» Texte / Die Normierung der alltäglichen Unmenschlichkeit

Irene Bittner

Irene Bittner forscht zu städtischen Freiräumen am Institut für Landschaftsplanung, BOKU Wien und bewegt sich im interdisziplinären Kontext zu Stadtsoziologie und Sportwissenschaft.


Die Welt ist alles, was Normierung ist. Der Nachweis dieser womöglich überspitzt formulierten These ist mit Theo Deutingers Handbook of Tyranny der Fall. Und darüber sollten wir im vielbeschworenen postdemokratischen Zeitalter sprechen und nicht länger schweigen: Das Handbuch – eine Mischung aus Weltatlas und Katalog für Detailkonstruktionen – entlarvt in über 900 kommentierten Grafiken die vielschichtigen Auswirkungen der gebauten Sicherheits- und Abschottungspolitiken auf unsere 
persönlichen wie gesellschaftlichen Bewegungsfreiheiten. Von der weltweiten wie nationalstaatlichen Ebene über die stadträumliche Ebene bis hinein ins private Eigenheim reichen die Auswirkungen der Kontroll-, Überwachungs- und Sicherheitstechniken, die unser Alltagsleben zunehmend mehr tyrannisieren als schützen – so der eindrückliche Spannungsbogen 
der Publikation.
Das Handbuch beginnt mit einem politischen Atlas über Kolonialisierung und den damit zusammenhängenden aktuellen nationalstaatlichen Aus- und Abgrenzungen: Im Kapitel Free Entry wird in kleinen Weltkarten ein grafischer Vergleich der stark unterschiedlich geregelten visafreien Einreisemöglichkeiten einzelner Länder in den Rest der Welt unternommen. Nachdem die 
globale Dimension der Tragedy of Territory schwarz auf weiß erfasst ist, werden im Handbuch die weltweit angewandten »baulichen Maßnahmen« – wie die derart gewaltig(tätig)en Abschottungsbauwerke 2015 von einer österreichischen Ex-Innenministerin verschleiernd benannt wurden – minutiös aufgezeichnet: Zäune, Mauern, Schranken und Gräben zur Sicherung von Staatsgrenzen. Genauso passiert es mit deren Gegenwaffen, die in diese Art der Festungen eindringen oder sie überwinden können. Sie werden in unzähligen, der Realität entnommenen Varianten als schematische Detailzeichnungen dargestellt, bemaßt und beschriftet. Und genau darin besteht der Unterschied des Handbuchs zur gegenwärtig verschleiernden, vermeintlich entpolitisierenden Sprache der Regierenden: Deutingers nüchterner Katalog der gebauten Sicherheitspolitiken verkehrt in scheinbar neutralen Schnittdarstellungen, so wie es die Grafiken der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert einst suggerieren sollten, in ihr Gegenteil und zeigen, dass der Tyrannei der Normierung in ihrem technischen Erfindergeist keine Grenzen mehr gesetzt werden. Deutingers Zeichnungen sind damit Kippbilder einer so gut wie alle Lebensbereiche umspannenden Normierungs-, Sicherheits- und Kontrollwut, die besonders auch vor den öffentlichen Räumen der europäischen Städte keinen Halt macht. Das Kapitel Defensive City entschlüsselt beispielsweise in einem Straßenprofil sowie in zahlreichen Konstruktionsdetails, wie Stadtmöblierung Unwanted Behavior verhindert: Poller, Beleuchtungskörper inklusive entsprechender Lichttemperatur, Überwachungskameras, Anti-Graffiti-Fassaden, Stacheln auf Mauervorsprüngen bzw. zu kurze, abgerundete oder mit Armlehnen in der Mitte versehene Bänke verhindern ein komfortables Sitzen oder Liegen. Der öffentliche Raum wird unbequem, gemütliches Verweilen gleicht einem Verbrechen ohne gesetzliche Grundlage. »One strategy is difficult to illustrate, since it is a strategy of absence – for example, the absence of the bench. To remove benches entirely from public spaces has proven to be much more effective against unwanted behaviour than any anti-homeless, anti-skating or anti-loitering design.« (Deutlinger, S. 86)
Das Haus der Architektur Graz (HdA) hat dem Handbook of Tyranny eine Ausstellung gewidmet, die den BesucherInnen nicht nur auf Schautafeln ausschnitthaft die Illustrationen zeigt, sondern die Thematik durch die Ausstellungsarchitektur auch am eigenen Körper – am menschlichen Maß – nachvollziehbar macht. Das beginnt bereits an der Fassade: Die sonst großen, einladenden Schaufensterflächen des Palais Thinnfeld, wo das Grazer Haus der Architektur untergebracht ist, wurden mit Sperrholzplatten verriegelt. Auch der sonst durchlässig zur Kassa und Bar hin offen gehaltene Ausstellungsbereich im Inneren des Palais ist mit Holzplatten verriegelt und nur über einen kleinen Eingang zu betreten. Am Boden sind die erschreckend kleinen Mindestmaße von Gefängniszellen in unterschiedlichen Ländern zwiebelschalenartig rund um einen Tisch mit einem Ansichtsexemplar des Handbuchs am Boden abmarkiert. Am Ende des Streifzugs durch Deutingers Handbuch im HdA ist ein dunkles Büro ohne Tageslicht eingerichtet. Darin befindet sich ein Computerarbeitsplatz mit zwei großen Bildschirmen, auf denen eines der gängigsten Software-Programme für Detailkonstruktionen im Architektur- und Designbereich mit Beispielen aus dem Handbuch läuft. Diese abschließende Installation der HdA-Ausstellung macht eine weitere Ebene sichtbar und stellt damit die Frage: Ist der Schreibtisch der ArchitektInnen, DesignerInnen und IngenieurInnen zu einem Tatort der Unmenschlichkeit geworden?


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