Peter Payer

Peter Payer, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.


Von der Öffentlichkeit viel zu unbemerkt ist im letzten Spätwinter die Wiener Stadtforscherin Elisabeth Lichtenberger gestorben. Von den 1970er Jahren an hat sie – wie wohl wenig andere in Österreich – für mehr als drei Jahrzehnte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stadt geprägt, dafür nationale und internationale Anerkennung und zahlreiche hohe Auszeichnungen erhalten. Es soll hier nicht der Raum sein, Lichtenbergers akademischen Werdegang und ihre umfangreichen Arbeiten, die sich in zwanzig Monografien und über 230 wissenschaftlichen Artikeln niederschlugen, detailliert nachzuzeichnen (auf den Webseiten der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gibt es dazu ausführliche Informationen inklusive benutzerfreundlicher Download-Links), vielmehr seien einige persönliche Anmerkungen gestattet.
Als ehemaliger Student von ihr hatte sie meinen beruflichen Weg mitverfolgt und so durfte ich sie in ihren letzten Lebensjahren auch privat kennenlernen. Die unglaubliche Vielseitigkeit ihrer Forschungen, verbunden mit ihrem enormen Arbeitspensum, war mir erst im Lauf der Jahre bewusst geworden. Und dabei meine ich gar nicht ihre intensive Beschäftigung mit Fragen der Physischen Geographie oder Hochgebirgsforschung, sondern allein den engeren Themenkreis der Stadtforschung.
Im Jahr 1980 begann ich am Institut für Geographie der Universität Wien Raumforschung und Raumordnung zu studieren, ein Studienzweig, der erst acht Jahre zuvor von Elisabeth Lichtenberger, mit Antritt ihrer ordentlichen Professur, gegründet worden war. Überzeugend legte sie dar, dass sich all unsere Aktivitäten immer und überall im Raum abspielen, räumliche Aspekte somit in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken seien und zwar – im Unterschied zu dem an der TU Wien gelehrten Studienzweig Raumplanung – nicht nur in planerisch-technischer Hinsicht, sondern in Form einer breiten sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Lichtenberger selbst war dafür das beste Vorbild, hatte sie doch Geographie, Geologie, Biologie, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften studiert. Mit professoraler Autorität und – es sei nicht verschwiegen – Strenge führte sie uns ein in die komplexe Welt des Städtischen, die von den vielfältigsten Nutzungsansprüchen geprägt sei. Und dies auch in der Vergangenheit stets war, wie wir auf zahlreichen Exkursionen durch Wien hautnah und vor Ort vermittelt bekamen. Diese selbstverständliche Verknüpfung der historischen Dimension mit der aktuellen Stadtentwicklung war es dann auch, die mich besonders beeindruckte. Im mondänen Innenstadtpalais, in den Zinshäusern der ehemaligen Vorstädte, im Weichbild von Simmering, stets wusste Elisabeth Lichtenberger Interessantes über die Genese und Struktur des jeweiligen Ortes zu berichten und mit Anschauungsobjekten instruktiv zu verknüpfen. Stadtforschung, die empirisch fundiert war und nicht nur am Schreibtisch stattfand – das war spannend und ansteckend.
Allmählich lernte ich ihre zahlreichen Bücher kennen, die sie bereits damals zur Stadtgeschichte von Wien verfasst hatte: Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung (gem. mit Hans Bobek, 1966), Wirtschafts- und Sozialstruktur der Wiener Ringstraße (1970), Die Wiener Altstadt (1977), Stadt-geographischer Führer (1978). Allesamt zu Standardwerken geworden, wobei letzteres noch heute ein wertvolles Vademecum für Wienexpeditionen darstellt.
Auf einer der vielen Exkursionen, diesmal in die westösterreichischen Landeshauptstädte, erhielt ich auch erstmals Einblick in ihren persönlichen Werdegang. Ein-dringlich erzählte sie uns Studierenden auf der Zugfahrt, mit welch Hindernissen sie als Frau und Wissenschafterin in einem männlich dominierten Fach konfrontiert war, damals in den 1950er/60er-Jahren, wie viel eiserne Disziplin und Durchsetzungskraft sie benötigte sowohl bei ihren Auslandsaufent-halten (sie war zuvor an Universitäten in Kanada, den USA und Deutschland tätig) als nunmehr auch in Wien. Persönliche Eigenschaften, die sie wohl ein Leben lang auszeichnen sollten, kombiniert mit einem großen Gestaltungswillen. Denn im Jahr 1988 gründete sie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das Institut für Stadt- und Regionalforschung, bis heute die wichtigste außeruniversitäre Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Urbanistik.
Als ich in diesem Umfeld meine Diplomarbeit bei ihr über Stadtverfall und Stadterneuerung in Wien verfasste, konnte ich an dieser Vielseitigkeit ebenso partizipieren wie an dem oben erwähnten detailgenauen Wissen zur Stadtgeschichte. Wie inhaltlich breit ihr stadtforscherischer Horizont war, zeigt die Vielfalt der Projekte, die sie initiierte, gemeinsam mit Kollegen und Studierenden umsetzte und letztlich publizierte: vom erwähnten Stadtverfall zur ersten Studie über Gastarbeiter in Wien (Lichtenberger selbst entstammte – als geborene Czermak – einer Zuwandererfamilie, die sich in Ottakring angesiedelt hatte) über Freizeit- und Wohnungsanalysen bis hin zur Struktur der Geschäftsstraßen und einem Vergleich der Stadtentwicklung in unterschiedlichen politischen Systemen. Wien war dabei immer wieder Ausgangspunkt der empirischen Forschung, doch ebenso unabdingbar war für Lichtenberger der Blick über die Grenzen hinweg, etwa die In-Beziehung-Setzung der Donaumetropole mit den auch historisch wichtigen Nachbarn Prag und Budapest. Neben singulären Aspekten ging es dabei stets um Grundsätzliches, was dann auch in einem ihrer wichtigsten Überblickswerke Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis (2002) zum Ausdruck kommen sollte.
Stadtentwicklung in ihrer politischen Dimension, die zentrale Bedeutung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen flossen als Selbstverständlichkeit in die Arbeit ein, die demzufolge ein hoher Praxisbezug auszeichnete. Ein Anspruch, den Lichtenberger auch in ihrer Tätigkeit im Verkehrs- und Stadtentwicklungsbeirat der Stadt Wien (1975–1984) verwirklichte und auch später bei ihren Analysen zu städtischen Perspektiven in der Europäischen Union und im globalen Kontext. Oder, um noch eine spannende Einzelstudie herauszugreifen, bei ihrer differenzierten, historisch und kulturvergleichend angelegten Untersuchung der gerade heute wieder so aktuellen Frage Wem gehört die dritte Dimension der Stadt? (2002).
Viele der Forschungen stellten Pionierstudien dar, Themen, die noch nie zuvor auf derart umfassende Weise – gestützt auf moderne EDV-Technologie – untersucht worden waren. Eindrucksvoll belegen sie das Gespür der Stadtforscherin für gesellschaftlich relevante Fragestellungen, sind darüber hinaus aber auch Zeugnis einer anhaltenden Schaffenskraft, einer wissenschaftlichen Neugier und nicht zuletzt einer ausgeprägten Lust am intellektuellen Diskurs.
Dieser hatte sich schon in den Vorlesungen gezeigt (als sie etwa an einem sommerlichen Hitzetag mit wissenschaftlicher Akribie aktuelle Wetter- und Klimaphänomene erläuterte), hatte seinen Ausdruck in zahlreichen von Lichtenberger gepflegten internationalen Kontakten und Symposien gefunden und war mir schließlich noch einmal bei einem privaten Besuch im Mai 2008 klar geworden. Nach meinem Studium hatten wir lange Zeit keinen Kontakt gehabt, nun lud mich die längst emeritierte und viel geehrte Wissenschafterin (u. a. wurde sie mit dem »Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst« ausgezeichnet und damit als erste Frau in die »Kurie Wissenschaft« aufgenommen) zu einem Gespräch in ihre Wohnung in der Schikanedergasse ein. Ich brachte ihr mein soeben erschienenes Buch über die Schweizer Stadtforscherin Else Spiller mit, das ich Lichtenberger gewidmet hatte, und in großbürgerlichem Ambiente, umgeben von unzähligen Büchern, suchte sie im Alter von 83 Jahren mit ungebrochener Leidenschaft den intellektuellen Austausch. Dass sie mich dabei in professoraler Geste mit »Lieber Herr Kollege Payer« ansprach, beschert mir noch heute ein ehrenvolles Schmunzeln.
Wir blieben in Emailkontakt, hielten uns lose über unsere Arbeiten auf dem Laufenden, tauschten Fotos aus. Im März 2015, Lichtenberger war inzwischen nach Maria Enzersdorf übersiedelt, erhielt ich ein schon älteres Foto von ihr, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann zeigt, mit dem sie mehr als 60 Jahre zusammenlebte. Darunter stand die berührende Anmerkung: »Wissenschaftler sind auch Menschen.«
Am 14. Februar 2017 ist Elisabeth Lichtenberger hochbetagt, im Alter von 91 Jahren, gestorben. Was von ihr bleiben wird? Neben der Fülle an wissenschaftlichen und institutionellen Impulsen (beide von ihr gegründeten Institute werden heute von ihrem einstigen Mitarbeiter Heinz Faßmann geleitet) wohl die offenkundige Produktivität eines weitgefächerten, interdisziplinären Zugangs – und für mich persönlich die unabdingbare Überzeugung, dass moderne Stadtforschung stets mit einem tiefen Verständnis von Geschichte einhergeht und sich erst in der intensiven Auseinandersetzung mit verschiedenen Zeitebenen die wirkungsmächtige Wechselbeziehung von städtischen Strukturen und verinnerlichten Verhaltensweisen von uns Stadtmenschen offenbart.


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Literatur
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.lichtenberger/
https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/mitglieder/lichtenberger/bio_pub.html
Elisabeth Aufhauser, Walter Matznetter: Elisabeth Lichtenberger. In: Keintzel, Brigitta & Korotin, Ilse (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Wien (u. a.) 2002, S. 469–474.