Ursula Maria Probst


Die Viennale feierte 2022 ihren 60. Ge­b­urts­tag. Mit ihrer Ausrichtung auf Film als Kunstform nahm sie in ihren Anfängen im europäischen Festivalkontext eine Vorreiter:innenrolle ein. Vergleichbar mit den Herausforderungen heute fiel die Gründung der Viennale in eine Zeit, in der es laut Viennaledirektorin Eva Sangiori »viele Konflikte zu überwinden gab«. Dementsprechend bildete die filmische Auseindersetzung mit Codes unserer Zivilsation einen Fokus des 2022er-Pro­gramms der Viennale.
        In seiner Schwarzweiß-Ästhetik und durch Close-Ups gleicht Nuit obscure – Feuillets sauvages (Les brûlants, les obstinés), das jüngste Werk des französischen linken Aktivisten und Regisseurs Sylvain George einem akkuraten Epos, einer Anklage gegen die restriktive, rückwärtsgewandte Einwanderungspolitik Europas. Sein dokumentarisch in stilisierte Bilderwelten übergleitender Film ist das Ergebnis einer Augenzeugenschaft. Sylvain George verbringt viel Zeit mit seinen Akteuren, meist männliche Jugendliche, kehrt wiederholt nach Melilla, einer Pufferzone der europäischen Migrationspolitik, zurück, wo die Migrant:innen aus dem Maghreb zusammenkommen, versucht sich in die Extrem- und Alltagssituationen der Flüchtlinge, deren Milieu, Beziehungen und temporären Allianzen einzufühlen, wird ihr Vertrauter, lebt mit ihnen und produziert seinen Film Nuit obscure – Feuillets sauvages (Les brûlants, les obstinés) im Alleingang ohne Team. Melilla, eine autonome Stadt Spaniens in Nordafrika, ein Sondergebiet der Europäischen Union für das spezielle Regeln gelten, ist sein Drehort. Melilla gleicht einer Festung, liegt an der Ostseite des Kaps der Drei Gabeln, grenzt an Marokko und ist dem Mittelmeer zuge­wandt. Als spanische Enklave in Marokko bildet Melilla eine Landgrenze zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa. Beeindruckend ist, wie stilsicher Sylvain George Geschichten der emotionalen Tortur jener, die nichts mehr zu verlieren haben, in ästhetisch reibungslos schöne Bilder fasst und, ohne zwanghaft oder didaktisch zu sein, durch seine filmische Empathie die Zuschauer:innen einlädt, sich während der 265-minütigen Spieldauer völlig auf die Situationen einzulassen. Die ästhetische Dimension der Bilder wirkt. Diese stellen einen Kontrast zur angetrof­-f­enen Realität einer ungewissen Zukunft. Die Sequenzen sind aufgeladen mit Monologen, welche die brutalen Abnabe­lungs­prozesse jener dokumentieren, die ihre Familien verlassen, um nach Europa aufzubrechen mit dem Bewusstsein der Verantwortung gegenüber ihren Ange­hörigen, die sie zurückgelassen haben.
        Inspiriert von einem tragischen Vorfall, der als Kabou-Affäre (benannt nach der Beschuldigten Senegalesin Fabienne Kabou) in Frankreich mediales Aufsehen erregte, erzählt die Dokumenta­ristin Alice Diop (selbst senegalesischer Herkunft) in ihrem ersten Spielfilm die Geschichte der Studentin Fabienne, die angeklagt wurde, ihr Baby im Meer ertränkt zu haben. Saint Omer spielt vorwiegend im Gerichtssaal, wo sich entsprechend ihrem realen Vorbild die Pariserin Laurence Coly (Gulagie Malanda) verantwortet. Ebenfalls im Prozess dabei ist die Autorin und Uni­professorin Rama (Kayiije Kagame), die, selbst schwanger, den Prozess im Modus einer griechischen Mythologie nacher­zählen will. Drastisch wirft der Film die Frage auf, was Menschen zu solchen Gräueltaten veranlasst und ob nie bewältigte Traumata eine Rechtfertigung dafür sein können.
In der Zentralafrikanischen Republik, wo Nous, étudiants! von Rafiki Fariala gedreht wurde, ist der Film verboten. Und zwar nicht nur deshalb, weil er die finanzielle Korruption und den sexuellen Missbrauch durch universitäre Autoritäten gegenüber den Studierenden bloßlegt, von der auch die Universität von Bangal infiziert ist, sondern weil er in Kooperation mit französischen Produzent:innen, der ehemaligen Kolonialmacht, entstanden ist. In der Zentralafrikanischen Republik, einem der ärmsten Länder der Welt, herrscht seit dem Sturz von Präsident Francois Bazizé 2013 ein blutiger Konflikt und wächst im Kampf um Rohstoffe der Einfluss Russlands. Laut Human Rights Watch wurden 2022 von russischen Söldnern in der Zentralafri­kanischen Republik schwere Menschen­rechts­verletzungen durch Tötungen und Folter begangen, und es bilden sich das Land dominierende Schattenarmeen gegen die Rebellen. Vom Protest gegen verkrustete Herrschafts­strukturen, den Forderungen nach Umverteilung, dem Studium marxistischer Ökonomiekritik und dem Aufbegehren gegen die Kamera handelt Nous étudiants! Ein Aufbegehren, das sich auch in jenen Momenten äußert, in welchen die Grenzen der Intimität zwischen dem Studenten Nestor und dem Regisseur Rafiki Fariala ins Schwanken geraten: »Warum tust du das eigentlich? Bist du mein Freund? Wirst du mein Freund sein, wenn dein Film fertig ist oder bin ich nur eine Figur für dich?«, fragt Nestor, der als einziger der vier Hauptprotagonisten im Examen durchgefallen ist. Die Spannungen, die sich hier zwischen Studium, Verdienen des Lebensunterhalts, politischem Engagement und Beziehungen auftun, entlädt sich in Protestsongs, welche einen Systemwechsel einfordern. Anlässlich der Viennale-Präsentation überraschte Rafika Fariala das Publikum mit einer Live-Performance des Songs und anekdoten­reichen Geschichten.
        Die Dokumentarfilme des ukrainische Filmemachers Sergej Loznitsa basieren hingegen auf Archivmaterial, durch das er geschichtspolitisch bis dato filmisch vernachlässigte Synopsen spannt. Mit The Kiev Trial knüpft er an Babyn Jar. Context vom Vorjahr an. Am Stadtrand von Kiew fand 1941 eines der größten Massaker an jüdischen Menschen statt. In The Kiev Trial sind wir mit einem Militärtribunal konfrontiert, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattfand und in dem die deutschen Beschuldigten für das Massaker zur Rechenschaft gezogen wurden. Die Bedeutung des Tribunals liegt aus zeithistorischer Perspektive auch in der Etablierung von Zeitzeug:innen als »Träger:innen der Geschichte.« Sergej Loznitsa verknüpft diese Geschichte aufgrund seiner eigenen Biografie (geboren im heutigen Belarus, aufge­wachsen in der Ukraine, Studium in Moskau) als postsowjetischer Filmemacher mit dem Vermächtnis der kommunistischen Ära, durch deren Nachwehen wir angesichts der Angriffskriege Russlands und dem Imperialismus Putins in unserer eigenen existentiellen Grundlage ebenfalls zunehmend bedroht sind.
        Mit der Frage nach dem Zugriff auf investigatives Filmmaterial und der Demontage von Medienbildern aus dem Fernsehen beschäftigten sich Michael Glawogger und Ulrich Seidl im Dokumen­tar­film Krieg in Wien bereits 1989. Begleitend zum Schwerpunkt Österreichischer Dokumentarfilm bei der Viennale 2022 erschien die gleichnamige Publikation Österreich real, die durch die Aufarbeitung des Dokumentarfilmschaffens der ver­gang­enen 50 Jahre einen differenzierten und vielfältigen Zugriff auf bis dato kaum gesichtetes Material bietet.
        Für Überraschungen durch uner­wartete argumentative Verbindungen sorgt Heinz Emigholz in seinem Essayfilm Schlachthäuser der Moderne, der uns nicht nur zu einem Streifzug durch Schlacht­häuser der 1930er Jahre in Argentinien einlädt. Für Emigholz spiegeln sich in der Architektur Zustände der Gesellschaft wider, wie er auch in Mamani in el Alto zeigt, indem er uns die architektonisch eigenwilligen Häuser der neureichen Oberschicht der Aymara, der größten indigenen Volksgruppe Boliviens, eindrucksvoll vor Augen führt.


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