Iris Meder


Binnen weniger Wochen wurden in Wien vor kurzem zwei aufwändige Fotodokumentationen zu Architektur des Sozialismus präsentiert, die auch für das immer noch steigende Interesse an den verschiedensten Facetten der politischen und kulturellen Geschichte der ex-sozialistischen Länder stehen. Buch und Ausstellung Stillgelegt von Christoph Lingg präsentieren in bester Becher-Schule eben stillgelegte, zumeist ruinöse Industriebauten im ehemaligen „Ostblock“ bis hin nach Kirgisien. Der opulente Band kommt im agitprop-mäßig bedruckten Pappschuber daher, der einen Einband aus von Exemplar zu Exemplar immer unterschiedlichen korrodierten Stahlplatten (!) schützt. Aus den Bildern spricht die Melancholie einer vergangenen Epoche, das Hilflose eines ins Leere gelaufenen, entvölkerten Industrie-Heroismus. Totalansichten unterstützen die Monumentalität der Anlagen. Linggs Zugang ist ein wenn nicht Piranesi’scher, so doch kontemplativer. Die Bildtexte mit Ortsangaben müssen hinten im Buch nachgeschlagen werden, Angaben zur Entstehungszeit, vielleicht gar Architekten der Bauten, die teils aus Historismus oder Funktionalismus stammen, oder zu ihrer einstigen Nutzung sind nicht zu finden. Indem sie als impressionistische Ikonen einer elegischen Ästhetik eingesetzt werden, verlieren die Bauten auch ihre Identität. Gerade in ihrem Verfall entwickeln sie jedoch eine archaische Ästhetik; mitunter ergeben sich eigenwillige, surreale Szenerien, ohne dass die Grenze zum Ostblock-Kitsch überschritten wird.

Wird Stillgelegt von einer Ausstellung begleitet, so gibt es zur englischsprachigen Publikation Eastmodern, herausgegeben von Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad, Maik Novotny, eine schon länger existierende Website, die (pseudo)öffentliche Bauten der sechziger und siebziger Jahre in der Slowakei zeigt (siehe dazu auch dérive 18). Der Wohnbau wurde in den Staaten des Warschauer Pakts bekanntermaßen großteils rein rationell behandelt, während bei repräsentativen Staatsbauten wie Nationalarchiv, Mahnmalen, Hochschulen etc. eher die große architektonische Geste gefragt war. Die nüchtern inszenierten Fotografien unterscheiden in ihrer Sichtweise nicht zwischen Bauten regimetreuer und dissidenter Architekten; die divergenten Positionen treten aber in den dem Bildteil angeschlossenen Interviews klar zutage. Was an den undramatischen und oft mit Staffagefiguren belebten Fotografien fasziniert, ist die lapidare Darstellung eines utopischen sozialistischen Moderne-Pathos, wie man es hierzulande nicht kannte, und damit einer schon historischen politischen Epoche. Für eine repräsentative Auswahl der Bauten sorgte Henrieta Moravcˇíková, weitere kompetente Textbeiträge stammen unter anderem von Oliver Elser und Ákos Moravánszky. Manches vermisst man, etwa Innenaufnahmen des an Konstruktionen Pier Luigi Nervis erinnernden Audimax der Landwirtschaftlichen Hochschule in Nitra oder auch Ferdinand Milucˇkýs Kulturpalast in Piešt’any. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird aber auch nicht erhoben.

Nicht in den Ex-Ostblock, aber in die sechziger Jahre, und zwar deren eher nicht vom Retro-Chic vereinnahmte Seite, begibt sich das kurz nach den beiden anderen Bänden erschienene Büchlein Detours des Architekten Martin Feiersinger. Es stellt zehn Sechziger-Jahre-Bauten in Norditalien, unter anderem von Gino Valle und Vico Magistretti, in Fotos, Planzeichnungen und deutsch-englischen Texten vor, darunter ein halbringförmiges Apartmenthaus, das nach außen nur als Erdwall in Erscheinung tritt, ein siloförmiges Bürgerzentrum und ein leuchtend orangegelbes High-Tech-Mehrfamilienhaus. Alle sind eher spröde bis abweisend in ihrer vom Brutalismus geprägten Architektur, manche befinden sich bereits im Stadium des Leerstandes und beginnenden Verfalls, worüber auch die knappen Texte berichten. Die nüchternen Fotos zeigen die Bauten leider nur von außen.


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