Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Im Jahr 1989 brachte der deutsche Wohnbund erstmals eine Publikation heraus, die »neue Wohnformen in Europa« verglich. Der Wohnbund entstand Anfang der 1980er Jahre aus dem Werkbund mit dem Ziel, neue Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Wohnen zu thematisieren: Es ging um Alternativen zum üblichen Wohnbau des Bauwirtschaftsfunktionalismus, ob nun in sozialer oder ökologischer Hinsicht. Deshalb waren von Beginn an gemeinschaftliche Wohnformen ein zentrales Thema. Anlass für die Publikation von 1989 war eine Tagung zum Thema in Hamburg, bei der neben Deutschland die skandi- navischen Länder, Großbritannien, die Schweiz, Österreich und die Niederlande thematisiert wurden. Die österreichischen Beiträge zur Tagung konzentrierten sich ganz auf Mitbestimmung im Wohnbau und die so genannten Gruppenwohnprojekte, für die damals drei regionale Schwerpunkte ausgemacht wurden[1] die Steiermark, wo das vielbeachtete Modell Steiermark Architekturqualität unter anderem durch Partizipation sicherte; Wien und Niederösterreich, das hieß vor allem Projekte im urbanen und suburbanen Raum; sowie Vorarlberg, wo mit den so genannten Baukünstlern selbstorganisierte Wohnformen als Alternative zum Bauträgerwohnbau entwickelt wurden. Das Modell Steiermark wurde 1992 durch eine neue Landesregierung unter FPÖ-Beteiligung begraben, im Pionierland Vorarlberg kam das Modell gemeinschaftliches Wohnen fast völlig zum Erliegen, und auch in Wien und Niederöster- reich endete die erste Blütezeit der Wohnprojekte um 2000 und erlebt erst in der jüngsten Vergangenheit wieder einen kleinen Aufschwung.
Die nun erschienene neue Publikation des nach wie vor aktiven Wohnbunds zum Thema gemeinschaf- tliches Wohnen beruft sich auf diesen Band von 1989: Seit damals habe sich viel getan, in einigen Ländern hätten sich gemeinschaftliche Wohnformen etabliert oder das Thema stehe aktuell neu auf der Agenda. Zu den Ländern der ersten Publikation kommen nun Frankreich, Tschechien und Finnland hinzu, das Spektrum der Typen hat sich erweitert. Obwohl bereits vor 25 Jahren ganz klar Mitbestimmung und Selbstorganisation als zentrale Elemente der thematisierten »neuen Wohnformen« feststanden, ist heute, mit den gleichen Schwerpunkten, eine Verengung auf einen eigenen, quantitativ marginalen, aber qualitativ durchaus relevanten Wohnbausektor, nämlich den der gemeinschaftlichen Wohnformen, zu bemerken. 1989 bestand noch die Idee, dass Mitbestimmung im Wohnbau ein Thema sei, das nach und nach den gesamten Wohnbaubereich erobern würde, wenn auch in verschiedenen Intensitäten und Typen. Damit ist es heute wohl vorbei.
Interessant ist das Spektrum an Formen, das sich heute zwischen den europäischen Ländern und innerhalb dieser Länder ausdifferenziert hat. Allein die im Band ersichtliche Begriffsvielfalt ist immens: Ein heute weit verbreiteter Begriff ist Cohousing – entstanden, als zwei amerikan- ische ArchitektInnen die in Dänemark seit den 1970er Jahren boomenden Bofællesskaber (Wohngemei- schaften) in den 1980er Jahren in die USA exportierten. Beim dänischen Modell handelt es sich um einen ländlichen Typus, meist Reihenhäuser oder um ein oder mehrere Zentren angelegte Kleinsied- lungen mit einem Gemeinschaftshaus. Bei diesen Projekten steht oft das regelmäßige gemeinsame Essen im Zentrum, das bei anderen Projekttypen wiederum fehlt oder nicht so wesentlich ist. Andere übliche Begriffe sind (Gruppen-, Gemeinschafts-)Wohnprojekte, Baugemeinschaften oder Baugruppen (manchmal nur für Formen verwendet, die auf Wohnungseigentum basieren), im Eng- lischen community-oriented living, collaborative living und co-operative housing.
Ein Kernland des gemeinschaftlichen Wohnens ist heute Deutschland, wo es ein großes Spektrum von Formen gibt, von Wohngemeinschaften über Kommunen und Ökosiedlungen bis zu Seniorenwohnprojek- ten und Mehrgenerationenwohnen. Am weitesten verbreitet ist sicherlich das Wohnungseigentums- modell, in Deutschland gibt es aber auch eine Vielfalt von (jungen) genossenschaftlichen Formen sowie in jüngster Zeit verstärkt Mietprojekte, bei denen eine Gruppe mit einem Investor kooperiert – beispielsweise für Seniorenprojekte oft der einzig mögliche Weg. Besonders interessant sind einerseits das Mietshäusersyndikat, ein landesweites Netzwerk von Projekten, die sich gegenseitig unterstützen und durch eine besondere Rechtskonstruktion Wohnungs- spekulation verunmöglichen, und andererseits die Dachgenossenschaften, bei denen Einzelprojekte unter einem gemeinsamen, gemeinwohlorientierten Dach versammelt sind und wo eine Balance zwischen Selbstbestimmung und Professionalität angestrebt wird.
Während in Deutschland seit den 1980er Jahren das Thema kontinuierlich wächst, gab es in Österreich nach einer ersten Konjunktur eine Unterbrechung der Entwicklung nach der Jahrtausend- wende, und seither konzentrieren sich Projekte auf Wien und Umgebung, obwohl es in vielen Bundesländern reges Interesse gibt. Anders als in Deutschland und in der ersten österreichischen Phase steht nun nicht das Wohnungseigentumsmodell im Zentrum, sondern eine Wiener Spezialform, das so genannte Heimmodell, bei dem das Wohngebäude dem Verein der BewohnerInnen gehört, die somit quasi an sich selbst vermieten. Dazu kommen zunehmend auch Mietprojekte im bereits genannten Investorenmodell, bei dem allerdings gemeinnützige Bauträger der Partner sind.

Fußnoten


  1. Wolfgang Förster: Gruppenwohnprojekte in Österreich, in: Joachim Brech (Hg.): Neue Wohnformen in Europa, Berichte des 4. internationalen Wohnbund-Kongresses in Hamburg, Darmstadt: Verlag für wissenschaftliche Publikationen, 1989, S. 405–410. ↩︎


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