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Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Über Zwischentöne auf der von Aaron Betsky kuratierten Architekturbiennale in Venedig und eine Konferenz zum Thema Wohnbau im Österreich-Pavillon.

Die diesjährige Architekturbiennale ließ den Besucher insgesamt ein wenig ratlos zurück. Das vage Motto Out There – Architecture Beyond Building verführte vor allem die eingeladenen Stars der internationalen Szene dazu, unverbindliche Kunst-Objekte abzuliefern, die zwischen Retro-Design und Manierismus changierten. So lief man durch die grandiosen Hallen der ehemaligen Schiffswerft des Arsenals wie durch das Stage-Set eines B-Movies der 1960er Jahre, durch eine Sequenz autistisch anmutender Installationen.

Aber nicht der Mangel an gezeigter „gebauter Architektur“ war der Sündenfall der diesjährigen Schau, sondern das Fehlen eines starken kuratorischen Konzepts. Gemeinsame Strategien in der Raumproduktion im Umgang mit globalen Herausforderungen wurden nicht konsistent aufgezeigt. Dennoch gab es auf den zweiten Blick auch Fundstücke zu entdecken.

Im italienischen Pavillon, in dem „experimentelle Architektur“ versammelt war, wurden auch Projekte gezeigt, die sich ernsthaft mit sozialen und ökologischen Themen der Gegenwart auseinandersetzten. Das französische ArchitektInnen-duo Lacaton & Vassal zeigte vor, wie man kostengünstig mit dem (ungeliebten) Erbe anonymer Plattenbauten umgehen kann. Sie propagieren nicht den Abriss der eher tristen Wohnblocks an der Pariser Ringstraße aus den frühen 1960er Jahren, sondern einen intelligenten, preiswerten Umbau, der interessante Qualitätssprünge schafft. Die alte Fassade wird abgetragen und durch großzügige Verglasungen ersetzt, die spektakuläre Ausblicke auf das Pariser Umfeld freigeben. Zwei neue Lifteinbauten erleichtern den Zugang. Die Wohnfläche der Apartments wird durch einen Zubau erweitert – aus Raumnot wird Großzügigkeit. Während des Umbaus selbst können die BewohnerInnen sogar in ihren Apartments bleiben. Das in Caracas ansässige Architektenteam Urban Think Tank, bestehend aus dem Venezolaner Alfredo Brillembourg und dem Österreicher und Hollein-Schüler Hubert Klumpner, fällt mit einem einfachen, aber umso bestechenderen Konzept auf. In ihrem Projekt MetroCable schlagen sie die Einrichtung einer Gondelseilbahn in einem Armenviertel von Caracas vor, dem Barrio San Agostin. Die in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Seilbahn-Spezialisten Doppelmayr entwickelte Bahn soll die 40 000 BewohnerInnen des Viertels direkt mit dem U-Bahn-Netz der Stadt verbinden. Mit dieser Strategie wollen die Architekten verhindern, dass ein Straßennetz durch die verwinkelte Häuserstruktur des Armenviertels geschlagen wird, dem eine Unzahl an Häusern zum Opfer fallen würde. Leider standen neue Arbeitsweisen und Strategien wie diese nicht im Zentrum der Schau. Dafür gab es in den Länderpavillons manches zu entdecken.

Im amerikanischen Pavillon etwa wurden heuer Büros gezeigt, die jenseits der kommerziellen Architekturproduktion agieren. Die vorgestellten Büros sehen sich als Akteure in einem gesellschaftlichen Umfeld, dem sie ihr architektonisches Know-How zur Verfügung stellen. Das Rural Studio etwa baut mit StudentInnen seit Anfang der 1990er Jahre in Hale County, Alabama – einem der ärmsten ländlichen Gebiete Amerikas – preisgünstige Architektur für die verarmte Bevölkerung. Verwendet werden vorgefundene Materialien oder auch wieder verwertbarer Müll wie Bahnschwellen, bunte Flaschen, alte Ziegel, abgetragenes Bauholz und Wellpappe. Die Bevölkerung wird in den Entwicklungsprozess mit eingebunden. Das „Rural Studio“ entwickelte aus einem sozialen Ansatz heraus eine aufregende, neue Ästhetik.

Die fragilen Bleistiftzeichnungen von imaginierten Stadt- und Naturräumen an den weißen Wänden des japanischen Pavillons sorgten trotz aller Zurückhaltung für einen sinnlichen Höhepunkt. Der britische Pavillon zeigte Wohnbauten von fünf britischen Architekturbüros „zuhause“ und „auswärts“ (Home/Away). Die unterschiedliche Qualität in den Projekten ein und desselben Büros (die Bauten außerhalb der Insel weisen eklatant höhere Qualität auf), unterstreicht die gegenwärtig mangelhaften Rahmenbedingungen für Wohnbau in Großbritannien. Der Kurator – der Architekturkritiker Ellis Woodmann – thematisierte so die Abhängigkeit der Architekturproduktion von politischen Voraussetzungen und setzte einen Kontrapunkt zur Selbstbezogenheit der Architekturelite. Woodmann hielt auch einen Vortrag auf der Konferenz zum Thema Wohnbau, die im Österreich-Pavillon Anfang Oktober abgehalten wurde. „Wohnbau als Anlass“ war neben der Präsentation von Einzelpositionen (Pauhof und Josef Lackner) ein Schwerpunkt, den Kuratorin Bettina Götz dieses Jahr für den österreichischen Pavillon setzte. Das Thema gewann nicht zuletzt durch das Platzen der Immobilienblase in den USA zusätzliche Aktualität. So wird man in Zukunft wieder verstärkt über verdichtete Wohnformen im Gegensatz zum Wohnen im Einfamilienhaus nachdenken müssen – nicht nur in Amerika.

Der Architekturtheoretiker Werner Sewing lud zu einer international besetzten Konferenz, die überraschenderweise keineswegs aus einschlägigen Wohnbauexperten und -expertinnen bestand. Vielmehr ging es Sewing um eine Hinterfragung von Wohnbau als Baustein der Stadtentwicklung. In Podiumsdiskussionen zwischen und nach Einzelreferaten suchte man nach gemeinsamen Nennern in der jeweiligen Praxis: Worauf können sich gegenwärtige EinzelkämpferInnen der Architektur noch einigen? Teilweise herrschte auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage Ratlosigkeit.

Der in Frankreich lebende Brite Duncan Lewis beispielsweise entwickelt seine Projekte nach einer genauen Recherche vor Ort. Für das Projekt eines sozialen Wohnbaus im französischen Mulhouse, das er in der Konferenz präsentierte, betrieb er zweiwöchige Feldforschungen vor Ort, um die Menschen und die Alltagskultur in der Region kennenzulernen. Die Tradition der Leute, ihre Häuser ständig durch Zubauten und Adaptierungen nach ihrem individuellen Geschmack zu verändern, nahm Lewis zum Ausgangspunkt seines Entwurfs. Er entwarf keine fotogenen Gebäude für das Hochglanzmagazin, sondern eine flexible Wohnstruktur aus vorgefertigten Stahlelementen, die zukünftige Erweiterungen und Umformungen zulässt. Auch die Räume zwischen den Häusern haben ein stählernes Rahmenwerk, das auch für Bepflanzungen benützt werden kann. Es entsteht ein grünes Netzwerk inmitten der dichten Bebauungsstruktur, ein Park, der von den AnrainerInnen gestaltet und verändert werden kann. Öffentliche und private Räume überschneiden sich, man begegnet sich, eine Nachbarschaft entsteht – so die Hoffnung des Architekten.

Im darauffolgenden Referat präsentierte François Roche von R&Sie(n) abgehobene Experimente, die von maschinell erzeugten Formprozessen ausgehen, die in amorphe computergenerierte Gebilde münden. Mit Fragen nach neuen Wohnmodellen und deren Auswirkung auf die Raumentwicklung hatte dies freilich nichts zu tun. So bekundete man sich im Anschluss nur gegenseitigen Respekt und Sympathie, ohne dass nur irgendwelche inhaltlichen Anknüpfungspunkte sichtbar geworden wären. Interessant wurde es, als deutlich wurde, wie unterschiedlich sich die Rahmenbedingungen für Architektur und Wohnbau in den einzelnen Herkunftsländern der Vortragenden darstellen (Walter Angonese – Südtirol, Atelier Bow-Wow – Japan, Hermann Czech und Dietmar Steiner – Österreich, Christian Kerez – Schweiz, Duncan Lewis und R&Sie(n) – Frankreich, Ellis Woodman – Großbritannien).

Das Atelier Bow-Wow aus Tokio etwa stellte seine Einfamilienhäuser vor, die auf engem Raum mitten in der Acht-Millionen-Stadt Tokio gebaut wurden. Der zur Verfügung stehende minimale bebaubare Raum wurde optimal ausgenützt, um eine höchst mögliche Wohnqualität zu erreichen. Christian Kerez aus Zürich zeigte seine Wohnprojekte, die in der landschaftlichen Weite des Großraum Zürich errichtet werden. Es handelt sich um komplexe, spektakuläre Architektur, in der man „auch“ wohnen kann – „Liebhaberprojekte“, die einen räumlichen Luxus jenseits des Status Quo bieten. Sowohl das Atelier Bow-Wow als auch Christian Kerez benützen in ihren Wohnbauten das „universelle“ Architekturvokabular der Moderne. Doch die darüber hinausgehenden spezifischen Merkmale ihrer Projekte sind auf ihren jeweiligen Kontext zurück zu führen.

Die Konferenz machte deutlich, dass heute außergewöhnliche Leistungen auf dem Gebiet des Wohnbaus aus einem Dialog mit den jeweiligen, sehr spezifischen örtlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen heraus entstehen und sich nicht aus abstrakten Theorien oder Utopien ableiten lassen. Den oft rigiden Bebauungsvorschriften wird ein Maximum an Wohnraum und architektonischer Qualität abgerungen. An einen darüber hinaus gehenden gemeinsamen Nenner glaubten zumindest die Teilnehmer dieser Konferenz nicht.


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