Ursula Maria Probst


In den vergangenen acht Jahren ist die Kyiv Biennale zu einem wichtigen Festival für zeitgenössische Kunst in der Ukraine und in Europa geworden, das nachhaltig Wirkung darin zeigt, ukrainische Künstler:innen international zu positionieren. Einfallsreich darin, gegen die barbarische Logik des Krieges anzukämpfen, konnte sie ihre fünfte aktuelle Ausgabe trotz der durch den andauernden russischen Aggressionskrieg bewirkten schwierigen existentiellen, budgetären und logistischen Ausgangssituation wie geplant am 4. Oktober 2023 in Kyjiw eröffnen.
        Gestartet wurde im Dvzenko Centre mit der von Stanislav Bytyutskyi, Aliona Penzi und Oleksandr Telluk kuratierten Ausstellung The River Wailed like a Wounded Beast. Am 6. Juni 2023 sprengten russische Truppen den Staudamm des Kachowka-Stausees und begingen damit ein weiteres Kriegsverbrechen während ihres groß angelegten Einmarschs in die Ukraine. Die sozialen und ökologischen Folgen dieses Ereignisses werden sich erst in der Zukunft zeigen. Die Ausstellung nimmt diesen Vorfall zum Anlass, um die durch die sowjetische Modernisierung ausgelösten Prozesse zu untersuchen: den Bau einer Kaskade von Wasserkraftwerken am Dnipro und die ideologische Aufwertung der Wasserressourcen der Ukraine. Gezeigt werden Filme von Dzyga Vertov, Oleksandr Dovzhenko, Ivan Kavaleridze, Arnold Kordium und Yulia Solntseva. Angeregt wird, vor dem Hintergrund der politischen Entkolonialisierung der Ukraine und der Befreiung von russischer Besatzung und imperialem Einfluss, nach subtilen Wegen der Entkolonialisierung der Natur zu suchen. Am 27. Oktober wurde im polnischen Lublin unweit der ukrainischen Grenze eine Ausstellung mit Werken von Maler:innen, Fotograf:innen und Musiker:innen der ukrainischen Streitkräfte eröffnet, von denen einige noch an der Front sind und andere sich von Verletzungen erholen. Es folgten Eröffnungen in Ivano-Frankivsk, Lublin, Antwerpen, Uzhhorod und Wien. Die Kyiv Biennale 2023 zählt zu den wichtigsten und nachhaltigsten internationalen Kunstveranstaltungen des Jahres 2023, die in ihrem Selbstverständnis als Solidaritätsveranstaltung europäische Institutionen und Independent Spaces einander näherbringt.
        Serge Klymko, der gemeinsam mit Hedwig Sachsenhuber und Georg Schöllhammer (den Gründungskurator:innen der Biennale) den Hauptteil der diesjährigen Biennale in Wien kuratierte, ist wieder retour in Kyjiw. Im Unterschied zu den an der Biennale beteiligten Künstlern – ukrainische Männer dürfen nach geltendem Kriegsrecht das Land nicht ohne Sondergenehmigung verlassen – konnte Klymko sich als Kurator für einen Monat in Wien aufhalten. Autonom vom Staat oder von von Oligarch:innen beauftragten Agenturen wird die Kyjiw Biennale von der Europäischen Union und von amerikanischen und europäischen Stiftungen finanziert. Was zählt, ist die enorme Kraft der künstlerischen Arbeiten, Installationen, Interventionen und investigativen Dokumentationen, die im Dialog mit den desaströsen Auswirkungen des Krieges stehen und laut Kurator:innen nach Ausstiegsstrategien suchen. Vasyl Cherepanyn, der Gründer des Kiewer Forschungszentrums für visuelle Kunst, das die Biennale bereits in den vergangenen Jahren organisierte, sah sich aufgrund der aktuellen Situation mit enormen Maßnahmen zur Umorganisation konfrontiert. Laut Georg Schöllhammer soll durch die Biennale die Diaspora ukrainischer Künstler:innen, die über ganz Europa verstreut ist, mit in der Ukraine lebenden und internationalen Künstler:innen zusammengebracht werden. Und so soll eine Wiedervereinigung stattfinden. Nicht nur der Krieg ist Thema, sondern infolgedessen auch der Widerstand und Kampf gegen Autoritarismus und Kolonialismus.
        Wie sich die Kyiv Biennale 2023 sowohl im Format als auch inhaltlich von anderen Biennalen unterscheidet, ist bereits bei der Eröffnung im Augarten spürbar, die unter einem enormen Ansturm von vor allem jungem Publikum stattfand. Zu sehen waren Live-Performances der griechischen Künstlerin Georgia Sagri und des Multimedia-Künstlers und Musikers Boji aus Kyjiw zur Situation der queeren Szene in der Ukraine, welche die Aufmerksamkeit durch eine absolute Direktheit fesselte. Das Augarten Contemporary im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist mit insgesamt 30 Werken ein wichtiger Ort des ansonsten multizentral angelegten Projekts. Georg Schöllhammer bezeichnet ihn als »kontaminierten Raum«, da es sich um das ehemalige Atelier eines österreichischen Bildhauers handelt, der Nazi-Denkmäler schuf.
        Die künstlerische Initiative DE NE DE, die als Reaktion auf die Entkommunisierungsgesetze zur Entfernung von Reminiszenzen an die sowjetische Herrschaft in der Ukraine gegründet wurde, befasst sich mit Prozessen der Veränderungen im öffentlichen Raum in Zusammenhang mit ideologischen Verschiebungen. Gezeigt wird im Augarten in Salute (2022), ein beschädigter brutalistischer Kronleuchter aus einem Kino aus der Sowjetzeit in Dnipro. Freie Szenen der nichtkommerziellen Kunstproduktion, für die es noch immer eine Herausforderung ist, Räume, Mittel und Publikum zu aktivieren, wurden in die Biennale in Form von Installationen in Projekträume oder temporär bespielten Veranstaltungsorten wie das hoast, IG Architektur, Laurenz, Neuer Kunstverein Wien, Never At Home, Ve.sch oder Waffen Franz Kampfer eingebunden. Ein leerstehendes Büro im 20. Bezirk wird als Kunstraum Never at Home zum Präsentationsort zahlreicher Werke der LGBTQI+-Gemeinschaft aus Kyjiw. Beeindruckend die von Anton Shebetko gesammelten Zeugenaussagen homosexueller Soldaten an der Front. Die Fotografien und das Video We Where Here (2018) zeigten Veteran:innen des Krieges in Donbass, die LGBTQI+-Communitys angehören und die eine Gewerkschaft für LGBTQI+-Militärangehörige gründeten. Tanzen nimmt laut Kuratorin Hedwig Saxenhuber in der Trauma­bewältigung und in der Suche nach einem Gemeinschaftsgefühl eine wichtige Rolle ein.
        Dedicated to the Youth of the World (2023) von Yaremia Malashchuk / Roman Himev ist ein Reenactment ihres Films aus dem Jahr 2018, der die Techno-Rave-Party Cxema dokumentiert. Ambivalent in ihrem Zugang wird von der Biennale auch thematisiert, wie mit der Revolution und dem darauf folgenden Krieg im Donbas eine Zerstörung der öffentlichen Räume Kyjiws aus der Sowjetzeit einsetzte, indem Nationalist:innen ihre Aggressionen vandalistisch an Denkmälern der Vergangenheit auslebten. Das Video Missa Echologica (2021) von Anna Zilahi im Projektraum hoast lässt in eine grüne Vegetation eintauchen und setzt durch den Gesang des feministischen Chors Versányi Szirének das verblassende Echo des Anthropozäns mit feministischen Forderungen in Verbindung.
        Laut Serge Klymko war es nie die Intention des Kurator:innenteams, eine Biennale im Exil zu veranstalten, sondern es wurde durch die Aktivierung des internationales Netzwerks der Versuch gestartet, die Kunstproduktion der Künstler:innen, die in der Ukraine leben zu unterstützen und voranzutreiben. Eine Initiative, die bereits Früchte trägt. Die Biennale funktioniert als transnationales Netzwerk und Kooperation mit verschiedenen Kurator:innenteams in anderen Städten.


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