Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Selten wurde in den letzten Jahren so nachdrücklich bewiesen, welch wichtige Funktion der öffentliche Raum für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung erfüllt wie in den letzten Wochen und Monaten in den arabischen Ländern. Wer hatte bisher schon eine Ahnung davon, wie zentrale Plätze in Manama/Bahrain oder Kairo heißen? Mittlerweile ist der Tahrir-Platz, der bereits vor dem Umsturz „Platz der Befreiung“ hieß, in aller Munde. Fast täglich sehen wir Bilder von Demonstrationen auf den Straßen von Sanaa, Bengasi und immer öfter auch aus Städten in Syrien, Algerien, Saudi-Arabien und weiteren Staaten. Es zeigt sich auch, dass facebook, twitter, youtube und Co. den öffentlichen Raum nicht ersetzen, sondern ihn vielmehr zu ergänzen vermögen. Die Online-Kommunikationsmittel eignen sich gut, um Informationen zu verbreiten, Treffen zu koordinieren und über Ereignisse zu berichten. Ohne mächtige Demonstrationen und Kundgebungen auf Straßen und Plätzen, die der landeseigenen und der Weltbevölkerung die Berechtigung und Dringlichkeit der Forderungen vor Augen halten, hätte es in Tunesien und Ägypten jedoch sicherlich weder Rücktritt noch Umsturz gegeben. Bleibt zu hoffen, dass noch weitere Despoten den Flieger besteigen müssen und es in der Folge möglich wird, langfristig freie Gesellschaften zu etablieren, die den Menschen die Chance bieten, ihr Leben nach individuellen Vorstellungen zu gestalten. Nachdenklich sollten die Bilder der letzten Wochen auch die Zivilgesellschaften in den westlichen Ländern stimmen: Es wäre sicher nicht von Schaden, die beeindruckenden Revolten in der arabischen Welt zum Anlass zu nehmen, sich Gedanken über die Grundlagen, Einschränkungen und Fehl­entwicklungen der eigenen Gesellschaften zu machen.

Die vorliegende Ausgabe, dérive 43, beginnt mit einem Artikel über Murals in Belfast des Grazer Historikers und Fotokünstlers Mario Liftenegger und setzt damit das Thema Kommunikation auf Hausmauern fort, das Peter Wendl in der letzten Ausgabe von dérive mit The Mythological City begonnen hat. Besonders interessant zeigen sich die Veränderungen, welche Murals im Laufe der Jahrzehnte parallel zu den politischen Verhältnissen erfahren haben. Lifteneggers Text beinhaltet daher auch einen Rückblick auf die jüngste Geschichte Nordirlands und ihre politischen Kämpfe.

Roland Tusch zeichnet in seiner Analyse der Städtebaulichen Strukturen in Warschau ein Bild der polnischen Hauptstadt am Beginn des 21. Jahrhunderts und schildert die vielen unterschiedlichen Stile und Epochen zwischen sozialistischem Realismus und Investorenstädtebau, Nachkriegs- und Antimoderne, Tabula Rasa und Rekonstruktion, die Warschau in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Thomas Lenz betitelt seinen Beitrag mit dem Karl Kraus-Zitat „Walhalla ist ein Warenhaus“ und widmet sich den Debatten, die mit der Eröffnung der ersten Warenhäuser in deutschen Großstädten zwischen Kleinhandels-Proletariern und Warenhauskapitalisten geführt wurden und schließlich zur Erfindung des Mittelstands führten. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung sind die Unterschiede in der Entwicklung und der Ausprägung der Moderne zwischen den angloamerikanischen Ländern und Deutschland.

Rund hundert Jahre später gibt es in Berlin wieder eine Debatte um ein Warenhaus, diesmal ist es nicht das Kaufhaus Wertheim, sondern das Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, das hauptsächlich von vietnamesischen Geschäftsleuten und KundInnen betrieben und frequentiert wird. Benjamin Kasten, Ricarda Pätzold und Nikolai Roskamm zeigen auf, welche unterschiedlichen Auffassungen zwischen Stadtpolitik und Stadtplanung im Spannungsfeld zwischen Zentrenschutz und städtebaulich unerwünschtem Wildwuchs sowie den speziellen Voraussetzungen, Notwendigkeiten und berechtigten Anliegen, die es für ein funktionierendes ethnisches Unternehmen wie das Dong Xuan Center gibt, bestehen.

Geplante Stadterneuerungsprojekte in Épinay-sur-Seine, einer nördlich von Paris gelegenen Stadt, sind Thema des Beitrags von Felicitas Wettstein ebenso wie die Frage was Architektur und Städtebau berücksichtigen müssen, damit räumliche Interventionen entwickelt werden können, welche die Bevölkerung mit einschließen, über Jahrzehnte eingeübte Vorgangsweise hinterfragen und neue Handlungsmöglichkeiten schaffen. Darüber hinaus bietet der Text auch einen kurzen Rückblick auf die unheilvolle Geschichte der Stadtentwicklungsprojekte in den Banlieues.

Mit einer Fragestellung, die nach der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan bittere Tagesaktualität gewonnen hat, beschäftigt sich der Geograph Andreas Haller in seinem Artikel Mensch Stadt BergPost-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru. Wie müssen geeignete Strategien zur langfristigen Minderung von sowohl sozioökonomischen als auch von Georisiken aussehen? Ein Erdbeben im Jahr 1970 zerstörte große Teile Nord­perus. Eine dadurch ausgelöste Eis- und Schlammlawine begrub damals die Stadt Yungay unter sich. Andreas Haller zeichnet die Entwicklung seither rund um Top-Down-Verordnungen, Hilfsprojekte und Bevölkerungsinitiativen nach. Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität startet in diesem Heft die dreiteilige Abhandlung New York. Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960, mit Teil 1 Selbststeigerung. Horizontale und Vertikale Kinetik. Informiert werden wir darin unter anderem über Bauernhöfe im dritten Stock des Waldorf Astoria Hotels und Golfplätze im siebten Stock des Downtown Athletic Clubs. Und nur keine Sorge: Jane Jacobs und Robert Moses kommen selbstverständlich auch vor.

Aus Platzgründen mussten wir einige der zahlreichen Besprechungen auf die Website www.derive.at transferieren.Welche das sind, können Sie im Inhaltsverzeichnis nachlesen. Das Kunstinsert in der Mitte des Heftes stammt diesmal von der slowenischen Künstlergruppe IRWIN, mehr dazu auf S. 32.


Heft kaufen