Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Wer noch Zeit findet, sich während der Fußball-EM einem anderen Thema zu widmen, ohne auf Fußball verzichten zu wollen, dem/der sei Das Große Buch der österreichischen Fußballstadien aus dem Verlag Die Werkstatt wärmstens empfohlen. Es handelt sich dabei um ein Buch, das offensichtlich mit dem Herzblut von Fußballfans geschrieben wurde, auch wenn es sich bei den Herausgebern um Journalisten (Andreas Tröscher und Edgar Schütz) und Fußballhistoriker (Matthias Marschik) handelt und das alle österreichischen Fußballplätze und Stadien von A wie Admira Platz bis W wie Wörthersee-Stadion erfasst, auf bzw. in denen jemals ein Spiel der obersten Klasse oder ein Länderspiel ausgetragen wurde. Das bedeutet die Beschreibung aller existierenden Sportstätten: von den Stadien, die aufgrund der EM verbessert oder neu errichtet worden sind (Praterstadion, Klagenfurt, Innsbruck, Salzburg), bis hin zu den nicht mehr existenten Fußballplätzen. Die Auflistung der Stadien ist aber nicht nur pure Bestandsaufnahme der aktuellen Situation, die durchaus ihre Berechtigung hat, sondern sie behandelt die Plätze als Orte der Fußballerinnerung, als Gedächtniszeichen einer im Verschwinden begriffenen Fußballkultur. In diesem Sinne werden auch Plätze und Stadien vorgestellt, die überhaupt nur mehr in der Erinnerung existieren und denen hier nochmals die fußballerische Reverenz erteilt wird. Diese Orte nehmen im Kopf des Fußballliebhabers die Funktion einer Strukturierung der inneren Geographie ein, sie sind Gedenkorte, die den eigenen Lebenszusammenhang ordnen und zugleich Lagerungsstätten von materiellen Relikten, die zu Elementen von Erzählungen und wiederum Bezugspunkten eines fußballkulturellen Gedächtnisses werden können. Diese verschwundenen Stadien markieren die Abwesenheit großer Fußballzeiten, aber bewahren sie im kollektiven Gedächtnis der Fans auf, um wieder zu Mythen verwandelt zu werden. Entsprechend auch das innere Anrufungserlebnis von Andreas Tröscher, dem, wie vielleicht einst Pausanias angesichts der Trümmer Athens zumute war: „Im Mai 2005 war’s, da stand ich wieder einmal auf der Hohen Warte, ganz oben an der Kante, wo man als Zuschauer der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik näher ist als dem Spielfeld, als mich plötzlich ein naiver Gedanke streifte: Über das alles hier gehört doch einmal geschrieben! Diese ungeheuren Ausmaße, einst gefüllt mit über 80.000 Zuschauern und jetzt nur noch mit Erinnerung – was für eine unvergleichliche Naturarena, was für ein antikes Amphitheater einer längst versunkenen Fußballwelt.“

Die Tradition der Gedächtnisorte ist immer eng mit der Pilgerfahrt verbunden, wie sie etwa durch Maurice Halbwachs wichtiges, aber wenig bekanntes Buch über die Stätten der Verkündigung im Heiligen Land beschrieben wurde, wo die Pilger auf der Suche nach den Spuren der christlichen Mythologie seit dem dritten Jahrhundert unterwegs waren. So mussten sich auch die Autoren auch auf die Reise nach den lost grounds, den verlorenen und verschwundenen Fußballplätzen, die längst von der Stadt geschluckt waren und nur mehr auf alten Stadtplänen aufzufinden sind, auf eine Pilgerschaft begeben, die mit dem Aufsuchen der Plätze verbunden war. Wie entdeckte etwa Matthias Marschik das Donawitzer Stadion? „16. Juni 1979: Mit meinem waidwunden Citroen GS quälte ich mich über den Semmering zum bedeutungslosen letzten Meisterschaftsspiels meiner Simmeringer bei DSV Alpine. Strömender Regen begleitete mich, und ab Mürzzuschlag mischten sich trotz der Jahreszeit Schneeflocken dazu. Trostlos blieb auch das Wetter bis Donawitz und letztlich auch das Match, das der DSV vor 700 Zuschauern mit 2:0 gewann. Erfreulich war nur, dass die legendäre Holztribüne, auch wenn sie von keinem einzigen Sitzplatz einen mastenfreien Blick auf das Spielfeld ermöglichte, immerhin dem Regen standhielt und ich dem Trainerdebut von Ernst Dokupil beiwohnte…“

Daher sprechen die Autoren auch vom Lost-Ground-Virus, der den Sachverhalt der ars memoriae in etwas zeitgemäßerer Sprache ausdrückt und der einen, nachdem man einmal mit ihm infiziert ist, immer wieder die Frage nach den verschwundenen Fußballplätzen stellen lässt. Wo war denn die Pfarrwiese, einst legendärer Platz von Rapid in Hütteldorf, wo war der Amateureplatz in Ober St. Veit, also einem gutbürgerlichen Wiener Bezirksteil? Wie antwortet der brave neunjährige Bub von Edgar Schütz, wenn ihn der Papa nach der Überquerung der Auhofstraße in Richtung Tratzerberg fragt, was denn da rechts einmal war, natürlich so wie es sich für den gelehrigen Sohn eines Fußballjournalisten gehört: „Das alte Amateure Stadion.“ Wer weiß denn noch, dass neben dem Sportplatz Rapid, nur durch einen Häuserblock getrennt, der WAF Platz lag und es sich dabei jeweils um den kürzesten Weg aller Zeiten zu einem Auswärtsspiel in der obersten Liga handelte.

Man kann auch andere Kuriosa erfahren, wie etwa den Umstand, dass der Klub Slovan, der ab 1925 auf dem Vorläufer des Franz-Horr-Stadions, dem Tschechisch-Herz-Platz spielte, auch die Fußballjournalisten zum Kauf von Eintrittskarten zwang, um die Einnahmen zu erhöhen, bis diese mit einem Boykott drohten. Man kann über die Geschichte des jüdischen Hakoah ebenso lesen, wie über den Plan eines riesigen Schönbrunner Stadions hinter der Gloriette, das etwa an Stelle der heutigen Maria-Theresien-Kaserne genau in der Achse des Schlosses gelegen wäre.

In Summe handelt es sich dabei um ein äußerst lesenswertes Buch, das auch Bildmaterial zu jeder Arena enthält, oft durch Ausschnitte aus Karten zur Unterstützung der Orientierung ergänzt. Man erhält Einblicke in die jüngste, wie auch lange verblasste Vergangenheit des österreichischen Fußballs und seiner Vereine, die ebenfalls zahlreichen Wandlungen unterlegen sind. Ein Buch für Fußballinteressierte aber auch für jene, die an Stadtgeschichte interessiert sind.


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