» Texte / Die Viennale 2020 als Ort politischer Diskurse

Ursula Maria Probst


Wien steht mit 14 Programmkinos, bekannt als Arthouse-Kinos wie dem Gartenbaukino (es wurde 2018 unter Denkmalschutz gestellt), Stadtkino, Top Kino, Votivkino, Filmcasino (bereits 1911 gab es hier ein Kinematographentheater) oder dem Österreichischen Filmmuseum für eine politisch und filmhistorisch engagierte Kino- und Filmkultur. Stark eingeschränkt wurde das soziale Kinoleben Wiens 2020 durch die nachrangige Behandlung von Kulturinstitutionen infolge der von der Regierung erlassenen Covid-19-Maßnahmen. Die Viennale hatte mit ihrer Programmierung Glück und konnte in zeitlich gekürzter Version am 22.10.2020 starten. Um die Covid-19-Abstandsregeln zu gewährleisten, wurden zusätzlich fünf Kinosäle der Arthouse-Kinos und damit Standorte außerhalb des Stadtzentrums aktiviert. Neue Produktionen aus Österreich in einem speziellen Programm des Filmfestivals Diagonale, das 2020 aufgrund von Covid-19-Beschränkungen entfallen musste und zahlreiche internationale Filme demonstrierten eindrucksvoll, wie sich die Grenzen des Kinos verschieben. There is no Evil (Es gibt kein Böses) lautet der Titel von Mohammad Rasoulofs neuestem Film, der bei der *Viennale 2020 *zu jenen Filmen zählte, die zeigten, wie Regisseur*innen unter extremen Zensurbedingungen neue Filmgenres schaffen. Rasoulof — bekannt für sein Kino des humanistischen Trotzes — hat wie sein Kollege Jafar Panahi im Iran Berufsverbot und darf ihn nicht verlassen. Der Film entstand bei Autofahrten durch Teheran, in abgeschlossenen Räumen oder entlegenen Landschaften und richtet sich als eindringlicher Appell gegen die Todesstrafe in der Islamischen Republik an das internationale Kinopublikum. Rasoulofs Trick, um den Film bei der Zensurbehörde durchzubekommen, war es, die Drehbücher der vier Episoden als separate Kurzfilme einzureichen. Die erste Episode zeigt, wie ihr Protagonist Heshmat (Ehsan Mirhosseini) aus einer Garage hinausfährt, seine monatliche Reisration entgegennimmt, mit seiner Frau Bankgeschäfte erledigt, die Tochter von der Schule abholt, im Supermarkt einen Großeinkauf tätigt, liebevoll seine Mutter versorgt und seiner Frau das Haar färbt — lauter antimachistische Gesten, die ihn sympathisch, bisweilen allerdings apathisch wirken lassen. Nachts fährt er zur Arbeit, bereitet sich dort einen Snack, während er durch ein Guckfenster blickt. Als die Lichter der Armaturen rot aufleuchten, drückt er den Hebel, es folgt ein ruckartiges Geräusch, wir blicken nun auch durch das Guckfenster und sehen baumelnde Füße. Heshmat ist Henker, für die Zuschauer*innen eine grausame Entdeckung, die schockiert und im Widerspruch zu den zuvor vermittelten Bildern des zärtlichen Vaters, Sohns und Ehemanns steht. Unweigerlich schießt einem Hannah Arendts kontrovers diskutierte Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen durch den Kopf. Rasoulof geht in der Analyse des Bösen einen Schritt weiter, fordert zum Nachdenken über Verstrickungen von Täter*innen und Mittäter*innenschaft auf. Bis in die jüngste Vergangenheit werden Armeerekruten während ihrer Wehrpflicht im Iran gezwungen, als staatliche Henker zu dienen und politische Häftlinge zu töten. Welche Konsequenzen eine Weigerung oder Ausführung dieses Befehls für die jungen Männer und ihre Familien hat, zeigen die zwei folgenden Episoden. Pouya (Kaveh Ahangar), der im Todestrakt eines Gefängnisses arbeitet, erhält den Befehl zur Hinrichtung eines Mannes. Er diskutiert es verzweifelt mit anderen Rekruten und seiner Freundin am Telefon, weigert sich, ergreift die Flucht und riskiert damit seine Zukunft. In der dritten Episode reist der Wehrpflichtige Javad (Mohammad Valizadegan) aufs Land, um seiner Geliebten an ihrem Geburtstag einen Heiratsantrag zu machen. Seine Ankunft wird überschattet von der Gedenkfeier für einen ihm unbekannten Freund der Familie, der vom Regime hingerichtet wurde. Als der Soldat dessen Foto sieht, erkennt er, dass er der Vollstrecker der Hinrichtung war. Seine Braut löst die soeben stattgefundene Verlobung auf. Durch die trotz komplexer Verstrickungen nüchterne Klarheit der Erzählungen wird die staatliche Willkür deutlich, die über Leben und Tod entscheidet und die Frage aufgeworfen: Wie ist in Situationen der organisierten Unterdrückung eine individuelle Freiheit möglich? Moralische Gewissheiten geraten ins Schwanken.
        Völlig in den Bann seiner dramaturgisch sich an extremen Realitäten orientierenden Intensität und mit magischen Bildern aufgeladenen Szenen zieht uns der fantastische Hybridfilm La Nuit des Rois, der, als Überlebensdrama inszeniert, sich bisherigen Genres entzieht. Regisseur Philippe Lacôte wollte mit seinem Film die ivorische Nachkriegsgesellschaft nach dem Sturz des Präsidenten Laurent Gbagbo durch das Prisma von MACA (Maison d’Arrêt et de Correction d’Abidjan), dem größten Gefängnis an der Elfenbeinküste zeigen. Das MACA am Rande des tropischen, ehemaligen Nationalparks Banco ist ein massives Betongefängnis, das für 1.500 Insass*innen gebaut wurde und in dem sich heute unter miserablen Haftbedingungen eine Gefängnisbevölkerung von 7.400 Gefangenen (ein Drittel davon ist in Untersuchungshaft) befindet. Im Land gibt es insgesamt 34 Gefängnisse und Justizvollzugsanstalten mit einer Gefängnisbevölkerung von 16.800 Insassen. Von Menschenrechts-Organisationen wurde dieser Zustand wiederholt scharf kritisiert. Wenn es in der ivorischen Hauptstadt Abidjan zu einem Gefängnisausbruch kommt, weiß die Bevölkerung, was zu tun ist. Sie läuft, um der Schießerei der Wachen zu entkommen, nach Hause und verriegelt die Türen. Viele von ihnen leben vom Nahrungsmittelverkauf vor dem Gefängnis. In die Schlagzeilen geriet das Gefängnis auch aufgrund seiner dort vergessenen Kinder. Selbst seit seiner Kindheit von dem Gefängnis fasziniert, wo seine Mutter als politischer Häftling eingesperrt war, wird es in Lacôtes Film zum magischen Ort der Geschichtenerzählung und des Überlebenskampfs. Ausgehend von seinen eigenen Kindheitserlebnissen, in welchen ihm das Gefängnis als Hof eines archaischen Königreichs erschien, inszeniert Lacôte den Film als fantastisches Drama, das uns in die Welt der durch eigene Gesetze, Rituale und Intrigen strukturierten Machtverhältnisse der Gefängnisgesellschaft eintreten lässt. Zur Story: Als ein junger Mann ins MACA eingesperrt wird, sieht er sich mit einer Realität konfrontiert, die genauso komplex und gefährlich ist wie die Welt draußen, aus der er kommt. Regiert wird das Gefängnis von dem Mithäftling Blackbeard (Steve Tientcheu), dessen Macht aufgrund seines angeschlagenen Körperzustands bedroht ist und der im Versuch, diese weiter zu behalten, den Neuankömmling zwingt, in der Nacht des roten Mondes eine Geschichte zu erzählen. In Anlehnung an Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht in die Rolle eines Griot (westafrikanische Tradition von berufsmäßig epische Texte performenden Sänger*innen, Dichter*innen und Instrumentalist*innen) versetzt, muss Roman (Koné Bakary) bis Sonnenaufgang eine Geschichte erzählen, um sein Leben und das Gefängnis vor dem Chaos zu retten. Farbenprächtige Szenen begleitet von Musik und Tanz, die durch den Cameo-Auftritt der Ikone Denis Lavant einen Höhepunkt erreichen, lassen in magische Bilder einer anderen Welt tauchen.
        Ein tolles Statement gegen die Dystopie von Regimen gelang dem ukrainischen Regisseur Oleg Sentsov mit seiner filmischen Parabel auf totalitäre Systeme. Die Regie für den Dreh seines Filmes Nomery, der im abgeschlossenen Universum eines Stadions spielt und dessen totalitär regierte, geschichtslose Menschen Nummern als Namen tragen, führte Oleg Sentsov via Brief- und E-Mail-Verkehr aus einem Lager in Sibirien. Heute ist er zum Glück frei.
        Laut Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi wollte die Viennale 2020 den Blick auf die Welt verändern. »Widerstand« ist ihr deutsches Lieblingswort und auch in ihrer Eröffnungsrede betont sie »die Gesten des Widerstands«, die in den ausgewählten Filmen auf verschiedene Weise zum Ausdruck gelangen. Mit einem Kino als Ort des Widerstands und der Transformation setzt die Viennale 2020 Prioritäten auf Filme, die im Hier und Jetzt dazu auffordern, unsere Erfahrungsräume des politischen Diskurses einer tiefgreifenden Reflexion zu unterziehen. Das ist durch die Auswahl politisch subtiler Filme gelungen.


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