Ljubomir Bratić

Ljubomir Bratić lebt als Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist, Aktivist und Flüchtlingsbetreuer in Wien.


Vielleicht sollten wir jetzt einmal den Blick von solchen Gebilden wie dem Staat abwenden, um eine bestimmte Praktik wahrzunehmen, durch die solche Gebilde objektiviert werden. Anstatt zu glauben, es gebe da eine Sache, die sich »die MigrantInnen« nennt, die dem »National- und Sozialstaat« gegenüber steht und sich verhält, reagiert, agiert usw., versuchen wir mal davon auszugehen, dass die MigrantInnen als im Raum bewegliche Individuen zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Praktiken konfrontiert sind.
Wir leben in einer Zeit, in der die Regierungen von Bevölkerung ausgehen. Die DemografInnen messen sie, die PsychologInnen untersuchen, und ÄrztInnen und TherapeutInnen sorgen für die physische und psychische Gesundheit. Es sind Farmen mit Tieren, die da gepflegt werden, und wenn die Anzahl dieser, aus welchem Grund auch immer, kleiner wird, macht man sich öffentlich Sorgen. Das sind wiederum die Probleme, die wir unter den Bezeichnungen »zu wenige Kinder«, »Veralterung«, Mortalität«, »Natalität« usw. kennen. Manche reden in diesem Zusammenhang von der »weißen Pest«. Die Bevölkerung, die Rechtssubjekte, denen bestimmte Dinge verboten sind, die sich aber außerhalb dieser Verbote frei bewegen können, sterben aus. Und dafür brauchen wir die MigrantInnen, so die DemografInnen, aber nicht nur sie. Um den Wohlfahrts- und Sozialstaat zu erhalten, wird ein Volksbegehren organisiert, in dem empfohlen wird, diese MigrantInnen, die so sehr gebraucht werden, netter zu behandeln. Toleranter zu sein. Nicht die Rechte der Menschen sollen angeglichen werden, sondern sie dürfen in Zukunft auch Objekte der Toleranz neben denen der Ausbeutung sein. Die Hunde sollen nicht nur den geworfenen Stock abholen, sondern sich auch freuen, wenn sie gestreichelt werden. Schließlich gibt man ihnen aus dem reichen Haushalt genug zu essen. Das sind die Haltungen, die hier präsentiert werden und die bei der Objektivierung der MigrantInnen eine Rolle spielen.
Hier werden die gleichen Praktiken angewandt wie auch unter der großen Koalition in Österreich und wie sie auch jetzt unter der rechtsliberalen Regierung gepflegt werden. Die Herde, um die sich die Elite der MeinungsmacherInnen kümmert, besteht nicht aus MigrantInnen.
Es kann sein, dass diesen Menschen hier gar nicht bewusst ist, was passiert. Es ist einfach so, wie es ist, und es erscheint unveränderbar, weil es eben den Nationalstaat, die Grenze, die Souveränität, Pensionen usw. gibt. Die InitiatorInnen des Volksbegehrens nehmen die gleichen Rechte für sich in Anspruch wie die Regierung, gegen die sie auftreten, weil es so ist, wie es ist: Sie sind StaatsbürgerInnen und nicht ein(e) Einzige(r) von fast 800.000 MigrantInnen (ohne die Illegalisierten dazu zu zählen). Und weil sie StaatsbürgerInnen sind, finden sie sich als StaatsbürgerInnen natürlich nicht in der Rolle der MigrantInnen, sie sind auf der anderen Seite der Grenze und versuchen deswegen auch nicht, die bestehenden Gesetze zu ändern. Ich will nicht unterstellen, dass sie bewusst ein solches Ziel verfolgen. Was sie fordern, ist aber genau das, und insofern ist hier uninteressant, was sie meinen. Oder sind sie sich dessen doch bewusst, aber haben keinen Begriff davon? Sie verfolgen einfach ein Regelsystem, das den MigrantInnen einen genauen Platz zuweist. Sie können das, was sie sich vorstellen, nicht ausdrücken, und insofern belassen sie alles beim alten. So wie ihre Vorstellungen ist auch ihre Haltung gegenüber MigrantInnen konservativ. Ich werfe sie hier selbstverständlich nicht in die gleiche ideologische Küche wie die gegenwärtige Regierung in Österreich, ihre Handlungen sind aber gleich. Damit die MigrantInnen von ihnen überhaupt wahrgenommen werden, müssen sie Objekte sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Objektivierung möglicherweise aus Freundschaft, Liebe, Begierde usw. stattfindet. Dieses Objekt scheint ihre Äußerungen zu bestimmen, indem sie zur Toleranz aufrufen, aber ihre Handlungen haben zuvor diese Objekte bestimmt, indem sie ihnen einen klaren Platz zugewiesen haben. Ein Teil der Herde wird von ihnen umsorgt, der andere geführt, getrieben und toleriert. Und sie erblicken darin keinen Widerspruch. Sie sind als Angehörige der Elite imstande, mit Ideologisierungen und Vernebelungen ihre Praktiken zu umgehen, zu verdecken, indem sie sie verklären. Was sie uns sagen, ist unbemerkt, aber bestimmt: Alles soll so bleiben wie es war. So wie es ist, ist es gut, so wie es war, war es noch besser.
Es ist klar: Als Privilegierte müssen sie sich nicht als Privilegierte erkennen, um die Privilegien zu behalten; sie müssen nur wissen, wo die Privilegien liegen. Eben in der Ungleichbehandlung. Für die Angehörigen der Mehrheit versteht es sich von selbst, Angehörige der Mehrheit zu sein. Das heißt nicht, dass die OrganisatorInnen des Sozialstaatsvolksbegehrens nicht wissen, was sie tun. Ganz im Gegenteil - sie gehören zu denjenigen, die es am ehesten wissen. Sie tun es trotzdem, weil es so ist. Um die MigrantInnen entrechtet zu halten, braucht man den Staat mit seinen Gesetzen und die Menschen. Und diese Menschen müssen ein Bewusstsein haben von dem, was sie tun, sie müssen sich bestimmten sozialen Regeln unterziehen und eine entsprechende Ideologie haben. Dies alles zusammen ergibt die Verhaltensweise gegenüber den MigrantInnen in Österreich. Und somit ist es egal, dass dieses SPÖ/Grüne/Gewerkschaften-Volksbegehren weniger Stimmen erhalten hat als das FPÖ/Krone-Volksbegehren vor einigen Monaten. Ob Sie es unterzeichnen haben oder nicht: Das Sozialvolksbegehren ist ein antirassistisches Nullsummenspiel und ein weiterer rassistischer Volltreffer.


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