» Texte / Die Stadt ins Werk setzen Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt

Klaus Ronneberger

Klaus Ronneberger, Stadtsoziologe, Schwerpunkt Stadt- und Raumplanung, Frankfurt


Im letzten Jahrzehnt hat die Forderung Recht auf die Stadt eine Renaissance erlebt. Unter dieser eingängigen Parole werden so unterschiedliche Themen wie Gentrifizierung, Privatisierung öffentlicher Güter oder Migrations- und Flüchtlingsbewegungen angesprochen. Im März 1968 – also kurz vor der Pariser Mai-Revolte – fordert der Philosoph Henri Lefebvre im Manifest Le droit à la ville erstmals das Recht auf Stadt ein. Diese Kampfschrift ist nun mit einem Vorwort vom Hamburger Künstler und Aktivisten Christoph Schäfer auf deutsch beim Nautilus Verlag erschienen.
Um die Bedeutung dieses Büchleins zu verstehen, bedarf es einer historischen Kontextualisierung: Ab den sechziger Jahren machen sich die negativen Auswirkungen des fordistischen Urbanisierungsprogramms nachhaltig bemerkbar: Der autogerechte Umbau der Städte, die Stadtflucht zahlungskräftiger Bevölkerungsgruppen in das suburbane Eigenheim, die Trostlosigkeit der neuen Trabantensiedlungen und die Verödung der Zentren werden von Lefebvre als »globale Krise der Stadt« wahrgenommen. Synchron zu dieser Entwicklung setzt auch eine Sanierung der kernstädtischen Altbaubestände ein. Im Fall von Paris organisiert man im Rahmen der rénovation urbaine den Abriss von Stadtquartieren, und die Mehrzahl der betroffenen BewohnerInnen wird einfach in die Peripherie umgesiedelt. Die Stadtsoziologie, damals vornehmlich an statistisch-empirischen Verfahrensweisen orientiert, zeigt wenig Neigung, solche Phänomene gesellschaftstheoretisch zu reflektieren. Viele SozialwissenschaftlerInnen lassen sich unkritisch auf Fragestellungen der Planungs- und Verwaltungsinstanzen ein, denen es um die Kontrolle und Beherrschung sozialer Prozesse geht.
Henri Lefebvre, zu jener Zeit vor allem als marxistischer Alltagssoziologe bekannt, gehört zu den ersten Vertretern der scientific community, die die fordistische Stadtentwicklung aus einer umfassenden theoretischen Perspektive zu analysieren versuchen. In Le droit à la ville bemüht er dafür so unterschiedliche Felder wie Philosophie und Kunst, um sich tastend der urbanen Problematik anzunähern. Natürlich sind die Jahrzehnte an dem Text nicht spurlos vorbeigegangen. Von Lefebvre heftig kritisierte Phänomene wie Funktionalismus oder Strukturalismus haben heute ihre Bedeutung als konzeptive Ideologien verloren. Auch die von ihm häufig beschworene Avantgarderolle des Proletariats bei der Verwirklichung einer urbanen Gesellschaft wirkt aus heutiger Sicht eher bizarr.
Dennoch sind einige seiner Thesen, die er in La révolution urbaine (1970) nochmals präziser und systematischer ausarbeitet, weiterhin von Bedeutung. So bilden für den Philosophen Industrialisierung und Verstädterung eine dialektische Einheit: Die Industrialisierung der Gesellschaft impliziert immer auch eine Urbanisierung. Ihre Dynamik führt zu einer Zusammenballung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln, welche wiederum den Ausbau städtischer Infrastrukturen vorantreibt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts breitet sich ihm zufolge ein »urbanes Gewebe« (tissu urbain) über die Landschaft aus. Sowohl die Stadt wie das Land werden Opfer der kapitalistischen Akkumulation. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von Explosion und Implosion. Die historische Stadt explodiert; ihre Trümmer werden weit hinausgeschleudert, und neue Randgebiete und Satellitenstädte entstehen. Implosion steht für die gleichzeitig stattfindende Aufwertung der Stadtzentren. Der frühere Stadt-Land-Gegensatz transformiert sich zu einem neuen Gegensatz, demjenigen zwischen Zentrum und Peripherie. Entscheidend ist die Behauptung Lefebvres, dass die Ausbreitung des »urbanen Gewebes« nicht zu einem konturlosen urban sprawl führt. Vielmehr regenerieren sich die Stadtkerne als »Zentren des Konsums« und als »Entscheidungszentren« der Macht. Der Kampf um »Zentralität« (Information, Begegnung, Vergnügen) wird deshalb zum wichtigen Moment einer widerständigen Praxis, die gegen die kapitalistische Verwertungslogik aufbegehrt. Angesichts der gegenwärtigen Stadtentwicklung erweisen sich in dieser Hinsicht Lefebvres Überlegungen als zutreffend: Der Erlebniskonsum ist zu einem wichtigen Bestandteil der urbanen Ökonomie geworden. Gleichzeitig hat in den Metropolen die Verdichtung von Headquarter-Strukturen eine neue Qualität angenommen.
Lefebvre will auch das marxistische Revolutionsprojekt erneuern: Marx und Engels hätten die Dialektik von Industrialisierung und Urbanisierung nicht wirklich begreifen können. Das Problem des Wohnens (l’habiter) sei zwar von ihnen erkannt worden, aber das Phänomen der Urbanisierung gehe weit über die »Wohnungsfrage« hinaus. Lefebvre deutet damit eine historische Beschränkung des Marx’schen Denkens an. Er kommt zu dem Schluss, dass die erste Welle der Weltrevolution, die durch die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts stimuliert wurde, verebbt sei. Nun werde die nächste Welle der Revolution durch die »Stadtreform« vorangetrieben. Das Recht auf Stadt besitzt für ihn eine strategische Bedeutung, denn mit der »Banlieusierung« der Arbeiterklasse und dem damit einhergehenden Verlust von »Zentralität« drohe deren widerständiges »urbanes Bewusstsein« zu verschwinden. Er kommt in diesem Zusammenhang auf die Pariser Commune zu sprechen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Baron Georges-Eugène Haussmann im Auftrag Napoleons III. das Zentrum von Paris für die besitzenden Klassen völlig umkrempeln lassen. Die innerstädtische Arbeiter- und Armutsbevölkerung wurden systematisch in periphere Zonen verdrängt. Aus Sicht von Lefebvre stellt die Erhebung von 1871 die kraftvolle Rückkehr der abgeschobenen ArbeiterInnen in das städtische Zentrum dar. Auch den Pariser Mai-Aufstand von 1968 interpretiert er wenig später (vgl. L’irruption – de Nanterre au sommet) als Ausdruck einer urbanen Revolte.
In Le droit à la ville ist der programmatische Einfluss des situationistischen Unitären Urbanismus deutlich spürbar. So orientiert sich Lefebvres Vision von einer »spielerischen« und »mobilen« Stadt am utopischen Modell New Babylon des Malers Constant, mit dem er längere Zeit befreundet war. Der holländische Künstler (von 1958 bis 1960 Mitglied der Situationistischen Internationale) fasst seine Stadtentwürfe, die sich durch flexibel gestaltete Architekturräume auszeichnen, als Skizze einer zukünftigen, postrevolutionär-nomadischen Kultur auf: Sei der Mensch erst einmal vom Zwang der Produktion befreit, schwinde dank der vollständigen Automatisierung der Industrie auch die Notwendigkeit, sich ständig an einem bestimmten Ort aufzuhalten (siehe dazu auch den Text von Andre Krammer S. 26 ff). Jede kreative Initiative des Einzelnen werde in New Babylon zu einem Eingriff in das kollektive »Lebens-Ambiente« führen und damit Gegenaktionen provozieren. Als Schöpfer seiner Umwelt sehe sich der homo ludens (lat. = spielerische Mensch) immer wieder dazu veranlasst, die Welt zu verändern und zu erneuern. Lefebvre fasziniert sowohl der situationistische Begriff ambiance, der die atmosphärische Stadtstruktur unter dem Aspekt der Aneignung thematisiert, als auch die Idee von den permanent umgestalteten Sozialräumen. Die ideale Stadt wäre ihm zufolge die »kurzlebige Stadt, ein ewiges Werk der Einwohner, die selbst mobil und für/ durch dieses Werk mobilisiert wären« (S. 188). In La production de l’espace (1974) formuliert er dann seine bekannte These, dass der (soziale) Raum nicht einfach vorhanden ist, sondern ständig sozial erzeugt und kreiert wird.
Lefebvre hat sein Manifest Le droit à la ville in einer vor-revolutionären Situation verfasst, von der wir heute weiter denn je entfernt sind. Gleichwohl produziert die Neoliberalisierung der Stadt vielfältige Widerstandsformen, die von sehr unterschiedlichen Gruppen getragen werden. Auf jeden Fall ist das Recht auf Stadt nicht nur eine Sache der Unterprivilegierten. Häufig sind es gerade StudentInnen, Kulturschaffende und Intellektuelle, die das »urbane Versprechen« antreibt, gegen die vorherrschende Stadtpolitik aufzubegehren.


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