungen im Wiener Schutzwasserbau, Testgebiete Wienfluss und Mauerbach, 1999-2001) zeigt zum gegenwärtigen Stand trotzdem auf, dass insbesondere im Vorbecken des Wienflusses die erwünschte Entwicklung tatsächlich stattfindet. Die Flussdynamik und damit die Differenzierung der unterschiedlichen Lebensräume tritt hier am stärksten zu Tage. Dieser Bereich ist dadurch begünstigt, dass er die erste Aufweitung des Flusslaufes darstellt, wo das Geschiebe ablagert werden kann. In diesem Abschnitt sind die Ausgestaltungsmaßnahmen auch am längsten abgeschlossen. Flächenhafte Dynamisierung der Lebensräume im gesamten Beckenbereich ist bisher nicht eingetreten. Ein Ansteigen der Artenzahlen im Flussbett und in den Uferbereichen des Hauptgewässers ist zu beobachten. Hier sind entsprechende Wassertiefen erreicht worden. Die erwünschte Dynamik findet dort statt, wo offene Schotter- und Schlickflächen neue Lebensräume bieten. Die geringe Strömungsgeschwindigkeit in den hinteren Wasserbecken und die jahrzehntelang absedimentierte Schlickdecke verhindern gegenwärtig noch den flusstypspezifischen Zustand in diesen Bereichen. Das belegen die Vegetationsentwicklungen, die im Sommer das Vordringen der Schilfbestände auf Kosten der Flutrasen- und Fließgewässerröhrichte aufzeigten (KORNER, 2000). Eine Chance zur flusstypspezifischen Ausgestaltung bringen die ausgedehnten Schotterflächen der Tunnelbaustelle, die den natürlichen Substratverhältnissen am Wienfluss sehr nahe kommen. Generell ist ein schnelles Besiedeln mit an Schotterfluren und Fließgewässern gebundenen Arten festgestellt worden (z. B. Große Zyperngrassegge (carex pseudocyperus), Grün-Alpendost (Adenostyles glabra)). Genau diese Standorte werden auch in Hinkunft über den flusstypspezifischen Zustand des Wienflusses im restrukturierten Abschnitt der Retentionsbecken entscheiden. Hier wird es darauf ankommen, wie weit eine Dynamik - d.h.: Geschiebeanlandung bzw. -abtransport sowie Verlandungstendenzen der Schotter- und Schlickflächen - zugelassen wird. Einen wesentlichen Aspekt stellt auch die Geschiebezufuhr aus dem Oberlauf dar. Bisher sind angelandete Schotterflächen aus Hochwasserschutzgründen aus dem Fluss entnommen worden. Darüber hinaus wird die tatsächliche Wasserführung in den Becken entscheidend sein.

Ökologie versus Erholung

Diesen neu geschaffenen Naturbereich am Westrand Wiens als Teilstück eines Grüngürtels auch für Erholungszwecke aufzufassen, scheint nahe liegend. Die Flusslandschaft der Wien bietet gerade im Zusammenhang mit der Hochwasserretention und der Wehranlagen viele Anreize. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Erholungssuchende (inklusive Hunde) sich nicht nur auf den Querverbindungen der Wehrmauern bzw. Trennmauern aufhalten werden, sondern die Beckenbereiche auch von der Geländeoberfläche erleben möchten. Hier wird noch eine Prioritätenreihung zwischen zwei Grundhaltungen notwendig sein: Das ist zum einen die Wertigkeit des Naturraumes als Lebensraum für Pflanzen- und Tierarten und seine Belastungsgrenzen durch eine Erholungsnutzung; zum anderen der Erholungsraum in einem durch stadtnahe Erholung beanspruchten Flussraum ohne Anspruch auf Naturschutz.

Stadtgestaltung versus Revitalisierung

Die Gesamtkonzeption des Otto-Wagner-Projektes betont die Linearität des Talraumes durch Straßen, Stadtbahntrasse und Flusskanal. Eine Weiterentwicklung dieser Idee für den beschränkten Flussraum mit ebenfalls linearen Funktionslinien des getrennten Radweges und Fußweges im bestehenden Kastenprofil des Flusses im Gesamtverlauf stößt bei genauerer Betrachtung an ihre Grenzen. Der restrukturierte Bereich des Flusslaufes müsste wegen Rad- und Fußwegbreiten und deren Höhenabstand vom Mittelwasser auf 10-12m Breite reduziert werden. Will man dem Fluss mehr Raum geben, können Flächen nur auf Kosten der Uferbereiche gewonnen werden, die gerade hier eine wesentliche ökologische Funktion übernehmen würden. Bereichsweise wird das Flussprofil zusätzlich vom Kanalbauwerk eingeengt und lässt wenig Spielraum für gestalterische Lösungen der unterzubringenden Funktionen. In der Einwölbungsstrecke unter dem Naschmarkt und dem Karlsplatz verschärfen sich zudem Sicherheitsaspekte (Hochwasserwarnsystem, Angstraum, Fluchtmöglichkeiten,...). Die Tieflage vor rund 100 Jahren hat den Fluss als stadtprägendes und wahrnehmbares Element - das er seit alters her gewesen ist – von der Oberfläche verbannt. Will man nun den Fluss wieder ins Bewusstsein zurück rücken, werden bereits verschiedenste Möglichkeiten geboten: Von Schulausflügen über Eventveranstaltungen im Rahmen des »Festes der Flüsse« bis zu Stadtführungen durch das Kanalnetz. Diese für das Verständnis eines Flussraumes wesentlichen Veranstaltungen ersetzen allerdings nicht eine profunde stadtplanerische und stadtgestalterische Auseinandersetzung im Zuge von großräumigen Umgestaltungsmaßnahmen. Aus stadtplanerischer, stadtgestalterischer und freiraumplanerischer Sicht erscheint es wesentlich und als Aufgabe auch spannend, den Flussraum in seinem städtebaulichen Kontext zu erfassen und für den jeweiligen Bereich behutsam aber zeitgemäß weiterzuentwickeln. Hierbei wäre in Anlehnung an Otto Wagners Gesamtprojekt der durchgängige rote Faden nacheinanderfolgender Bereiche mitzudenken. Das trifft insbesondere für Stadtinnenbereiche zu, wo eine andere konzeptionelle Auseinandersetzung und Materialsprache gefragt ist, als in den gründominierten Außenbereichen der Stadt.


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Literaturliste

Interdisziplinäre Arbeitsgruppe I.A. DER MA 45: Evaluie-rung des Erfolges von Revitalisierungen im Wiener Schutzwasserbau, 1999-2001, Jahresbericht 2000

Korner; ARGE Vegetationsökologie und angew. Naturschutzforschung i.a. der MA 45: Evaluierung des Erfolges von Revitalisierungen im Wiener Schutzwasserbau, Testgebiete Wienfluss und Mauerbach 1999-2001, Fachgebiet Vegetation, Jahresbericht 2000

Österreichischer Wasser- und Abfallwirtschaftsverband (Hg.): Seminar "Fließgewässer in der Stadt – neue Freiräume für den Menschen”, Tagungsunterlagen, Salzburg Oktober 1998

Neukirchen/Oberhofer i.A. MA 45: Hochwasserrückhalteanlagen für den Wienfluss, Retentionsbecken Auhof, Ausführungsprojekt 1997