Christa Kamleithner


Tell me son, says my dad, what are the first few words in the Bible? I don't know Dad, I say, what are the first words in the Bible? And he looks at me, he looks me in the eye and he says: Son, the first few words in the Bible are...get the money first. Get. The Money. First. [1]

Eine fiktive (?) Geschichte:[2] Elisa, 40, Mutter zweier erwachsener Kinder, geschiedene und verschuldete Heimbäckerin, sucht ihr Glück im Paradise, Norwegens neuestem Einkaufszentrum und Teil der weltumspannenden Paradise-Kette. Das Paradise ist ein Glashaus, jede kann hineinsehen, doch nicht jede hat Zutritt. Von einer privaten Gesellschaft rundherum abgesichert und abgeschirmt, ist der Zugang nur über eine Schleuse möglich, hineinkommt, wer die Gesichtskontrolle übersteht oder die der Kreditfähigkeit. Mit dem Aussehen der prototypischen Kundin passiert Elisa die Schwelle und bekommt ihre Kundenkarte: auf ihr werden alle Transaktionen vermerkt, gezahlt wird erst am Ausgang. Der Vorteil: ungehemmte (und daher auch hemmungslose) Kauffreude, der Nachteil: das Paradise ist eine geschlossene Anstalt, der einzige Ausgang wird streng kontrolliert. Doch drinnen eröffnet sich eine weite Welt, die nun für alles offen ist, alles steht zum Angebot, auch probeweise. Ein Angebot, das Elisa gerne nützt, sie erfüllt sich langgehegte Wünsche – wenigstens für einen Tag, denn mit Kassaschluß muß, was probiert wurde, entweder bezahlt oder zurückgegeben werden. Genau dies wird Elisas Problem: ersteres kann sie sich nicht leisten, und zweiteres wird unmöglich, als die anprobierten Kleider beschmutzt werden. Was sich zuerst katastrophal ausnimmt, wird schnell als Chance erkannt; nach einer unruhigen Nacht in einer Umkleidekabine, beschließt Elisa im Einkaufszentrum zu bleiben. Innerhalb weniger Tage verwandelt sich das häßliche Entlein, Elisa bezieht eines der vielen leerstehenden Büros, richtet es sich dort gemütlich ein, verbessert Garderobe, Frisur und Figur und verbringt den Tag damit, sich all das zu gönnen, was ihr ein Leben lang versagt geblieben ist. Sie wird zu dem, was sie immer schon sein wollte, ihrer Selbstfindung steht nun nichts mehr im Weg. Dem Anschein nach erfolgreiche Geschäftsfrau – Lebensberaterin – wird sie von ihrem Umfeld akzeptiert, gewinnt Freundinnen und den Mann ihrer Träume ... nur Genießen und Saugen, den ganzen Tag lang in der Glasgebärmutter saugen. Idylle und Geborgenheit werden nur selten angekratzt, etwa als den alten Damen der täglichen Bridgerunde der Zugang verweigert wird – wessen Kundenkarte immer leer bleibt, bleibt besser gleich draußen. Oder als sich wieder einmal ein allzu Verzweifelter über das Geländer der Mall stürzt – Elisa ist mit ihrem Problem offenbar nicht die einzige. Nach Wochen des Umsorgt-Werdens macht sich die Anstrengung bemerkbar, das Glashaus hat mich aufgesaugt. Hat meine Lebenskräfte aufgesaugt. Auch werden die Forderungen der Mutter leise hörbar: der Schuldenberg wächst kontinuierlich, während gleichzeitig verfügbarer Büroraum weniger wird. Der Druck auf Elisa nimmt zu – und sie beschließt, das Paradise zu verlassen. Ihr Plan – das Einkaufszentrum verkleidet und mit der Karte ihres Liebhabers zu verlassen – kommt jedoch nicht mehr zur Ausführung, die lang erwartete Entdeckung kommt dem zuvor. Die Dame, die sie schon seit Tagen so freundlich gegrüßt hat, ist, was sie zu sein schien; das einzige, was Elisa verwundert, ist die Freundlichkeit, mit der sie nach wie vor behandelt wird. Die Polizei bleibt aus, keine aufsehenerregende Abführung, nichts dergleichen. Nur der Vorschlag, den Schuldenberg abzuarbeiten, als Aushilfe für alle anfallenden Tätigkeiten, an allen (sieben) Öffnungstagen von 7 bis 22 Uhr, drei Jahre zehn Monate und sechzehn Tage lang. Und ihr Wissen weiterzugeben, mitzuhelfen, die Lücken des Systems zu schließen. Dafür Unterkunft im Personalwohnheim, Essen und Taschengeld, weiterhin wird für alles gesorgt, wenn auch nicht mehr so ausgiebig. Elisa wird assimiliert, sie wird nicht aus dem System herausfallen – tatsächlich wird sich auch an ihrer Stellung darin nur wenig verschieben. Der (fiktive) Schluß der Geschichte wird hier verschwiegen, alle wesentlichen Elemente sind bereits angeschnitten.

Differenz

Das Bild der Glasgebärmutter macht die paradoxale Doppelstruktur der urban entertainment centers deutlich, sie funktionieren zugleich als Wunschmaschinen und als Kontrollapparaturen, sie sind Panopticon und Boudoir in einem, sind hochgradig differenziert und dennoch immer identisch. ... Beides ist allerdings nicht gleichermaßen sichtbar, was ins Auge springt, ist die Heterogenität des Angebots, die Fülle an Wahlmöglichkeiten und damit die Möglichkeit der Selbststilisierung. Elisa hat sich in den Wochen ihres Aufenthalts im Paradise scheinbar selbst gefunden, sie hat den ihr entsprechenden lifestyle gefunden, hat ein differenziertes Profil entwickelt, das sie unterscheidbar macht. Ihr Persönlichkeitsprofil wurde auch exakt dokumentiert, mittels ihrer Kundenkarte lassen sich alle Einkäufe nachvollziehen, kann ein Kundenprofil erstellt werden. Damit kann wiederum auf ihre Persönlichkeit eingegangen werden, sie kann nun mit den passenden Angeboten umworben werden – ein Prozeß, der auf Erkenntnisgewinn abzielt, der durchleuchtet und sichtbar macht, der identifiziert. Je gläserner das System, umso besser ist die Versorgung, je genauer die Mutter ihre Schützlinge kennt, umso totaler ist die Bedürfnisbefriedigung. Die Glaskuppel hat ihren Platz vielleicht doch nicht zufällig in den Malls gefunden, sie scheint paradigmatisch dort aufzutauchen, wo mit panoptischen Techniken gearbeitet wird. Foucaults Beschreibung der Funktionsweise des Panoptismus[3] drängt sich unweigerlich auf, das Erscheinen der Gefängnisinsassen im Licht, ihre Sichtbarwerdung, der Versuch ihrer Identifizierung. Der Zweck dieser Durchleuchtung scheint dennoch ein anderer zu sein, das Identifizieren der Häftlinge meint das Messen ihres Abstands von der Norm, von jenem Verhalten, das von anständigen Staatsbürgerinnen verlangt wird. Die Messung im Kaufhaus ist eine andere, sie mißt auch Unterschiede, aber nicht mehr in negativer Weise – die Differenzen sollen nicht mehr aufgehoben werden –, sondern im Gegenteil positiv, sie sollen befördert und ausgebaut werden.

Identität

Was die Differenzierung des Warenangebots ermöglicht, ist immer zweierlei, sie fördert die Individualität der Käuferin, die Distinktion der Käuferinnen untereinander, und sie fördert Bedürfnisse, deren Befriedigung und die Vermehrung der Produkte. Was die Imagination ankurbelt, dreht auch die Wachstumsspirale weiter, was die Konsumentin bereichert, bereichert umso mehr den Produzenten. [Get. The Money. First.] Wenn auch Unterschiedliches gekauft werden kann, es muß immer noch gekauft werden, hinter all den Heterogenitäten steckt Uniformität, allen Handlungen liegt eine einzige zugrunde: das Kaufen. In allen seinen besonderen Formen [...] ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der bereits getroffenen Wahl in der Produktion und der von ihr untrennbaren Konsumtion[4] Was vorgegeben wird, ist Wahlmöglichkeit – die Wahl zwischen verschieden aussehenden Produkten wird dabei immer größer –, gleichzeitig behauptet sich darin eine Form von Produktion und Konsumtion. Darin gelangen alle zum kleinsten gemeinsamen Nenner und werden identisch: alle konsumieren. Innerhalb dieser bereits beschränkten Wahlmöglichkeit, muß noch einmal nachgefragt werden: wer wählt?, wessen Wünsche werden geäußert? Auch wenn sich das Angebot angeblich nach der Nachfrage richtet, richtet sich die Nachfrage ebenso am Angebot aus. Denn wie kann die zukünftige Nachfrage im voraus ermittelt werden, wenn nicht über zweifelhafte Statistiken, bei denen nicht klar ist, ob sie die Wünsche des Auftraggebers widerspiegeln oder die der zukünftigen Kundinnen, die in Form eines kleinsten gemeinsamen Nenners ermittelt werden. Wahrscheinlich ist beides nur schwer auseinanderzuhalten, und es handelt sich wohl um etwas drittes, das alle und niemand gewollt haben – eine Art kollektives Unbewußtes, ein Schatz neuer Mythen, die in Form von Bildern aufsteigen und das Bewußtsein bevölkern. Und durch eben solche vermittelt beschreibt Guy Debord die einzig noch mögliche Kommunikationsform – das Spektakel ist [...] ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen[5]–, was tatsächlich das Ende der Kommunikation bedeutet und deren Auflösung in der infantilen Nachahmung eben dieses dritten. Indem solcherart alle Konflikte beseitigt sind, finden sich auch alle Differenzen aufgehoben – in einer Identität, deren Manipulation keine Grenzen gesetzt sind.

Pflicht

Was als Freizeit ausgegeben wird, als persönlich frei zu gestaltende Zeit, als freie Zeit für das »wirkliche Leben« – die Wirklichkeit muß spektakulärer sein als der wirkliche Alltag –, entpuppt sich als Pflicht. Denn die Arbeiterin muß nicht nur arbeiten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, sie muß auch konsumieren: so lösen sich zwei getrennte Zeit-Räume voneinander, jener der Arbeitswelt, in der die Arbeiterin als Arbeiterin behandelt wird und jener der Freizeitwelt, in der sie in der Verkleidung der Konsumentin als Mensch behandelt wird – Guy Debord spricht deshalb vom Humanismus der Ware.[6] Im Konsum entdeckt sich die Arbeiterin auch als Staatsbürgerin, die Frage der Wahl von Gütern ersetzt zunehmend die herkömmlichen politischen Rechte und Pflichten, weshalb das Einkaufszentrum zunehmend als Restbestand »öffentlichen Raums« betrachtet werden muß. Der Pflicht zur Wahl liegt jedoch primär eine Ethik des Konsums zugrunde, die Verpflichtung, das Geld im Umlauf zu lassen, die nationale Volkswirtschaft nicht durch zu große Sparsamkeit zu schädigen und sich so als umsichtige Staatsbürgerin zu erweisen – daher kann nicht nur gekauft werden, es muß gekauft werden. Die Verpflichtung zum Kauf und zur Erlangung eines bestimmten Grades an Wohlstand kaschiert dabei die Verpflichtung zur Arbeit, denn wer kaufen will, muß auch bezahlen [Get. The Money. First.]; entweder man hat es – dann wird man schon anständige Staatsbürgerin sein –, oder man muß dafür arbeiten – spätestens dann wird man anständige Staatsbürgerin. Als solche Art im Zaum zu halten, nicht nur an Wochentagen, sondern auch an freien Tagen zu beschäftigen, eignet sich die Pflicht zum Konsum hervorragend zur Kontrolle.

Kontrolle

Um das reibungslose Funktionieren dieses Systems sicherzustellen, müssen all jene Personen ausgeschlossen werden, die – aus welchen Gründen immer – nicht kaufkräftig genug sind. Nicht nur, daß sie besonders gefährdet wären, sich Eigentumsdelikte zuschulden kommen zu lassen, sie stören in erster Linie das Bild. Das Bild von der heilen Welt, von Fülle und Überfluß, Wärme und Homogenität, sie sind dem Geschäft abträglich – dessen machen sie sich auf alle Fälle schuldig. Zutritt ins Paradise hat nur, wer sich den dortigen Gepflogenheiten anpaßt. [Get. The Money. First.] Im Fall von Marianne Fastvolds Hypermarkt ist die Kontrolle noch teilweise sichtbar, nicht im Inneren – da ist die Welt in Ordnung –, aber doch rundherum: das Zentrum ist geschlossen, wer hinein will, muß sich unangenehmen Hantierungen aussetzen. Dieses Modell, das zur Zeit in Vervielfältigung begriffen ist – etwa in Form der amerikanischen Gated Communities – ist eigentlich bereits veraltet, denn nicht nur die Besitzlosen sind unansehnlich, plumpe, sichtbare Kontrollmethoden sind es auch. Die neuesten Konsumwelten kommen ohne sie aus, paradigmatisch dafür: Manhattans neuer Times Square. An dem hat sich auf den ersten Blick nicht viel geändert, er ist nach wie vor »öffentlicher Raum«, im Sinn von öffentlich zugänglicher Raum, keine Schranken verhindern das Betreten. Aber dennoch fehlen viele, die bisher ihren Platz auf ihm gefunden haben, sie werden diskret hinauskomplimentiert. Flächendeckende Videoüberwachung und ein stets präsenter privater Sicherheitsdienst machen dies möglich, finanziert in Public-Private-Partnership von der Stadt New York und der Walt Disney Company. Zur noch reibungsloseren Abwicklung gibt es ein neues Gericht, das sich – da nur für dieses Gebiet zuständig – auch mit den vielen Bagatelldelikten auseinandersetzen kann.[7] Was dieses Modell anzeigt, ist das Unsichtbar-Werden der Kontrollfunktion und ihr Verschwinden im Spektakulären der Architektur.

Architektur

Welche Rolle spielt die Architektur bei der Ausübung von Macht? Welche verschiedenen Rollen hat sie historisch bereits gespielt? Mit den unterschiedlichen Machttypen, wie Foucault sie charakterisiert, lassen sich unterschiedliche Beziehungen der Architektur zur Macht herausarbeiten, jeweils unterschiedliche Teilaspekte von Architektur sind davon betroffen. Die Souveränitätsmacht, wie sie bspw. die Feudalgesellschaft des Mittelalters hervorbringt, ist in erster Linie am Aufriß interessiert, an der Prunkfassade, am Prospekt, der beeindruckt und einnimmt. Machtausübung findet punktuell statt, im Spektakel der Monumentalarchitektur, die die Macht sichtbar darstellt. Die Disziplinarmacht, die vor allem mit der Entstehung des Bürgertums verbunden ist, wird sich weniger anschaulich architektonisch ausdrücken, dafür umso effektiver. Mit der Vermehrung des Privateigentums und der Notwendigkeit, es zu schützen, muß die Kontrolle eine flächendekkende werden; Beeindruckung allein reicht nicht mehr aus, vielmehr muß das alltägliche Leben in Formen gefaßt werden – Architektur und Städtebau werden dabei als jene Disziplinen erkannt, mit denen unmittelbar Politik gemacht werden kann. Der Schwerpunkt des Interesses liegt nun auf dem Grundriß, mit seiner Hilfe kann das Leben in Bahnen gelenkt werden, kann Macht nicht nur symbolisch ausgeübt werden, sondern real. Architektur muß daher weniger prachtvoll sein, sie muß funktionieren – ein Ziel, das erst im 20. Jahrhundert erreicht wird, mit dem, was man gemeinhin Funktionalismus nennt. Auch wenn die Machtausübung alles erfassen soll, beschränkt sie sich doch auf architektonisch faßbare Einheiten, auf Gebäudetypen wie Schule, Fabrik, Krankenhaus, Gefängnis usw. – ein Umstand, der sie vom Machttyp unterscheidet, wie ihn Deleuze, in Fortsetzung der Foucaultschen Studien, im Entstehen begriffen sieht: der Kontrollgesellschaft.[8]

Wenn die Disziplinarmacht sich der Architektur bedient, um Kontrolle ausüben zu können, dann bleibt sie als solche erkennbar, wenn sie mit Hilfe von Mauern Ein- und Ausschließungen vornimmt, macht sie ihre Mechanismen sichtbar und damit immer auch Widerstand möglich. Diese Offensichtlichkeit geht in der Kontrollgesellschaft verloren, alle festumrissenen Institutionen büßen ihre Grenzen ein, Machtausübung wird tatsächlich flächendeckend möglich: die Schule wird durch lebenslanges Lernen ersetzt, Fabriken durch international agierende, diffuse Unternehmen, Krankenhäuser durch Gesundheitsvorsorge ... Das Leben wird angeblich freier, selbständiger, doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Ausbeutung nun als eine totale, sie hat nur ihr Gesicht gewandelt, sie heißt jetzt Konkurrenz. Kontrolle ist dabei nicht mehr an Räumlichkeiten gebunden, die Architektur verliert ihre frühere Bedeutung für die Macht. Der Gebäudetypus des Panopticon ist überflüssig geworden, er kann durch technische Geräte ersetzt werden, die die Funktion des Alles-Sehens viel reibungsloser erfüllen: Videokameras und Abhörvorrichtungen, Verkabelung und zentrale Datenverarbeitung. Doch sie sind nur Zusatzmaßnahmen, sie helfen dort nach, wohin die ausgerufenen Handlungsmaximen noch immer nicht durchgedrungen sind, denn die eigentlich wirksame Kontrolle ist längst durch Verinnerlichung der Machtverhältnisse entstanden. Jetzt, da von der Architektur keine Disziplinierungseffekte mehr erwartet werden, kann sie alle Formen annehmen, mehr noch: sie muß alle Formen annehmen, denn, was nun von ihr erwartet wird, ist die Verschleierung der tatsächlichen Machtmechanismen: die Bekleidung der nackten audiovisuellen Überwachungsgeräte, Nostalgie und Idylle, die vorgeben, daß sich nichts geändert hat und möglichst viel Wahlmöglichkeit für jene, die nichts mehr zu wählen haben. Architektur zur Wahrung des Scheins und zur Belohnung. Die Kontrollgesellschaft kehrt scheinbar zur Feudalgesellschaft zurück, was wieder an Architektur interessant ist, ist ihre Form, ist die Inszenierung des Spektakels, diesmal aber vor allem, um zu verdecken, daß dahinter noch ein anderer Machttypus aktiv ist, die Disziplinarmacht, die sich nun nicht-architektonischer Mittel bedient, um die eigentlichen Funktionen sicherzustellen.

Der Raum, den die Kontrollgesellschaft produziert, wird von Rem Koolhaas als Junk-Space beschrieben, sein wesentlichstes Kennzeichen ist die Gleichzeitigkeit von hoher Differenzierung und Vereinheitlichung. Fixe Identitäten hat er abgeschafft, da er immer das Neueste anbieten soll, muß er laufend verändert werden: Junk-Space sondert Architekturen ab, wie ein Reptil Häute abstößt – er wird jeden Montagmorgen neu geboren.[9] Während der frühere Raum sich durch einen gewissen Grad an Stabilität ausgezeichnet hat und zwischen verschiedenen Umbauphasen unterscheidbare Phasen der Ruhe lagen, so ist dies nun einem permanenten Umbau gewichen. Dennoch: Junk-Space verändert sich ständig, doch er entwickelt sich nie. Seine Inhalte sind repetitiv und stabil. Sie vermehren sich wie beim Klonen: mehr vom selben. Denn das Differenzierte seiner Wege hat (nur) einen Sinn: je erratischer der Weg, je exzentrischer die Schleifen, um so effizienter die Warenrepräsentation, um so zwangsläufiger das Kaufgeschäft.[10] Wenn sich der Raum noch bis vor kurzem durch das Nebeneinander verschiedener Räume ausgezeichnet hat, die voneinander abgegrenzt und daher sichtbar waren, dann zeichnet er sich jetzt durch das Abschaffen aller Grenzen aus, die Menschheit kommt sich näher. Die kapitalistische Produktion hat den Raum vereinheitlicht, den keine äußeren Gesellschaften mehr begrenzen. [...] Diese Kraft zur Homogenisierung ist die schwere Artillerie, die alle chinesischen Mauern in den Grund geschossen hat.[11] Architektur wird flüssig, wenn sie überflüssig ist. Zunächst ist Junk-Space [...] ein Innenraum,[12] denn dort ist das Eingehen auf die Bedürfnisse der Kundinnen leichter möglich, Warenangebot und Dekoration können problemlos permanent gewechselt werden. Damit sich alle wohlfühlen, ist Junk-Space stets auch heißer Raum;[13] was seine Entstehung begünstigt hat, ist die Möglichkeit der Klimatisierung, mit ihrer Hilfe kann das Trennende der Architektur überwunden, immer mehr Räume können zusammengeschlossen werden, der Innenraum dehnt sich aus – mittlerweile hat er ganze Innenstädte erfaßt, ganze Altstädte als Mall. Der Vorteil in diesem Fall ist, daß für die Dekoration schon gesorgt ist, und das Charakteristische, das Authentische ist noch immer ein sehr beliebtes Muster. Das Problem dabei ist nur, daß das Besondere verschwindet, wenn es bewahrt werden soll, es wird dann nämlich touristisch, und da Touristinnenwünsche immer die gleichen sind, wird auch das Besondere immer gleicher.[14] Ist das Besondere nicht vorhanden, kann es hergestellt werden, die Erlebniswelten werden dabei immer authentischer, mittlerweile bestehen sie nicht mehr nur aus Pappe und Plastik, sondern auch aus »echtem« Material – Traum und Wirklichkeit schließen sich nicht mehr aus.[15] Während die alten Stadtzentren zu (geschlossenen) Einkaufszentren werden, und an der Peripherie neue Stadtzentren in Form von Einkaufszentren entstehen, wird gleichzeitig der Stadtraum dazwischen ausgedünnt, die Stadt in Landschaft umgewandelt. Die Straße als öffentlicher Raum geht verloren, gewohnt wird nun in der Zerstreuung und folglich auch in Isolierung. Das alte Medium Straße wird ersetzt durch sogenannte Massenkommunikation, bei der allerdings eher manipuliert als kommuniziert wird. Insofern spricht Guy Debord von der Entstehung einer neuen künstlichen Bauernschaft,[16] die wie die alte auch durch ihre Isolierung daran gehindert wird, gemeinsam aktiv zu werden und als geschichtliche Macht aufzutreten – Geschichte ist immer in Städten oder von Städten aus gemacht worden. Der Raum der Kontrollgesellschaft zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit zweier entgegengesetzter Phänomene aus: die Individuen in ihm werden voneinander getrennt, obwohl (oder vielleicht gerade weil) die Räume um sie herum immer einheitlicher werden. Beides beinhaltet Aspekte der Kontrolle, die Isolierung verunmöglicht auf pragmatische Weise gemeinsame Widerstandsaktionen, die Vereinheitlichung des Raums macht sie überhaupt undenkbar und auch nicht wünschenswert. Undenkbar werden sie, weil nichts anderes mehr vorgestellt werden kann, denn mit dem Raum ist auch die Zeit einheitlich geworden, der permanente Umbau macht die Erinnerung an einzelne voneinander unterscheidbare Perioden unmöglich: Da Junk-Space nicht begriffen werden kann, kann man sich auch nicht an ihn erinnern. Er ist farbenprächtig, aber nicht erinnerbar, so wie ein Bildschirmschoner: seine Weigerung, still zu stehen, ruft sofortige Amnesie hervor.[17] Die Gedächtnisfunktion des Raums geht verloren und mit ihr auch ihre politische Relevanz, wer nichts anderes kennt, will auch nichts ändern. Und warum sollte auch etwas anderes gewollt werden? Junk-Space ist eine Realutopie, durch den permanenten Umbau wird totale Wunscherfüllung möglich: Die Metropole strebt jenen mythischen Punkt an, wo die Welt ganz und gar vom Menschen gemacht ist und restlos mit seinen Wünschen übereinstimmt. Die Metropole ist eine süchtig machende Maschine, aus der es kein Entrinnen gibt [...][18] So ist Entertainment zur Politik geworden, Kontrolle wird ausgeübt, ohne daß jemand dies merken würde: das Formen von Menschen bereitet nun keine Schmerzen mehr, es macht geradezu Spaß ...

Fußnoten


  1. Mark Ravenhill, Shopping and F***ing. London 1996. ↩︎

  2. erzählt nach: Marianne Fastvold, Paradies im Angebot. Roman. München 1998. ↩︎

  3. vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main 1998, insb. S. 251ff. ↩︎

  4. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S. 15. ↩︎

  5. ebd., S. 14. ↩︎

  6. ebd., S. 35f, 136. ↩︎

  7. vgl. Frank Roost, Der neue Times Square: Null Toleranz, in: ARCH+ Nr. 152, 153. 2000. ↩︎

  8. Gilles Deleuze, Postscript on the Societies of Control, in: Neil Leach (Hg.), Rethinking Architecture, a reader in cultural theoy. London 1997. ↩︎

  9. Rem Koolhaas, Junk-Space, in: ARCH+ Nr. 149/150. 2000, S. 56. ↩︎

  10. ebd., S. 56 und 57. ↩︎

  11. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, S. 145. ↩︎

  12. Rem Koolhaas, Junk-Space, S. 55. ↩︎

  13. ebd., S. 56. ↩︎

  14. vgl. Rem Koolhaas, Die Stadt ohne Eigenschaften, in: ARCH+ Nr. 132. 1996, S. 18. ↩︎

  15. Rem Koolhaas, Junk-Space, S. 59. ↩︎

  16. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, S. 151. ↩︎

  17. Rem Koolhaas, Junk-Space, S. 56. ↩︎

  18. Rem Koolhaas, Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. Aachen 1999, S. 316. ↩︎


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