Genius Loci: Nostalgie hoch drei
»Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war«, Ausstellung im Wien Museum im KünstlerhausAlt-Wien - Die Stadt, die niemals war
Wien Museum im Künstlerhaus, Wien
November 2004 bis 28. März 2005
Zum Programm historischer Museen zählen Ausstellungen, die allgemeines Wissen mit wissenschaftlichen Fakten vertiefen. Die Ausstellung Alt Wien des Wien Museums zeigt Exponate, in denen sich verloren gegangene Räume und Wunschvorstellungen der Stadt spiegeln. Sie behandelt Imaginäres und Fiktives – und belegt dies umfassend mit Quellen aus 200 Jahren urbaner Geschichte und Erzählung. Eine geschichtliche Lektion, die heute ebenso wirkt: Images haben mehr mit Hoffnungen und Illusionen zu tun als mit den Realitäten einer Gegenwart. Dies erfordert die Untersuchung des Phänomens der tradierten Wien-Stereotypen und etablierten Images, auf die sich auch der Retro-Kult bezieht. Dieser geht einher mit einer Ablehnung der Stadterneuerung, die sich zwischen Verklärung und Erinnerung bewegt und bereits in Romantik und Biedermeier begann.
»Alt Wien« ist ein Konstrukt – ein beschworener Mythos. Bereits damals hatte der Begriff einen wehmütigen Klang, denn die erfundene Tradition generiert sich aus Sehnsüchten, die drei wesentliche Realitäten zu ignorieren suchten:
- Den unstatischen, prozesshaften Charakter des Raumes im Gegensatz zur konstanten alten Stadt als Idealzustand.
- Die ethnisch und kulturell inhomogene Stadt als zwangsläufige Folge enormer Zuwanderung.
- Die wachsenden sozialen Spannungen im Vormärz, die mit der Vorstellung einer harmonischen Gesellschaft nicht kompatibel sind.
Diese konservative Haltung verband sich mit einer rückwärtsgewandten Sozialutopie zu einer Antithese der Aufklärung bzw. des Modernen. Die idealisierte Vorstellung vom »Biedermeier« war eine der wesentlichsten kollektiven Projektionsflächen des 20 Jahrhunderts – »Das Schöne der Illusion einer Vergangenheit oder Zukunft ist, dass sie viel deutlicher, bunter, sauberer ist als die Wirklichkeit.« Immer wieder sind es »sentimentale Verrückungen«, die die jeweils gegenwärtigen Gefühls- und Interesselagen spiegeln, wie die umfassende Schau herleitet. Sie nimmt den Aspekt, »... früher war alles besser« zum Anlass, um das Ideologische im Wissenschaftlichen zu erforschen. So herrschten heftige Glaubenskriege im Konflikt zwischen »Demolierern« und »Schützern«, zwischen Bewahrungsdenken und Fortschritt. Die Pubertätsjahre der Denkmal- und Stadtbildpflege sind auch nach Sitte, Wagner und Loos nicht vorüber.
Die Last der Erinnerungen geht oft in Klischees über und wird zum Paradox, wenn Verlorenes beklagt wird, das es so nie gab. In dem Streit spielen die Medien und Vermittlungstechnologien eine entscheidende Rolle, da es hier nicht um Fachdiskussionen, sondern um gesellschaftliche Phänomene geht. Die Auseinandersetzung mit alter Bausubstanz ist notwendig, »aber in kaum einer anderen Stadt wurden so leidenschaftlich alte gesellschaftliche Milieus beschworen, wenn nicht überhaupt erfunden«. Denn »während in anderen Städten Fotografen und Journalisten akribisch Außenseiter und ihre Lebensbedingungen mit soziologischen Methoden dokumentiert haben, wurden diese in Wien entweder zu Helden des Alltags stilisiert oder zu skurrilen Bühnenfiguren gemacht.«
Wie verklärend diese Art Vexierbild ist, zeigt die Dokumentation anhand des Schubert-Kults. Hierzu wurden Bilder gemalt, die jeglicher Wahrheit entbehren. So die Darstellung Schuberts mit Beethoven, vor den Toren Wiens spazieren gehend. Die Fiktion wird in TV-Verfilmungen noch deutlicher. Die Darstellungen sagen abermals mehr über die Verklärungen und den Traum der Menschen aus als über die Figur selbst. Beispielsweise zeigen die oft gezeichneten »drei Mäderl« den heterosexistischen Normierungszwang und verleugnen die Biographie des homosexuellen Menschen Schubert.
Auch die historische Richtigstellung der »Stadtfigur« ist nötig. Nach dem Abriss der Stadtmauern entstand eine ringförmige Regelstadt, die zugleich auch Dynamik in die Innenstadt trug. Es kam zu großflächigen »Assanierungen «; ganze Viertel wurden abgerissen, darunter die Bebauung am Stephansplatz. Diese »Regulierung« und »Verschönerung« nannten Einige eine unwiederbringliche Zerstörung der vermeintlichen Identität Wiens. Im späten 19. Jahrhundert verfestigte sich die populäre Alt-Wiener Typologie, und bis heute ist dieses retrospektiv grundierte Wienbild ein integraler Bestandteil der Wien-Identität, das die Wahrnehmung der Stadt trübt.
Diese Fiktionen werden gezielt eingesetzt, denn Städte ohne ein Repertoire von starken Bildern und weltweit vermarktbaren Stories haben es schwer, im internationalen Wettbewerb wahrgenommen zu werden. Beunruhigend ist, dass Inniges und Idyllisches zum Politischen, manche unerfüllte Wehmut zum Pathologischen werden kann. So entstand neben der Altstadt als Themenpark (1880) auch »Alt Wien« als Marke. Selbst Retrostile vom »zeitgenössischen Jugendstil« bis zu »kritischen Rekonstruktionen« werden durch Bildpolitik entwickelt.
Immer wenn Veränderung zu Entfremdung führt, wird die Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« stark. Problematisch wird es dann, wenn die Wertschätzung des Alten zur Doktrin wird und zur reflexartigen Blockade von Neuem führt. Auch heute noch ist die Polarisierung existent, wie die Diskussion um die städtebauliche Pointe von Wien Mitte versus »Weltkulturerbe« zeigt. Dies zeigt, wie Architekturtheorie und kunsthistorische Debatten von subjektiven Interessen überlagert sind.
Niveauvoll und köstlich legen die KuratorInnen das Anschauungsmaterial, die Veränderungen der Stadt und die rezeptionsgeschichtlichen Folgen dar. Gleichzeitig laden sie ein, über die eigenen (historischen) Bildkonstruktionen, aber auch die Zukunft nachzudenken. So öffnet die Ausstellung mit kuratorischem Geschick ein Feld, das Potenzial für einen konstruktiven Dialog in Stadtgeschichtsforschung und Stadtforschung beinhaltet.
Udo W. Häberlin studierte Stadt- und Raumplanung u. a. bei Detlef Ipsen, Ulla Terlinden und Lucius Burckhardt in Kassel. Er arbeitet bei der Stadt Wien, Abteilung Stadtplanung und -entwicklung.