Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Rund ein Jahr ist es her, dass in Wien die Nordbahnhalle durch einen Brand vernichtet wurde, dessen genauer Hintergrund bis heute nicht aufgeklärt ist. Wir waren damals Teil der Initiative IG Nordbahnhalle, die sich nachdrücklich bemüht hat, die Halle vor dem geplanten Abriss zu retten und daran arbeitete, ein Nutzungskonzept für »ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur« zu entwickeln. Die Pläne und Ansprüche waren groß, die Unterstützung aus Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft ebenso. Nach vielen kontroversen Debatten um den Erhalt mit Entscheidungsträger*innen aus Stadtplanung und Bezirk, Immobilienentwicklung und der Eigentümerin ÖBB, hat das Feuer schlussendlich Fakten geschaffen. Die Nordbahnhalle ist Geschichte, die Notwendigkeit für Common Spaces, Hybrid Places, wie auch der Titel des urbanize! Festivals 2020 lautet, das von 14.–18. Oktober in Wien stattfindet, bleibt jedoch bestehen.
        Wir haben uns im Zuge des urbanize!-Festivals und in etlichen dérive-Ausgaben in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder mit dem Thema Demokratie beschäftigt. Die Bedeutung von offenen und niederschwelligen Orten der Begegnung, des Austauschs und der Diskussion hat sich dabei regelmäßig bestätigt. Das Schwerpunktthema Demokratische Räume, der Blick auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft solcher nicht-kommerziellen Hybrid Places ist als Fortsetzung dieser Auseinandersetzung zu sehen.
        Räume außerhalb der eigenen Wohnung, die als öffentliche soziale Treffpunkte dienen, Platz für Soziales, Bildung, Kultur und/oder Sport bieten, sowie Orte für gesellschaftspolitische Diskussionen und Engagement sind, erfüllen eine wichtige demokratiepolitische Funktion. Besonders dann, wenn sie sich nicht darauf beschränken, ein Top-down-Angebot zu stellen, sondern von ihren Nutzer*innen kollektiv verwaltet und programmiert werden. Solche Räume, für die es viele Namen gibt, seien es Arbeiter*innenheime, Volksheime, Genossenschaftshäuser, Kulturhäuser, Centri Sociali, Stadtteilzentren oder Third Places, haben eine lange Tradition, waren und sind überall zu finden. In manchen Städten sind sie ein wichtiger und unumstrittener Teil des Alltagslebens, in anderen ist ihre Geschichte vergessen oder sie sind mit politischem oder ökonomischem Druck konfrontiert. Ihr Problem in diesem Zusammenhang ist: Sie werfen keinen Profit ab, lassen sich touristisch nicht vermarkten, gelten manchen als verstaubt und wenig innovativ, sind – wenn selbstverwaltet – schwer kontrollierbar und stehen Aufwertungsprozessen immer wieder einmal im Weg.
        Der Soziologe Ray Oldenburg hat in den späten 1980er-Jahren ein Buch zu einigen Aspekten des Themas geschrieben und den Begriff Third Places geprägt. Dieser hat sich bis heute gehalten, neuere umfassende Auseinandersetzungen mit dem Thema gibt es seither allerdings kaum, was ob der Bedeutung solcher Orte für die Stadtgesellschaft verwundert. Das Forschungsinteresse scheint auf einzelne Aspekte des Themas begrenzt zu sein. Wir stellen im vorliegenden Heft einige Typen solcher Räume und die dazugehörigen Kontexte und Konzepte vor: Von Kulturhäusern in Polen, über soziale Community-Museen und SESCs in Brasilien, Clubes de Barrio in Buenos Aires bis zu Gemeinschaftszentren und Common Spaces in Zürich. So unterschiedlich die Beispiele sind, alle zeigen den Bedarf von Räumen, die Gesellschaft bieten, die sich aneignen lassen, die für alle offen sind, die man für die unterschiedlichsten Aktivitäten nutzen kann, in denen Konsum keine Rolle spielt.
        Interessant ist, dass selbst in Häusern, die ein Kulturprogramm und Kurse anbieten, nicht dieses Angebot die Attraktion und der wichtigste Grund für den Besuch sind. Die meisten Menschen machen sich ausschließlich deswegen auf den Weg in einen dieser Räume, um in der Gesellschaft anderer Menschen zu sein. 50 Prozent der Besucher*innen der Zürcher Gemeinschaftszentren – immerhin 600.000 pro Jahr – kommen einfach so, ohne ein Angebot wahrzunehmen. Das Herz der brasilianischen SESCs, die ebenso wie die Gemeinschaftszentren ein umfassendes und vielfältiges Programm bieten, ist die Convivencia (dt. Zusammenleben), das Wohnzimmer der Einrichtungen, ein Raum, in dem kein Programm angeboten wird. Er ermöglicht andere zu treffen, sich zu unterhalten, Ruhe zu finden, gut und günstig zu essen und – in brasilianischen Städten nicht unwichtig – sicher zu sein. Demokratische Räume erweisen sich somit auch als wichtige Inseln in unserem kapitalistisch durchgetakteten Alltag und sind ein Safe Space der anderen Art.
        Im Magazinteil ist ein Beitrag von Christa Kamleithner zu lesen, den wir eigentlich schon als Teil unseres letzten Schwerpunkts Pandemie veröffentlichen wollten, was aus Zeitgründen jedoch nicht klappte. Er zeigt die Kontinuitäten in der medialen Berichterstattung und vorurteilsbehafteten Diskussionen von den Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts bis zu Covid-19, wenn es um die Ursachen der Verbreitung von Pandemien und das Thema Dichte im Städtebau geht. Ein weiterer Artikel, der uns besonders am Herzen liegt, stammt von Mona Fawaz, die über die Folgen der Explosion und die Probleme der Stadtentwicklung in ihrer Heimatstadt Beirut berichtet. Einer Stadt, der wir bereits eine ganze Reihe von Artikeln gewidmet haben. Das Kunstinsert von Isa Rosenberger verweist auf ein im Zusammenhang mit unserem Schwerpunkt sehr wichtiges Haus in Wien, die unter dem Namen Volksheim Ottakring gegründete Volkshochschule Ottakring. Sie war bei ihrer Gründung eine enorm wichtige Raumressource für selbstorganisierte Forschung, außeruniversitäre Bildung, Austausch und Diskussion. Rosenberger blickt in ihrer Arbeit ... das weite Land, woher sie kommt auf eine Tanzaufführung der Tänzerin und Choreographin Gertrud Kraus in eben jener Volkshochschule zurück, die dort im Jahr 1934 stattgefunden hat.
        Wie schon erwähnt, steht das urbanize!-Festival vor der Tür. Coronabedingt begibt sich urbanize! verstärkt in den öffentlichen Raum, um mit Stadtspaziergängen, Walkshops und urbanen Spielen Commons-Potenziale für Wien zu erkunden. Wir bitten um Anmeldung und können eine Teilnahme trotz Maske und physikal distancing nur nachdrücklich empfehlen. Wir freuen uns auf Euer/Ihr Kommen, denn wie immer gilt: urbanisieren Sie sich!

Christoph Laimer, Elke Rauth


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