Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Die Ausstellung Critical Care – Architektur für einen Planeten in der Krise im Wiener Architekturzentrum ist mehr als eine gewöhnliche Schau. Die Kuratorinnen Angelika Fitz und Elke Krasny beziehen mit ihr auch Position, fordern implizit eine Repolitisierung der Disziplin ein. Der begleitende Ausstellungskatalog – erschienen in der renommierten MIT Press – versteht sich so auch als Manifest und funktioniert ebenso als autonome Publikation.
Unser »ausgebrannter, ausgelaugter und geschädigter« vom Klimawandel bedrohter Erdball ist, so die Kuratorinnen, in einer existentiellen Krise. Der Verursacher der ökologischen und sozialen Verwerfungen ist ein global agierender Kapitalismus. Die Wachstumsideologie verwüstet alles, unser Planet droht kaputt zu gehen. Unser Wirtschaftssystem ist im Krieg mit unserem Planeten. Das sind düstere Aussichten. Längst – so argumentieren die Kuratorinnen – darf nicht mehr beschönigend vom Anthropozän, sondern muss vom Kapitalozän gesprochen werden. Doch Fitz und Krasny weigern sich, sich in einem lähmenden Kulturpessimismus einzurichten. Die Reparatur der Zukunft – so der Aufruf – muss heute beginnen.
Die Ausstellung versammelt 21 Fallbeispiele aus mehreren Kontinenten – repräsentiert in großformatigen Fotografien, Grafiken, Modellen und Videos, die zeigen, dass Architektur außerhalb des Diktats ökonomischer Verwertung und der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft einen Beitrag für das Gemeinwohl leisten kann. Fallbeispiele wie eine nachhaltige Dorfentwicklung in China, Umnutzungen modernistischer Bauten in Brasilien und Europa, die Revitalisierung historischer Bewässerungssysteme in Spanien, die Errichtung von Infrastrukturen für geflüchtete Menschen in Jordanien, die Erhaltung öffentlicher Räume in Wien, London und Nairobi, sowie die Rettung informeller Stadtstrukturen, die von Hurrikans und Gentrification bedroht werden, führen das vor.
Diese Strategien einer alternativen Raumproduktion folgen keinem universellen Muster, sondern leiten sich von spezifischen lokalen Verhältnissen ab. Die Projekte werden in unterschiedliche Kategorien des Sorgetragens einsortiert, um einen thematischen Fächer aufzuzeigen. Das Sorgetragen für Wasser, Grund und Boden wird etwa durch ein Projekt der Reaktivierung brachliegender römischer Bewässerungssysteme in Spanien repräsentiert. Das Sorgetragen für Reparatur zeigt sich exemplarisch im Berliner Projekt ZUsammenKUNFT. Eine breite Allianz aus zivilgesellschaftlichen StadtmacherInnen hat sich der Umnutzung des ehemaligen Hauses der Statistik der DDR am Alexanderplatz zum Ziel gesetzt – kostengünstige Wohnungen, Kultur- und Bildungseinrichtungen sollen entstehen (siehe dazu den Artikel in dérive 65, S. 18–22). In Barcelona sieht ein Projekt durch den Zusammenschluss mehrerer Häuserblöcke Superblöcke vor. Der private Verkehr soll dort drastisch reduziert und der Straßenraum so den Fußgängern zurückgegeben werden.
Die zur Diskussion gestellten Formen einer alternativen Herangehensweise werden von AkteurInnen getragen, die teilweise aus der Zivilgesellschaft stammen, von NGOs, internationalen Organisationen oder auch auf Nachhaltigkeit orientierten Unternehmen. Die Zusammenarbeit ist meist interdisziplinär: Perspektiven aus der Anthropologie, Soziologie und der Kunst, den Umwelt- und Rechtswissenschaften ergänzen klassische planerische Disziplinen. Die Dringlichkeit anstehender globaler Notsituationen erfordert – so wird argumentiert – den Zusammenschluss und die Vernetzung unterschiedlicher Kompetenzen. Fitz und Krasny betonen, dass es Kooperationen aus bottom-up und top-down agierenden AkteurInnen braucht, um den sozialen und ökologischen Herausforderungen gewachsen sein zu können.
Engagement und eine längst ausstehende Repolitisierung werden eingefordert, ohne aber auf die alte Fortschrittsideologie der Moderne zurückzugreifen, hat diese doch das Bestehende, das Vorgefundene missachtet und in geradezu paternalistischer Geste ein Zukunftsbild entworfen. Die Architektur des Sorgetragens distanziert sich hingegen von jedem Kahlschlag, von der Tabula rasa. Die neuen RaumproduzentInnen üben sich in Demut und begreifen die begrenzten Möglichkeiten ihrer Disziplin als Chance zur Kooperation.
Kann Architektur bzw. Urbanismus eine emanzipatorische Praxis sein? Die Ausstellung selbst gibt eine eindeutige, mit Leidenschaft formulierte Antwort. Dabei geht es nicht mehr um den »großen Wurf«, sondern eher um eine Art Guerilla-Taktik, das geduldige Ermöglichen von zukunftsfähigen Räumen inmitten des planetarischen Gewitters. Dafür bedarf es eines »situierten Wissens« und alternativer »gemeinwohlorientierter Ökonomien«. Es gibt Richtiges im Falschem scheint uns die Ausstellung zuzurufen. Wenn es um das nackte Überleben geht, darf nicht bei kritischer Reflexion und Analyse stehengeblieben werden. Im wirklich empfehlenswerten Katalog ergänzen sorgsam ausgewählte Essays etwa zum Care-Begriff, Ökologie, globalisierter Arbeit und Ökonomie die Fallbeispiele und erlauben so Brückenschläge zwischen Theorie und Praxis.
Eine Möglichkeit wäre, Critical Care auch als kritisches Sorgetragen zu übersetzen und zu verstehen. Die vorgestellten Realutopien verweisen ja auf die flächendeckenden Verwerfungen im Status Quo. Ihre Qualität steht einer erdrückend großen Zahl ungelöster Probleme gegenüber. Insofern wird es am interessantesten, wenn der Einzelfall auf ein Gesamtsystem bezogen wird. Da stellt sich dann jeweils die Frage der Bezugsgröße. Ist der Kontext die Stadt, die Region, der Staat, der Kontinent, der Globus? Kann und sollte im konstatierten planetarischen Ausnahmezustand überhaupt noch von Architektur gesprochen werden? Welche Rolle spielen ästhetische Kategorien im Ausnahmezustand? Die Diskussion ist eröffnet.


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