Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


„,Fear Studies’ waren rund um Y2k die hippste Nische im akademischen Forschungsbetrieb“, schreibt Mike Davis in seinem neuen Buch Dead Cities. Tatsächlich erscheinen jedes Jahr dutzende von Büchern zum Thema Angst. Reden ohne Angst, Keine Angst vor Kritik, Grundformen der Angst, Aus Angst wird Mut, Altern ohne Angst, Stress und Angst überwinden, Angst – Hilfe in der ersten Not, Ohne Angst verschieden sein etc. sind nur einige der Titel, die alleine heuer erschienen sind. Ganze Industriezweige, Dienstleistungsbetriebe und schließlich auch WissenschaftlerInnen leben von der Angst, wie Michael Zinganel mit einem Augenzwinkern in seinem Beitrag weiter hinten im Heft anmerkt.
Kaum eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, bei der nicht eine Gruppe das Argument Angst für ihre Sache verwendet: Angst vor dem Verlust der Arbeit, der Pension, der Gesundheitsversorgung, Angst vor Gentechnik, Atomindustrie, Krieg, Kriminalität, Terrorismus, Fundamentalismus, Globalisierung etc., die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Die Vorwürfe mit der Angst von Menschen zu spielen bzw. Ängste nicht ernst zu nehmen, tauchen regelmäßig als Totschlagargument auf und verfrachten Diskussionen auf eine emotionale Ebene. Der Versuch mithilfe von Fakten zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen zu haben, wird nur zu oft als zynisch zurückgewiesen. Dass sich Ängste, die von Experten und Expertinnen als irrational dargestellt wurden und werden – wie z. B. diejenige vor der Atomindustrie –, im Nachhinein dann des Öfteren doch als berechtigt herausstellen, tut ein Weiteres zur Verunsicherung.
In den letzten Jahren zeigt sich verstärkt, dass Regierungen von den Methoden der NGOs gelernt haben. War es früher deren Strategie, mit der Angst der Menschen vor neuen (unausgereiften) technologischen Entwicklungen, ökologischen Katastrophen, ungesunder Nahrung etc. Regierungen und Konzerne unter Druck zu setzen und zu Gegenmaßnahmen zu veranlassen, haben die Regierenden mittlerweile den Spieß umgedreht und setzen die Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaates und die Etablierung eines Kontroll- und Überwachungsregimes mit ständigem Verweis auf die Ängste der Menschen durch.
Offensichtlich ist, dass es dabei nur um die Ängste der StaatsbürgerInnen mit Wahlrecht geht. Deren Ängste zählen. „Ängste ernst nehmen“ war ein Motto von Caspar Einem, dem ehemaligen österreichischen Innenminister und linken Aushängeschild der SPÖ. Mit Ängsten war damals – Mitte der 90er-Jahre – der Rassismus der österreichischen StaatsbürgerInnen gegenüber MigrantInnen und AsylbewerberInnen gemeint. Den Leuten zu sagen, dass ihre „Fremdenangst“ oft nichts anderes als Rassismus ist, war nicht möglich, denn, so meinte man in der SPÖ damals, dann würde man die WählerInnen nur in die Arme der FPÖ treiben, was schlussendlich dann trotzdem geschehen ist. „Ängste ernst nehmen“ ist zu einer Lieblingsdisziplin von Politikern und Politikerinnen geworden und heißt, die Rechtslage für Menschen, mit deren Ängsten man keine Wahlkämpfe gewinnen kann, zu verschlechtern. „Ängste ernst nehmen“ heißt „Lebenslang muss lebenslang bleiben“, „Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich vor nichts zu fürchten“, öffentliche Plätze mit Videokameras überwachen, heißt Festung Europa, Rasterfahndung, Datenüberwachung, zero tolerance, Polizeibefugnisgesetz, Telefonabhörung, Ausbau der Rechte für Geheimdienste und Polizei. Heißt private Sicherheitsdienste, Alarmanlagen, Fingerabdrücke, Iris-Scans, Gesichtserkennung, Bewegungsmuster, überfüllte Gefängnisse, gated communities und nicht zuletzt tausende von toten MigrantInnen an den Außengrenzen der EU und der USA.

Auch in dérive taucht das Thema nicht zum ersten Mal auf. Bereits in der ersten Ausgabe gab es einen Artikel von Michael Zinganel zu Architecture of Fear und ein Interview mit Claudia Prinz von der Wiener Leitstelle für frauen- und alltagsgerechtes Bauen über „irrationale Ängste“. Insecurities in Cities heißt ein EU-Forschungsprojekt, an dem auch das Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie teilnimmt. Mit Gerhard Hanak und Wolfgang Stangl haben wir über die vorläufigen Wiener Ergebnisse des noch nicht abgeschlossenen Projektes gesprochen. Dabei haben wir erfahren, dass Wien tatsächlich nicht Chicago ist. Angst vor dem Leben in der Stadt ist in Wien vergleichsweise wenig verbreitet, was auf eine bewundernswert vernünftige Einschätzung der Lage schließen lässt, denn der bei weitem gefährlichste Ort ist nach wie vor die eigene Wohnung bzw. das eigene Heim und keineswegs der öffentliche Raum. Die Mehrzahl der Gewaltdelikte wird nicht vom unbekannten Fremden verübt, sondern viel eher vom eigenen Ehemann oder den lieben NachbarInnen.
Die aktuellste Kriminalstatistik berichtet von einem starken Anstieg von Diebstählen und Raubüberfällen in Österreich und speziell in Wien. Ob die Statistik damit die tatsächliche Situation wiedergibt, ist zweifelhaft, weil es erstens Änderungen in der statistischen Erfassung der Straftaten gegeben hat und die Polizei auch einen gewissen Spielraum bei der Beurteilung von Delikten hat, wie sich beispielsweise in New York vor und nach der Einführung von zero tolerance gezeigt hat. Fühlt sich die Polizei von den Regierenden benachteiligt und will mehr finanzielle Mittel oder Personal, werden ungeklärte Todesfälle eher zu ungeklärten Morden, will man sich bei der Politik über Maßnahmen bedanken (z. B. Einführung von zero tolerance), werden Selbstmorde daraus und schon sieht die Statistik besser aus.
Ein geplantes Interview mit zwei niederländischen Kriminalsoziologinnen, die ebenfalls an Insecurities in Cities beteiligt sind, kam leider nicht zu Stande, wird jedoch nachgeholt und erscheint in einer der nächsten Ausgaben.
Michael Zinganels Artikel new urbanism zwischen Agoraphobie und künstlichem Paradies: Auf dem Weg zur gated community ist eine thematisch erweiterte Version seines bereits erwähnten Artikels Architecture of Fear und zugleich der Vorabdruck eines Kapitels seines Buches Real Crime – Architektur, Stadt und Verbrechen, das demnächst bei der edition selene erscheinen wird. Michael Zinganel zeichnet die Entwicklung vom „Tod der modernen Architektur“ (Charles Jencks) bis zur gated community nach: von Jane Jacobs und ihrem Konzept der social control über Oscar Newman bis zu Barry Poyner, der u. a. eine Segregation der BewohnerInnen nach dem Einkommen vorschlägt. André Krammer schreibt in seinem Artikel Labyrinthe und paranoide Maschinen – Stadt, Paranoia und Antiparanoia über die Prägung des Bewusstseins der StadtbewohnerInnen durch paranoide und antiparanoide Heimsuchungen und Konzeptionen. Paranoia bedeutet dabei die Annahme geordneter Systeme (alles ist verknüpft), bezeichnet aber gleichzeitig die Ängste einer individualisierten, entsolidarisierten Gesellschaft, in der sich einzelne Gruppen von anderen abzugrenzen suchen. Antiparanoia meint den Zustand einer radikalen Fragmentierung (nichts scheint verbunden), der Zersplitterung von Raum und Gesellschaft. Im Diskurs zur Moderne werden beide Zustände noch dialektisch gedacht. Gegenwärtig scheinen sich beide Zustände und Annahmen zunehmend ineinander zu verschränken.
Wie für André Krammer sind auch für Wolfgang Pircher die Londoner Armenviertel ein Anknüpfungspunkt. Pircher zeigt in seinem Artikel Das Ungeheuer der großen Stadt, wie die Bevölkerung, die im 17. und 18. Jahrhundert als Reichtum der Nation galt und deswegen lebens- und arbeitsfähig gehalten werden musste, mit Malthus’ Bevölkerungsgesetz plötzlich als Quelle für Armut „entdeckt“ wurde. Die ArbeiterInnenklasse galt nun als „gefährlich“ und „geheimnisvoll“.
Kriminalitätsfurcht und Kriminalität sind Phänomene, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben, stellt Herbert Glasauer in seinem Artikel Stadt – Raum – Angst. Überlegungen zu einem aktuellen Kuriosum fest. Die Beurteilung einer antizipierten Gefahr im öffentlichen Stadtraum ist eingebunden in einen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozess, der die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit und Unsicherheit deutlich macht. Nicht die Konfrontation mit gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten im öffentlichen Raum löst Angst aus, sondern die Vorstellung, den Normen selbst nicht entsprechen zu können. Gefordert ist die Aneignung urbaner Kompetenz im Rahmen eines kollektiven und zugleich emanzipatorischen Lernprozesses, eingebunden in eine zivile Gesellschaft.
„Angst ist eine Schlüsseltechnologie der Macht“, weist annaconda in ihrem Text Angst als Technologie in der Kontrollgesellschaft nach. Angst wird gezielt als politisches Instrument in einer Gesellschaft eingesetzt, in der Aggression und Anpassung das Lustprinzip verkümmern lassen. Architektur ist Komplizin einer kulturellen Ideologie, die Andersartigkeit fürchtet und sich durch Verbote und Tabus absichert.
Der Schwerpunkt beginnt mit einem Text von Elisabeth Blum. Ihre Fotos begleiten die Texte des Schwerpunktes. Sie wurden in Ipanema und Heliopolis, einer 100.000 EinwohnerInnen großen Favela im Südosten Sao Paulos, aufgenommen. Ipanema wird in Fremdenverkehrsprospekten als „Tor zu Rio de Janeiro“ beworben, zeichnet sich aber viel eher durch die Tore aus, die eine Großzahl der Gebäude verbarrikadieren. Fand man diese Tore früher nur in den Vierteln der Reichen, haben sie nun auch in den Favelas Einzug gehalten. „Sicherheit ist zum klassenübergreifenden Begehren geworden“, schreibt Elisabeth Blum über diese Entwicklung.
Im Projektteil gibt es diesmal zwei Interviews, eines mit dem KünstlerInnen-Kollektiv Reval über seine Expedition Cartographies of Life und das zweite mit Christoph Steinbrener über die Operation Figurini. Dazu gibt es eine Präsentation der Schablonengraffitis von Banksy, die derzeit in der Kunsthalle Exnergasseim WUK in Wien ausgestellt werden.
Manfred Russo ist mit seiner Serie Geschichte der Urbanität mittlerweile bei Teil sechs angelangt und sorgt damit dafür, dass wir uns auch am sommerlichen Strand weiterbilden können: Die Romantik – Der städtische Anti-Raum bricht herein.
Dazu gibt es wie immer Ausstellungs- und Buchbesprechungen sowie Kolumnen von Jonas Marosi, Christina Nemec und Ljubomir Bratic.

Einen erholsamen Sommer wünscht (sich)
Christoph Laimer


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