Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Durch und durch ist Hongkong die Stadt exemplarischer Vertikalität. Die kulturell eingelernte, traditionell eingestellte europäische Navigationshöhe der bodenverhafteten Horizontale, die die Entdeckung der lebendigen urbanen Betriebsamkeit naheliegend und visuell greifbar auf dem Straßenniveau vermutet, muss hier schlicht passen. Einzig ein dreidimensionaler, geschichteter Stadtplan würde die wahre räumliche Dimension dieser Metropole der gesteigerten Intensitäten am südchinesischen Meer zum Ausdruck bringen. Hongkong ist auf vielen Ebenen des Offiziellen, aber auch des Inoffiziellen, des Geplanten, aber auch des Ungeplanten Umbau, Weiterbau, Zwischenbau. Um sich diesem charakteristischen akzelerierten und zugleich ins Extreme geballten Zustand Hongkongs anzunähern, ist es notwendig, die vertikale Verdichtung und Intensitätssteigerung am eigenen Körper zu erfahren. Folglich muss man hinauf.

Der Aufstieg in die Vertikalität ist es auch, der den Zugang zu den Portraits from Above, zu diesen ungeahnten, intimen, berührenden Portraits, die dort oben entstanden sind, ermöglicht. Dort, wo man meinen würde, dass die Stadt zu Ende ist, ist seit dreißig Jahren eine radikale Antwort auf die herrschende Raumnot entstanden, ein Ausweichmanöver zur gefürchteten Verdrängung an die Peripherie der sozial und kulturell unterversorgten Satellitenstädte. In exponierter Lage in schwindelnder Höhe gibt es eine Stadt, die auf der Stadt wohnt, die sich über der Stadt eingenistet hat, eine Stadt, die niemand geplant hat, eine Stadterweiterung, die von selbst stattgefunden hat.

„Es gibt keinen Aufzug. Wir laufen acht Stockwerke die Treppe hinauf, zögern auf den letzten Stufen, sehen uns an, außer Atem: Woher nehmen wir das Recht, hier zu sein?“ schreiben Rufina Wu und Stefan Canham. Die aus Hongkong stammende kanadische Architektin und Künstlerin Rufina Wu und der aus Deutschland stammende Fotograf Stefan Canham sind zu einer intensiven Feldforschung über den Dächern von Hongkong aufgebrochen. Wu ist eine Expertin der Erforschung übersehener, informeller, subalterner Stadträume. In Peking ist sie für ihre Master Thesis 2005 und 2006 in den Untergrund gegangen und wurde als Feldforscherin Teil der Gemeinschaft, die in den Bunkern unter der Stadt wohnt. Ihre Recherchen und Fotocollagen berichteten von den Taktiken der offiziell wohnungslosen Wanderarbeiter, die sich auf der Suche nach dem chinesischen Traum unter der Stadt einrichten, sich die vormals von der zivilen Luftabwehr eingerichteten Räume aneignen. Der Fotograf Stefan Canham untersucht in seinen Film- und Fotodokumentationen marginalisierte Gemeinschaften und unterschiedliche Formen des self-housing. Unter anderem hat Canham mit Bauwagen/Mobile Squatters die mobile BesetzerInnenszene in Deutschland porträtiert (siehe dérive 25). Gemeinsam haben Wu und Canham von Dezember 2007 bis Februar 2008 als Artists-in-Residence der von May Fung geleiteten Non-profit-Organisation Art and Culture Outreach, kurz ACO, die einen Schwerpunkt auf disziplinenübergreifend­e Arbeitsweisen legt, in Hongkong gearbeitet. Was die beiden in dem nun vorliegenden Band darstellen, erzählt eine faszinierende, menschlich berührende Mikrogeschichte von Selbsthilfe und ungeahnten Räumen in Hongkong. „Das Dach ist ein Labyrinth aus Korridoren, engen Fluren zwischen Hütten aus Blech, Holz, Ziegeln und Plastik. Treppen und Leitern führen hinauf zu einem zweiten Stockwerk aus Hütten. Mit unseren Flugblättern in der Hand klopft Rufina an eine Tür.“

Zwischen Illegalität und Gewohnheitsrecht, zwischen jahrzehntelanger unbeachteter Existenz und drohendem Verschwinden durch die voranschreitende Sanierung und immer höher strebenden Neubau, der größeren Profit abzuwerfen verspricht, haben Wu und Canham den Istzustand in Fotografien, Architekturzeichnungen und Worten festgehalten. Plandarstellungen sind ein Medium der Objektivierung, der Raumdurchleuchtung. Dieses genuine Architekturausdrucksmittel hat Rufina Wu eingesetzt, um das Ungeplante, das Informelle, mit den Augen einer Architektin zu vermessen und in eine klare, distanzierende Darstellung zu übersetzen, die nun präzisest die selbst erzeugten, selbst erfundenen Raumnutzungen auf den Dächern festhält.

Der Gegensatz zu den Fotografien könnte kaum größer sein. In Canhams Aufnahmen werden das Innenleben und die Außensicht, die gelebten Wohnungen, die prekär-improvisierenden, fragil balancierenden Aufbauten auf den Dächern dokumentiert. Indem Wu und Canham traditionelle Verfahren der Architekturberichterstattung einsetzen, planliche Darstellung und fotografische Berichterstattung, eignen sie sich diese Formen gleichzeitig an und interpretieren sie neu. Sie verwenden sie, um self-housing als Architektur sichtbar und verstehbar zu machen, und gehen gleichzeitig weit darüber hinaus, indem sie ein übersehenes Phänomen in den Architektur- und Stadtdiskurs Hongkongs einschreiben, das auf Grund seiner Informalität den gängigen Kanon der Wahrnehmung, Teil der gebauten Stadtgeschichte zu sein, nie erreicht hätte. Zwischen den scheinbar objektiven Sprachen von Plan und Fotografie, die das Versprechen des Dokumentarismus in sich tragen, stehen die kurzen Lebens- und Raumgeschichten der Bewohner und Bewohnerinnen. Die, die Stadt bauen, die U-Bahn in den 1970er Jahren, nun die neuen Wolkenkratzer, waren es auch, die diese unbekannte Stadt auf den Dächern gebaut haben, über die es aber kaum realistische Zahlen gibt, wie Ernest Chui in seinem Essay Siedlungen auf den Dächern Hongkongs: Eine Einführung in dem Buch schreibt. Im wahrsten Sinn des Wortes sind sie Teil der Baugeschichte und der anonymen Architektur Hongkongs. Sie kamen vor zwanzig oder dreißig Jahren, sie kommen heute, aus Festlandchina, Südostasien oder Pakistan. In wenigen Zeilen, in der dritten Person, werden der Bewohner und sein Raum festgehalten. „Er lebt seit über dreißig Jahren auf dem Dach. Abhängig von seinen täglichen Aktivitäten nimmt seine Wohnung unterschiedliche Formen an. (…) Die einzigen Anzeichen dafür, dass dieser Flur bewohnt ist, sind ein Stuhl, ein Tisch, ein aufgehängtes Handtuch und die leisen Klänge buddhistischer Gesänge aus einem Transistorradio in der versteckten Küche.“


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