Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Vor wenigen Wochen feierten die BesetzerInnen der Häuser des Hamburger Gängeviertels den dritten Jahrestag. Wie viele andere Gebäude in zahlreichen Städten, standen die 12 Häuser des Gängeviertels jahrelang leer und waren dem Verfall preisgegeben. Das nicht ganz ohne Grund, denn ihr niederländischer Besitzer spekulierte auf Verfall und Abriss, um anschließend mit hochpreisigen Wohn- und Bürogebäuden kräftigen Profit zu machen. Die alten Arbeiterwohnhäuser des Gängeviertels beherbergen heute zahlreiche Ateliers, Werkstätten, soziale Projekte, Wohnungen und sind ein beliebter Kulturort und Treffpunkt. Mehr über das Gängeviertel kann im gerade erschienen Buch nachgelesen werden, dass es für kurze Zeit übrigens auch als Geschenk zum dérive-2-Jahres-Abo gibt. Die erfolgreiche Besetzung des Gängeviertels hat nicht nur StadtaktivistInnen in Hamburg, sondern in vielen weiteren Städten Auftrieb gegeben und gezeigt, was möglich ist, wenn Zeitpunkt, Vorbereitung und Umstände stimmen. Wie langfristig solche Ereignisse nachwirken können und wie wichtig sie für urbane Bewegungen sind, kann man sehr gut an Wien sehen, wo die Besetzung der Arena vor mehr als drei Jahrzehnten noch immer einen wichtigen Bezugspunkt darstellt.
Nachdem in den 1990er Jahren die Sehnsucht nach dem Häuschen im Grünen zu einer starken Suburbanisierung geführt hat, gewinnt das Leben in der Stadt wieder stark an Attraktivität. Neben den EinwohnerInnenzahlen steigen damit aber auch die Ansprüche an die Lebensqualität in der Stadt, was wiederum zu verstärktem Engagement für die Nutzung und Gestaltung des städtischen Lebensumfeldes und der öffentlichen Räume führt. Der aktuelle Urban Gardening Hype ist ebenso dieser Entwicklung geschuldet wie die schwindende Akzeptanz, den öffentlichen Raum in Form von Straßen überwiegend den Autos zu überlassen. Der Verteilungskampf um den Straßenraum hat begonnen, was man in Wien nicht zuletzt an der Aggressivität der Debatte Auto vs. Rad und den Versuchen mancher Lobbys, Fahrrad fahren zu bürokratisieren und unattraktiver zu machen, spürt. Erfreulicherweise scheint aber auch die Stadt Wien die Zeichen der Zeit zu erkennen und dem Thema Verkehr und Lebensqualität hohe Aufmerksamkeit einzuräumen.
All diesen Tendenzen widmen wir nicht nur den Schwerpunkt dieses Heftes, sondern auch unser Festival ur3anize!, das von 5. bis 14. Oktober zum dritten Mal stattfindet. Sollten Sie dieses Heft rechtzeitig in der Hand halten, werfen Sie einen Blick auf http://www.urbanize.at/2013. Das Programm steht ganz im Zeichen von Engagement und Intervention und umfasst Vorträge und Diskussionen, Best Practice und künstlerische Interventionen, dérives und Stadtspaziergänge, den Filmschwerpunkt Stadt filmen – von unten, zahlreiche Workshops und eine Nightline in der Festivalzentrale Schraubenfabrik, wo ur3anize! für 10 Tage einen Raum fürs vernetzen, austauschen und Ideen auskochen eröffnet.
Das Schwerpunktheft Stadt selber machen wirft mit Ellen Bareis einen Blick auf die (Theorie-)Geschichte urbaner sozialer Bewegungen. Juan Haro von Movement Justice for El Barrio erzählt im Interview über die erfolgreichen Kämpfe seiner Initiative gegen Wohnungsspekulanten in East Harlem/New York, die mexikanische Botschaft und über den Aufbau der bemerkenswerten Bewegung. Elke Krasny untersucht in ihrem Artikel die sprachlichen und ideologischen Zusammenhänge zwischen der Produktion des Raums und der Produktion der Sprache am Beispiel der historischen Laubenkolonien in Berlin. Und natürlich darf bei einem Schwerpunkt zu Stadt selber machen ein Beitrag über Hamburg nicht fehlen. Verfasst hat ihn Nicole Vrenegor, die selbst im Netzwerk Recht auf Stadt aktiv ist. Sie lässt die Ereignisse der letzten drei Jahre nicht chronologisch vorbeiziehen, sondern verknüpft sie mit verschiedenen Stationen der Buslinie 3, die quer durch Hamburg führt. Genaueres zum Schwerpunktthema und den einzelnen Beiträgen im Einleitungsartikel ab Seite 4.
Das Kunstinsert führt wieder zum Thema Radfahren. »Ein neues Zeitalter des Fahrrades hat begonnen«, lässt uns Rainer Ganahl wissen und fordert in seinem Manifest schlicht und einfach »50% Bikeways«. Ein guter Anfang wie wir meinen. Im Magazinteil sehen sich Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Christoph Stoick die aktuelle Situation der Wiener Gebietsbetreuungen an und fragen sich, wie deren Zukunft aussehen könnte. Befürchtet wird eine zunehmende Inanspruchnahme der Gebietsbetreuungen für die Interessen des Stadtmarketings und die Aufwertung von Stadtteilen ohne einer kritischen Standortbestimmung und der Beurteilung des eigenen Wirkens. Als Ergänzung zum Schwerpunkt und Verweis auf die Broschüre [Your] Right to the City, die wir am 6. Oktober gemeinsam mit KuKuMa und dem Rechtsinfokollektiv im Rahmen von ur3anize! veröffentlich-en, hat Angelika Adensamer einen Artikel über den öffentlichen Raum aus rechtlicher Sicht beigesteuert. Die Rechtfibel [Your] Right to the City informiert über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Aktionen, Demonstrationen und Interventionen im öffentlichen Raum. Thomas Ballhausen wandelt schließlich auf den Spuren des für die Aktivitäten der Situationistischen Internationale wichtigen Begriffs der Psychogeographie und untersucht, inwiefern man ihn auf literarische Werke anwenden kann. Manfred Russos 38. Teil der Serie Geschichte der Urbanität durch-streift diesmal Los Angeles und Ost-Asien. Die zentralen Protagonisten sind die Generic City und Rem Koolhaas. Viel Vergnügen beim Streifzug durchs Stadt selber machen. Die nächste Ausgabe – dérive Nr. 50! – erscheint Anfang 2013. Wir widmen dieses runde Jubiläum dem schönen Thema Straße.

Christoph Laimer


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