Ursula Maria Probst


Das ImPulsTanz-Festival hat Wien diesen Sommer für einen Monat nicht nur durch seine (Ur)Aufführungen mit internationalen und lokalen Highlights, Workshops, Research-Projekten und einem Tanzcontest erneut zum Pulsieren gebracht, sondern richtet sich mit Outdoor-Klassen direkt an eine breitere Öffentlichkeit, die aktiv (unentgeltlich gegen Voranmeldung) oder passiv als Zuschauer*in Lust auf Tanzen hat. Jede/r ist willkommen.
        Stellen wir uns vor, die ganze Stadt tanzt: auf der Straße, auf allen Plätzen, in Parks und Innenhöfen, in U-Bahnen, Bahnhöfen und im Supermarkt, überall. Das klingt nach einem Urban-Dance-Musical oder einem Science-Fiction-Movie oder nach YouTube-Musikvideos, in welchen die Stadt zur Statistin wird. Musikbeschallung gibt es überall, vor allem in den kommerziellen Zonen der Stadt. Hintergrundmusik, genannt Muzak, wirkt umsatzfördernd. Tanzen fand bis dato meist in geschlossenen Räumen bei Tanzperformances, Workshops oder in Clubs statt. Das ändert sich nun: Queer Dance im Gemeindebau, Salsa, Bachate, Merengue oder Kizomba und andere Latin-Tänze bei der Schwedenbrücke, am Donaukanal, an der Neuen und Alten Donau. Die Outdoor-Tanz-Szenen wachsen. Tanz bedeutet Lebensfreude und gewinnt durch die Einschränkungen, körper lichen Anspannungen und psychischen Belastungen während der Pandemie durch seine gesundheitsfördernde Energie therapeutische Wirkung. Das darin steckende Potenzial hat auch ImPulsTanz erkannt und startete mit Unterstützung der Arbeiterkammer 2019 mit dem für alle gratis zugänglichen Workshop-Programm Public Moves. Barrierefrei, intergenerativ, ohne dass spezielle Tanzvorkenntnisse erforderlich sind, quer durch alle Altersgruppen tanzen 3- bis 80-Jährige miteinander Hip Hop, Virgin Vogue & Voguing, Bollywood, Improvisation, Afro-Haitianischen Tanz, Line-Dancing, Street-Jazz, Urban Dance wie auch House, New Jack Swing & Hype, Flamenco oder Funk Styles. Ein Mix von Tanzwütigen aus verschiedenen Soziotopen trifft aufeinander. Unter Anleitung von internationalen Tanz-Profis, Choreografinnen und Yoga-Trainerinnen fanden vom 5. Juli bis 4. August 2022 insgesamt 128 Outdoorklassen statt; diesmal an fünf Standorten: urban zentral am Haupteingang des MuseumsQuartiers oder an der Peripherie auf der Papstwiese im Donaupark, im Goethehof in Kaisermühlen am Kaiserwasser, bei der koptischen Kirche Maria-von-Zeitoun oder am Badeteich in Hirschstetten.
        Wie Tanz als soziales Band erlebt wird und dessen gesellschaftspolitische Funktionen thematisierte Ulduz Ahmadzadeh in ihrer Klasse. Im Kreis, in Linien, Trios, Duos und Solos tanzend werden Choreografien aus der persischen Hochebene und deren Bewegungen einstudiert. Der Goethehof in Kaisermühlen am Kaiserwasser zählte zu einem der Standorte von Public Moves und verlangte nach einem guten Navigator und/oder ausgeprägtem urbanen Instinkt, um aufgespürt zu werden. Fabiana Pastorini gab hier mit ihrer 75-minütigen Klasse Dance for Health einen Vorgeschmack wie durch Körperarbeit und Bewegungserfahrungen basierend auf Kinesiologie, Ballett, Modern Dance und afrikanischem Ausdrucktanz im Dialog mit verschiedenen Kulturen die eigene Bewegungs- und Körpererfahrung intensiviert werden kann, getreu dem Motto: »Ich tanze, also bin ich«. Der geschichtsträchtige Goethehof (als eine der letzten Bastionen des Widerstands gegen den austrofaschistischen Ständestaat während der Februarkämpfe 1934 war er heftig umkämpft), ein Gemeindebau im 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt, bot dafür ein besonderes Ambiente. Rund um die Tanzaktivitäten formieren sich Schaulustige. Für ImPulsTanz eine wirksame Promotion. ImPulsTanz setzt auf Kontinuität, mit dabei auch dieses Jahr Joe Alegado & Blanka Csasznyi mit ihrer Session Alegado Movement Language, die direkt vor dem Haupteingang des MuseumsQuartiers im urbanen Zentrum stattfand – ein Publikumsmagnet. Allerdings ein atypischer Ort für eine Choreografie, in der es darum geht, die Beziehung zur Erde zu festigen. Durch Gewichtsverlagerungen wird die eigene Bewegungsfreiheit erweitert und die Koordinationsfähigkeit trainiert. Im ›Urban Jungle‹ von Wien, in welchem sich besonders in der Innenstadt nach den Lockdowns die Menschenmassen tummeln, ein in alltägliche Abläufe des Stadtlebens integrierbares Training. Tanz und Bewegung als eine Form der Kommunikation in der Interaktion miteinander bot Movement as Communication von Raul Maia am Badeteich Hirschstetten. Indem verschiedene Arten von Bewegungssprachen erprobt wurden, konnten durch Tanz inspirierende Varianten der Interaktion spielerisch entdeckt werden. Auch im Tanz wird das Spiel zum Austesten empathischer Zugänge eingesetzt oder zur Stressbewältigung. Die Kunst, für Tanzstile wie Hip Hop mit karibischen Einflüssen zu begeistern, vermittelte Daybee Dorzile in ihrer Session Funktastic Jam durch Social und Funky Styles.
        Gegenüber den vergangenen Jahren fand Public Moves 2022 in abgespeckter Form statt. Der enthusiastische Andrang wirft die Frage auf, ob Tanzsessions mit Stadtbewohner*innen auch außerhalb der ImPulsTanz-Saison stattfinden könnten. Im Sinne der positiven gesundheitlichen Aspekte könnten solche Programme für Sozialversicherungsanstalten interessant sein. Entspannung im Anschluss an das aktive Training bot das Programm mit Stars der internationalen Tanzszene wie Anna Teresa De Keersmaker, Dada Masilo / The Dance Factory, Akram Khan, Ultima Vez / Wim Vandekeybus oder Jerome Bels Dances for an actress mit Jolente De Keersmaeker , die uns in eine nackte Eloquenz der Bewegung einführte. Die Choreografin Mathilde Monnier machte sich an die Aufarbeitung der durch die Lockdowns bewirkten Traumata und lässt sechs Tänzer*innen auf der Bühne in einen Rausch der Bewegungen fallen, indem sie sich der Allegorie des Totentanzes, des Danse Macabre, bedienen und mit freien Oberkörpern daran geknüpften ambivalenten Assoziationen freien Lauf lassen. Die gegenwärtige Klimakrise, Artensterben, Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit und Postanthropozän sind Themen des Stücks Hopeless von Sergiu Matis, dessen Spiel mit dem, was noch übrigbleibt, uns drastisch das Ausmaß der durch die Klimakrise verursachten Verluste vor Augen führt und dafür neue künstlerische Praktiken im Umgang mit Sprache und Körperlichkeit entwickelt.
        Tanz sonst sind wir verloren lautete einst der Titel einer Produktion von Pina Bausch, deren Tanztheater auch nach ihrem Tod als selbständiges Genre mit dem Tanztheater Wuppertal fortbesteht und deren Stück Vollmond die Wasserfontänen in Anspielung auf die Paradoxien des gegenwärtigen Lebens zum Überschwappen bringt. Etabliert hat sich mittlerweile als Plattform [8:tension] mit jungen Performer*innen wie Sara Lanner, Songi Griema oder Agnes Bakucz Canário. Der von der Künstlerin Elisabeth Tambwe initiierte Salon Souterrain: Bodies in Transformation lud zur Diskussion über Fragen ein wie: Was bedeutet es zu altern? Und: Können wir Veränderung feiern? Diversität ist hier nicht bloß ein Schlagwort. Für Akram Khan ist Tanz »Muttersprache und Religion«. Wie mit Tanz gegen Gewalt und Diskriminierung protestiert wird, zeigt die Initiative Tanz den Widerstand, die ebenfalls immer mehr Zuwachs erfährt.


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