Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Wieder einmal gibt es zwischen den Artikeln in dérive inhaltliche Verbindungslinien, die so ursprünglich gar nicht beabsichtigt waren. Oft werden mir diese selbst erst bei der Layoutkorrektur klar, wenn ich alle Texte noch einmal lese, um hoffentlich die allerletzten Fehler, über die zuvor alle inklusive mir drüber gelesen haben, zu finden („Surkamp“ habe ich diesmal glücklicherweise noch entdeckt, „Princton“ das letzte mal leider nicht; wobei ich mich ja dann trotzdem immer frage, wieso einem ein Fehler wie „Surkamp“ nicht schon beim ersten Mal Lesen auffällt).

Der Schwerpunkt hat diesmal das Thema Stadt und Comic und wurde fast vom selben Team, das vor einem Jahr den Schwerpunkt Cinematic Cities/Stadt im Film redaktionel­l betreut hat, zusammengestellt: Thomas Ballhausens, Günter Krenns und Ines Wagners Anliegen beim vorliegenden Heft ist es, „mit der Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Beiträge sowohl die grundsätzlichen Elemente der untersuchten Wechselbeziehung zu skizzieren und in neue Kontexte einzubetten als auch Perspektiven auf bisher kaum beachtete oder gar bearbeitete Felder zu eröffnen“. Wohl bekannte und gut erforschte Aspekte des Themas wurden hingegen ausgespart – wer sich über den dérive-Schwerpunkt hinaus mit dem Thema beschäftigen will, findet auf Seite 36 eine Auswahlliste an empfehlenswerter Sekundärliteratur. Der Schwerpunkt umfasst diesmal nicht nur Texte, sondern auch mehrere Bildbeiträge – natürlich in Form von Comics. Herzlichen Dank an die ComiczeichnerInnen Axel Laimer, Birgit Scholin, Jörg Vogeltanz und Anna-Maria Jung, dass sie ihre Arbeiten für dérive zur Verfügung gestellt haben. Diese Vielzahl an Bildbeiträgen ist auch der Grund dafür, dass diesmal das Kunstinsert ausfällt. Im nächsten Heft wird diese Serie mit einer Arbeit von Ralo Mayer wieder aufgenommen.

Nicht zuletzt, weil uns die Präsentation von dérive 34 mit dem Schwerpunkt Arbeit Leben im Wiener Rochuspark viel Spaß gemacht hat, wird auch dieses Heft im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert werden. Am 4. Juni ist dérive im Literaturhaus Wien zu Gast, wo die AutorInnen des vorliegenden Schwerpunkts zum Thema Stadt und Comic diskutieren werden. Zu diesem Zeitpunkt findet dort nämlich auch die von Thomas Ballhausen kuratierte, sehenswerte Ausstellung Sequenced Worlds statt, was sich glänzend trifft. Wie immer wird natürlich auch an diesem Abend das Feiern nicht zu kurz kommen! Rund drei Wochen später, Ende Juni, geht es mit den dérive-Veranstaltungen gleich weiter: Heft 36 wird im Wiener Stuwerviertel vorgestellt werden, das mit all seinen Problemen, Hoffnungen und Perspektiven, die prototypisch für ähnliche Stadtteile in anderen europäischen Städten stehen, das Thema für den Sommer-Schwerpunkt bildet.

Der oben erwähnte Strang, der die Beiträge dieses Heftes über den Schwerpunkt Stadt und Comic hinaus verbindet, hat mit der omnipräsenten Wirtschaftskrise zu tun: Krisen verlangen nach Helden, und wo findet man größere Helden als in Comics? Wenngleich es selbst Comichelden immer schwieriger haben, ihren Glanz zu bewahren. Der Wirtschaftsforscher Hannes Leo erklärt uns im Magazinteil, was die Ursachen der Krise sind – Helden ortet er allerdings weit und breit keine. Vielmehr befürchtet er, dass die Lehren aus der Krise wohl nur dann zu wirklichen und wirksamen Reformen führen werden, wenn sie uns noch viel heftiger trifft als bisher geschehen. Welche langfristigen Auswirkungen die Krise beispielsweise auf die US-Suburbs und die Stadtentwicklung insgesamt haben wird, ist in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht abzusehen: 2,2 Millionen Familien haben 2008 in den USA ihr Haus verloren, die Kredite von acht Millionen HausbesitzerInnen, die sie für ihre Immobilien zurückzahlen müssen, sind höher als der aktuelle Wert der Häuser.

Wenn eine Stadt in den letzten Jahren nicht mit dem Wort Krise in Verbindung gebracht werden konnte, dann ist es Dubai. Eine Rekordmeldung nach der anderen wurde kolportiert – über das elende Leben der Bauarbeiter und ihre miese Bezahlung war schon weit weniger zu hören. Doch auch Dubai steckt nun mitten in der Krise. Am momentan höchsten Gebäude der Welt, dem Burj Dubai, wird trotz stark fallender Immobilienpreise derzeit zwar noch gebaut, für das aktuellste Prestigeprojekt, den Nakheel Towe­r mit veranschlagten 1140 m Höhe, wurde die Planung aber krisenbedingt ausgesetzt, und die Flotte der internationalen ManagerInnen verlässt zu Tausenden das möglicherweise sinkende Schiff. Elisabeth Blum und Peter Neitzke porträtieren in ihrem Beitrag, den sie vorausschauend Dubai, ein Zwischenbericht genannt haben, eine Stadt, die mit dem, was wir uns darunter vorstellen, wenig bis nichts zu tun hat. In Dubai gibt es nichts, was nicht der privaten Profitmaximierung untergeordnet ist; öffentlicher Raum existiert de facto nicht. Der Beitrag lässt vermuten, dass selbst die klassischen Superhelden, die wir aus den Comics kennen, kaum Interesse haben würden, für eine so wenig urbane, leblose Stadt ihre Kräfte zu vergeuden. Keine Spur von Gotham City.

Manfred Russo setzt seine Serie zur Geschichte der Urbanität in der 26. Folge mit einem weiteren Text zur Moderne fort. Im Zentrum steht wiederum der Newskij Prospekt in St. Petersburg und der Kampf um Anerkennung. Diesmal aus der Sicht von Dostojewskijs Mann aus dem Untergrund, dem kleinen Beamten, der nichts freudiger und zugleich verbissener herbeisehnt als auf dem Newskij Prospekt mit einem Offizier zusammenzustoßen, um der Klassengesellschaft zumindest einen kleinen Stoß zu versetzen.

Der hintere Teil des Heftes bietet wie immer zahlreiche Besprechungen von Büchern und Ausstellungen. Der Platz war ein weiteres Mal nicht ausreichend, um die Vielzahl interessanter Publikationen und Ausstellungen abzubilden, weswegen ich auf unsere Website www.derive.at verweise, wo sich weitere aktuelle Besprechungen finden. Die dérive-Website, die bisher fast ausschließlich der Heftpräsentation, der Abo-Bestellung sowie gelegentlichen Veranstaltungsankündigungen diente, wird in den nächsten Monaten übrigens eine erhebliche Aufwertung erfahren: Im Hintergrund wird bereits heftig gewerkt, damit sich die Website in mehreren Schritten zu einer interaktiven Plattform für Stadtforschung wandelt. Mehr dazu demnächst an dieser Stelle. Bis dahin viel Spaß mit der Superhelden, Superkrisen, Super-Stadtwahnsinn-Ausgabe Stadt und Comic wünscht

Christoph Laimer


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