» Texte / Die schulische Vermittlung kritischen (Raum-)Denkens

Antje Lehn

Antje Lehn ist Architektin und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Stadt als Wissensraum, der Raumwahrnehmung von jungen Menschen, emanzipatorischen Lernräumen und partizipativen Kartierungsmethoden.


Auf der 1929 veröffentlichten surrealistischen Weltkarte von Yves Tanguy folgen die Größen- und Lageverhältnisse der Landmassen nicht einer geometrisch-projektiven Logik, sondern einer subjektiv-künstlerischen Strategie, um eurozentrische Machtverhältnisse zu kritisieren. Auch Guy Debords psychogeographischer Plan von Paris dekonstruiert 1957 die Karte als Abbild der Wirklichkeit. Manifestationen der Kritischen Kartographie lösen seit Jahren Debatten über die gesellschaftliche Verantwortung der Geographie aus. Konventionen zu hinterfragen ist heute eine etablierte Strategie in der wissenschaftlichen Kartographie. Jedoch gerade in der Schule, wo Kinder und Jugendliche lernen, sich in der Gesellschaft und in ihren Räumen zu orientieren, scheint dieser Paradigmenwechsel nur verzögert anzukommen.
In ihrer Dissertation, die kürzlich unter dem Titel Urbanes Räumen erschienen ist, widmet sich die Autorin Romy Hofmann der wichtigen Rolle von Schulgeographie als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Sie analysiert den fachlichen und bildungspolitischen Diskurs zu Raumparadigmen im deutschsprachigen Raum, rekapituliert die theoretischen Grundlagen von Raumbegriffen und geht auf den Stand der Forschung zum Themenkomplex Raum, AkteurInnen, Aneignung und Konstruktionen ein. Die Arbeit untersucht das Verhältnis von Raum und Gesellschaft und beschäftigt sich mit der Frage, wie die differenzierte Beschreibung von Räumen nach physischen, strukturellen, subjektiven und konstruktivistischen Aspekten als Unterrichtsprinzip genutzt werden kann.
Konkret interessiert die Autorin, wie im Geographieunterricht den SchülerInnen kritisches (Raum-)Denken vermittelt werden kann. Hierbei ortet sie ein Potenzial für die Geographiedidaktik in den Thesen der Neuen Kulturgeographie, in der Räume über die Handlungen von Subjekten als Konstrukte erklärt werden. Aus diesem Ansatz entwickelt Romy Hofmann im Rahmen einer Fallstudie ein subjekt- und handlungsorientiertes Unterrichts-Setting, das die Perspektive von Jugendlichen mit einbezieht und diese ermuntert, sich über Wirklichkeiten auszutauschen und diese gemeinsam zu hinterfragen.
Im beschriebenen Unterrichtsprojekt sammeln SchülerInnen über Handlungen im (öffentlichen) Raum Erfahrungen von Macht und Ohnmacht bei der Raumproduktion. Anhand von Gruppendiskussionen, die nach der Dokumentarischen Methode analysiert werden, arbeitet die Autorin vier Schülertypen heraus: tradierend, emanzipierend, konventionalisierend und opponierend. Diese sollen vor allem die Hypothesenbildung zum Umgang Jugendlicher mit Raum erleichtern. Die Abgrenzung unterschiedlicher Typen ist zwar methodisch reizvoll, jedoch stehen die abgeleiteten typischen Verhaltensmuster in einem gewissen Widerspruch zur Diversität von Jugendgeographien. Erst in der Zusammenfassung wird das methodische Dilemma zwischen Subjektzentrierung und normierter Wissensvermittlung in der Institution Schule angesprochen.
Auf jeden Fall eröffnet das Buch interessante Perspektiven für zukünftige Forschung. Insbesondere wäre es spannend der Frage nachzugehen, wie das Prinzip der Multiperspektivität durch Einbeziehung künstlerischer Praktiken in den Geographieunterricht in der Schule vermittelt werden könnte. Es bedarf allerdings methodischer Offenheit und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel auch und gerade bei den Lehrenden, um über geographische oder künstlerische Methoden zu einem aufgeklärten kritischen Umgang mit dem Thema


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