Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Bei Archigram the Book handelt es sich um ein schwergewichtiges Coffee-Table-Buch. Auf rund 300 Seiten taucht man in die Parallelsphäre ein, die von der legendären Avantgardegruppe, die zwischen 1960 und 1974 tätig war, entworfen wurde. Berühmt wurden die sechs Architekten, von denen vier heute noch leben, hauptsächlich durch die Herausgabe ihrer legendären Magazine. Die damaligen Entwürfe, Architektur- und Stadtvisionen, Modelle und Masterpläne sind in der vorliegenden Publikation als Faksimile zu sehen. Texte von damals werden durch aktuelle Reflexionen ergänzt, bei denen auch KritikerInnen und WegbegleiterInnen zu Wort kommen. Die Innenansicht wird durch eine Außenansicht ergänzt. Eindrucksvolle Zeichnungen, Comics, Fotomontagen und Collagen lassen eine alternative, mitunter schrill bunte Parallelwelt entstehen, die von der damals erstarkenden Konsumkultur ebenso geprägt war wie von der Weltraumtechnik der NASA, von Science-Fiction-Literatur und Popkultur. Archigram verstanden sich als so etwas wie die Beatles der Architekturavantgarde. Auch in der Kunstgeschichte wurden Anleihen genommen. Neben PopArt-Referenzen ist ein Hang zum Surrealismus spürbar. Peter Cook und seine Kollegen ließen gerne Comichelden wie Superman oder Raumfahrer auftreten. Selbst vor Coca Cola schreckte man nicht zurück. Was die Mitglieder dieser Architekturband vereinte, war nicht zuletzt eine bestimmte Art von Humor. Die Protagonisten von Archigram waren weniger an radikaler Kritik der bestehenden Verhältnisse interessiert, vielmehr ging es ihnen um Ironie und Subversion. Den technologischen Fortschritt sah man als Chance, nicht als Bürde. Die Architekturen von Archigram setzten früh auf High-Tech und Leichtbau. »The poetry of bricks is gone« wurde ein bekannter Slogan der Gruppe. Alles sollte mobil und dynamisch im Wandel sein. So war Archigrams Plug-in City als modulare, veränderbare Megastruktur konzipiert. Die Verwandtschaft zum japanischen Metabolismus wird da überdeutlich. Aus heutiger Sicht immer noch interessant ist vor allem das Einbeziehen der NutzerInnen in die Entwürfe. Deren Sehnsüchte und die daraus resultierenden unvorhersehbaren und nicht planbaren Änderungen der Raumstruktur sollten eine zentrale Rolle spielen. Man opponierte gegen die starren Dogmen der modernen Architektur, deren eng gesetzten Funktionalismus Archigram wohl als paternalistischen Zugriff auf die Gesellschaft verstand, und legte sich bewusst mit dem akademischen Mainstream an.
Die jungen Architekten rebellierten gegen das Establishment, wenn auch auf ihre charakteristisch sanfte, poetische Weise. Als Utopisten standen sie für eine fröhliche Wissenschaft. Man wollte endlich raus aus dem Mief der 1950er-Jahre, der bis weit in die 60er hinein wehte. Doch radikale Kritik am Zeitgeist und Status quo war nicht, worum es Archigram ging. Zu sehr war man selbst in die Konsumkultur und den Zeitgeist verstrickt. Archigram war links, aber nicht allzu links. Die neuen Räume und Praktiken, die man entwarf, sollten ein emanzipatorisches Potential entfalten, aber eine Revolution der Verhältnisse nahm man nicht ins Visier. Die radikale Kritik der Situationisten an der Spektakelgesellschaft machte man sich nicht zu eigen. Peter Cook, das Sprachrohr der sechs hat selbst immer wieder auf eine liberale Tradition verwiesen, der sich die Gruppe verpflichtet fühlte. Die gewachsene Stadt sollte – sympathischerweise – in ihren Konzepten nicht ausgelöscht und durch die Utopie ersetzt werden. Archigram distanzierte sich vom Kahlschlag und einer Tabula-rasa-Ideologie. Ihre aus Versatzstücken zusammengesetzten Architekturutopien wurden in Collagen mit der existierenden Stadt überblendet. Vergangenheit und Zukunft sollten kommunizierende Gefäße sein. Die Realisierung der Projekte war nicht das primäre Ziel, wenngleich die Gruppe immer betonte, dass ihre Entwürfe 1:1 umsetzbar seien. Dennoch war die Walking-City irgendwo zwischen Comics, Polemik, Komik und Technikfantasie angesiedelt. Statt zu bauen begann man zu unterrichten und wurde so über die Jahre selbst Teil des akademischen Establishments. Die glorreiche Vergangenheit wurde gerne mythologisiert und die jeweilige Gegenwart als Enttäuschung wahrgenommen. Dieses Dilemma teilt Archigram mit anderen ProponentInnen der 68er-Generation. Später wurde dann doch gebaut. Peter Cooks Grazer Kunsthaus ist dafür ein prominentes Beispiel. Von der Utopie scheint da nur die Form übriggeblieben zu sein. Die Blob-Architektur entpuppt sich beim genaueren Hinsehen nämlich als erstaunlich konventionelles Gebäude. Aber das hat vielleicht nicht nur mit Pragmatik, die mit der Realisierung einhergeht, zu tun. Die Archigramgruppe war in ihren Ansätzen immer schon zwischen Oberfläche (Pop) und Inhalt hin- und hergerissen. Ein ausgeprägter Formwille kann ja einer Offenheit und Flexibilität auch im Weg stehen. Die Architektur als Objekt wird dann zum Fetisch und der utopische Gehalt geht verloren.
Archigram the Book ist weit mehr als eine weitere Architekturpublikation. Es ist vor allem ein Zeitdokument. Heute scheinen wir weit davon entfernt zu sein, an die Umsetzbarkeit irgendeiner Utopie zu glauben. Die Fantasie an die Macht – dieser Slogan der 1960er-Jahre ist lange schon verhallt. Die Wiederbegegnung mit dem Charisma und dem Humor der Entwürfe von Archigram sollte wachrütteln.


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