Alexander Peer

Alexander Peer, lebt als freier Autor in Wien.


94 Seiten lang wundern sich die Leser und Leserinnen von Zwischen neun und neun über das eigenwillige Verhalten des Studenten Stanislaus Demba, der sich mit staunenswerter Ausdauer von Missgeschick zu Missgeschick hantelt, bis sich das Geheimnis lüftet. Anlässlich des zweifachen Leo-Perutz-Gedenkjahres 2017, in dem sich dessen Geburtstag zum 135. Mal und dessen Todestag zum 60. Mal jährt, ist ein Blick in diesen ersten Wiener Großstadt-roman des – wie ich ihn nennen möchte – phantastischen Realisten lohnend.
Der DTV hat sich jedoch in der Taschenbuch-Ausgabe ein veritables Eigentor geschossen, verrät er doch auf dem Buchdeckel zumindest eine der zwei Pointen, die den Roman tragen. Dembas Hände sind in Handschellen gefesselt. Vielleicht nahm der Verleger auch an, dass der Clou dieses Romans mittlerweile ohnedies landauf, landab bekannt ist. Ich möchte jedoch nicht wissen, wie Leo Perutz auf diesen publizistischen Fauxpas reagiert hätte. War dieser doch als begnadeter Zyniker von manchen gefürchtet, von anderen geschätzt. Nicht selten soll er jemandem, der ihm besonders klug gekommen ist, erwidert haben, dass er ja »Lücken in seiner Unbildung habe«. Im erzwungenen Exil in Palästina meinte er einmal, dass der »Franz Kafka dem Max Brod seine beste Romanfigur sei«, was die Beziehung zwischen Brod und Perutz nicht freundschaftlicher werden ließ (Eckart; Lehmann & Müller 1989).
Diese Bonmots, von denen es zahlreiche auch im Nachlass zu finden gibt – obwohl Perutz kein pflichteifriger Tagebuchschreiber war und etliche Briefe mutmaßlich verschollen blieben –, beinhalten ferner eine klare Absage für die Jubiläumsplage, die einen Schriftsteller für winzige Momente aus dem Nichts der Ungelesenheit schöpft, nur um ihn dann wieder gut darin zu versenken. Josef Kalmer wollte anlässlich von Perutz’ 75er einen Essay über ihn schreiben, woraufhin ihm der Prager Romancier entgegnete: »Ich habe wenig Verständnis für die Erhabenheit durch 5 teilbarer Ziffern des dekadischen Zahlensystems.« (zit. in Müller 2007)
Sehr wohl begeisterte sich Perutz neben dem Austüfteln von raffinierten Bauplänen für seine Romane für die Stadt, die er 1938 als säkularisierter Jude auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlassen musste: Wien Zwischen neun und neun lässt sich als Hommage an Wien allgemein, insbesondere an den 9. Bezirk lesen. In der Porzellangasse 37 hat Perutz mit seiner Familie, erst mit Ida Weil, mit der er die Kinder Michaela, Lore und Felix hatte, später – nach Idas Tod 1928 – mit Gretl Humburger, insgesamt 17 Jahre verbracht, bevor er über Italien nach Palästina fliehen musste. Vom Exil kehrte er nur noch sommers zurück, an seinen geliebten Wolfgangsee. Am 5. Juli 1957 hat er hier seinen letzten Roman, den Judas des Leonardo abgeschlossen, wenige Wochen später, am 25. August 1957, ist er in Bad Ischl gestorben, wo er auch begraben ist

Verlorene Menschen

Nach Wien kam er trotz Kriegsende selten. Was sollte er auch hier? Überall wären ihm nur Geister begegnet, die geliebten Tarockpartner Franz Elbogen oder Hugo Sperber, die nahestehenden Kollegen und Freunde wie Richard A. Bermann (unter dem Pseudonym Arnold Höllriegel erfolgreich), Anton Kuh oder Ernst Weiss waren verloren. Sie waren – wie es Perutz über den Tod Kuhs schrieb – ausgewandert: »Die größte Emigration geht leider über den Kokytos und den Phlegethon.« (zit. in Müller 1992)
Diesen beiden Flüssen des Wehklagens und der alles versengenden Flammen in der griechischen Mythologie, die zur Topographie des Hades gehören und von welchen es niemandem gelingt, zurückzukehren. Wie sehr Perutz Wien geliebt hat, wie sehr es ihm gefehlt hat in Palästina, geht aus vielen Bemerkungen hervor: »Eigentlich wäre mein Lebensproblem gelöst, wenn ich ein kleines Haus bauen könnte, von dessen vorderen Fenstern man die Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg.« (zit. in Müller 1992)
Bezeichnenderweise ist sein größter literarischer Erfolg im Exil in Tel Aviv einem Versehen zu verdanken. Das Arbeitergewerkschaftsblatt hat ohne Erlaubnis Zwischen neun und neun abgedruckt. Nicht nur anhaltende Debatten in der Öffentlichkeit über den Vorfall brachten Perutz unerwartete Publizität, auch die Strafzahlung des Verlags war viel höher als es ein übliches Autorenhonorar gewesen wäre.

Erfolgreicher Nachkriegsroman

Nicht selten sieht man Autoren und Autorinnen ihre Restexemplare zusammenklauben und somit die erste Auflage selbst an die Leserschaft zu bringen. Von Zwischen neun und neun erschienen von 1918 bis 1925 allein 13 Auflagen in deutscher Sprache, Übersetzungen folgten bis 1930 in englischer, finnischer, norwegischer, russischer, polnischer, schwedischer und ungarischer Sprache. Ernst Weiss schrieb an Perutz, »wären Sie englischer oder amerikanischer Autor, so würde Ihr Werk in 100.000 Exemplaren von London bis zum Sudan gelesen werden.« Darüber hinaus pflegte Perutz das damals gängige Vorabdrucken von Romanen in Zeitschriften und Zeitungen, was ihm mit Wohin rollst du, Äpfelchen ... 1928 ein Millionen-publikum bescherte.
Welches Wienbild entwickelten die damaligen Leser und Leserinnen von Zwischen neun und neun? In gewisser Weise mag es wohl eine freudianische Lesart der alten Kaiserstadt unterstützt haben. Zwar stellt sich der Plot des Romans verhältnismäßig einfach dar, doch das Abgründe öffnende Ende der Geschichte und der immer für einen masochistischen Einfall talentierte sowie latent cholerische Demba entschädigen mehr als ausreichend.
Kehren wir also zu diesem Stanislaus Demba zurück, der im Café Hibernia sitzt, das sich vis-à-vis von der Alten Börse befindet und das schnell als ehemaliges Café Schottenring assoziiert wird. Dorthin treibt Demba sein Hunger. Er bittet den Kellner um eine enorme Menge an Büchern, nicht um – wie seine Umgebung mutmaßt – einen Artikel zu schreiben, sondern um dahinter versteckt endlich seine Hände aus dem Mantel hervorzuholen und gierig die Portion Salami, zwei Eier im Glas und drei Brote zu essen.

Parforceritt durch den 9. Bezirk

Das ganze Malheur beginnt schon im ersten Kapitel. Bei der Greißlerin Johanna Püchl bestellt er erst hektisch ein Butterbrot, dann verfällt er in eine absonderliche Ruhe und fängt an, sich für alles mögliche zu interessieren, nur nicht dafür, das Butterbrot zu nehmen und zu bezahlen. Die Greißlerei in der Wiesergasse ist in der Wiesengasse im 9. Bezirk nur noch schwer auszu-machen, ein einziges Gebäude, dessen Errichtung vor der Jahrhundertwende zu datieren scheint, ist auffindbar. Die Greißlerei ist vielleicht einem um das Eck liegenden Supermarkt gewichen? Dass Perutz an diese Wiesengasse gedacht haben wird, erhärtet sich durch die danebenliegende Simon-Denk-Gasse, die im Roman zur Karl-Denk-Gasse wurde. Unmissverständlich wird die Lokalisierung ab dem zweiten Kapitel, das im benannten Liechtensteinpark spielt. Hier verhindern Professor Ritter von Truxa sowie Hofrat Klementi, dass Demba seine Extrawurst und sein Brot verspeisen kann, an welchen sich schließlich der Hund vom Professor, Cyrus, schadlos hält. Perutz schreibt in einem distanzierten Stil, der jedoch voller Pointen steckt.
Die Darstellung etwa der beiden Professoren im zweiten Kapitel hat etwas Karikaturenhaftes. Die Männer sind ins Gespräch vertieft. Hofrat Klementi ist Direktor der Altorientalischen Spezialsammlung des Kunsthistorischen Museums und mit einem »von der Akademie der Wissenschaften subventio-nierten Werk über die ›Bildung altassyrischer Eigennamen‹« in den Vordergrund getreten (Perutz 2007).
Die beiden unterhalten sich über den Gebrauch von Rauschmitteln nicht ohne ihre Belesenheit zu verschweigen, indem sie ihre exquisite Quellenkundigkeit demonstrieren. In diesen Gestus der Gelehrten bricht die Handlung ein: Sie setzen sich zu Demba auf eine Parkbank, um ihr Gespräch fortzusetzen. Der Hund des Hofrats mit dem Namen Cyrus hingegen kann dem Thema der betagten Herren nichts abgewinnen, findet dafür jedoch außerordentlichen Gefallen an Dembas Extrawurst.
Zitat S. 18: »›Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!‹« klagte der Hofrat, dem das Benehmen seines Hundes sehr peinlich war. »Ich muss Sie wirklich um Verzeihung bitten. Cyrus! Daher zu mir!«
Es ist nicht bekannt, in welcher Sprache Hofrat Klementi sich für gewöhnlich mit seinem Hunde verständigte. Vielleicht hatte Cyrus in langjährigem Zusammensein mit seinem Herrn einige Kenntnisse des Aramäischen oder des Vulgärarabischen erworben. Deutsch schien er auf keinen Fall zu verstehen. Er wiederholte seinen Angriff auf die Wurst [...].« Dembas Aggressionsabbau mündet alsbald in einem Fußtritt, den er dem Wurstdieb Cyrus verpasst. Sein extrem ambivalentes Verhalten lässt die Professoren mutmaßen, dass es sich bei ihm um einen Haschischsüchtigen handelt.

Zuschreibungen von anderen

Der ganze Roman handelt immer wieder von Interpretationen von Wirklichkeit, deren Grundlage die subjektive Sicht der Personen ist. Man könnte einwenden, dass das bei jedem fiktiven Text so ist, allerdings gibt es kaum einen Text, der so plakativ gegenüberstellt, wie es einerseits um die Hauptperson steht und welche Schlüsse andererseits die Mitmenschen ziehen. Interessant ist auch, dass Demba Fragmente von vorhergehenden Begegnungen in neue Begegnungen einbaut. In der Greißlerei liest er ein Schild mit der Werbebotschaft »Chwojkas Seifensand hält rein die Hand«, weiter unten ist ein Dialog von Demba mit einer Kollegin Sonjas angeführt, wo er im Anschluss diesen Werbespruch anbringt. Ebenso wird aus des Hofrat Klementis’ Hund Cyrus später sein eigener Hund Cyrus. Dieser ist überfahren worden. Damit Demba vor dem Vater von Steffi erklären kann, warum diese weint. In Wahrheit weint sie, weil sie eben erfahren hat, dass Stanislaus Handschellen trägt und in eine verfahrene Situation geraten ist.
Stanislaus Demba macht sich zum Franz-Josefs-Kai auf, um Sonja Hartmann, seine Ex-Freundin, zurückzugewinnen. Denn das ist neben dem Hunger das eigentliche Hauptmotiv, und für diese Rückeroberung braucht Demba Geld, denn Sonja will mit dem neuen Mann an ihrer Seite, Georg Weiner, auf Urlaub fahren. Dass Demba keine Chancen mehr hat und schließlich nachweisbar zu erkennen gibt, gar nicht mehr an ihr interessiert zu sein, merkt man schnell.

Lücke zwischen auktorialem und personalem Erzähler

Genauer muss man schon lesen, wenn man die raffinierte Kombination von auktorialer und personaler Erzählperspektive ergründen will. Es entsteht unter anderem der Eindruck des allwissenden Erzählers, der dann doch nicht in die Abgründe von Demba blicken kann, aber immer wieder diese Hoffnung nährt. Der Mantel, unter welchem Demba die in Handschellen gefesselten Hände verborgen hält, bietet zwar Schutz vor Einblicken, aber nicht vor Dembas Obsessionen.
Im Café Hibernia schließlich entledigt sich Demba des nagenden Hungers. Danach geht er Richtung Kolingasse zu seiner einzigen Vertrauten im ganzen Roman, Steffi Prokop. Nur sie weiht er in sein Schicksal ein, ihre Hilfe bleibt allerdings ergebnislos. Weiter zieht Demba mit den versteckten Händen von Station zu Station seines persönlichen Passionsspiels. In der Eßlinggasse im 1. Bezirk sucht er Dr. Hirsch auf und hofft darauf, einen Vorschuss für seine Nachhilfestunden zu erhalten. Wieder einmal scheint er von Fortuna begünstigt, um dann erst wieder mit leeren und nach wie vor gebundenen Händen dazustehen. Danach – man mag es kaum glauben – gelingt es Demba tatsächlich für verbrannte Kollegienhefte, die er für einen Studienkollegen mitstenographiert hatte, eine Wiedergutmachung von 70 Kronen zu erhalten. Das in einem Kuvert verwahrte Geld bringt Demba derart in Euphorie, das er es kurzerhand auf der Straße verliert. Den freundlichen Polizisten, der ihn darauf aufmerksam macht, weist er – innerlich bebend – von sich. Demba muss mit ansehen, wie ein anderer in den Besitz seines Kuverts kommt und folgt diesem unrechtmäßigen Besitzer namens Skuludis den Graben entlang bis er ihn in einem Kaffeehaus stellt. Schließlich kommt es zu einer Hetzjagd bis zur Mariahilfer Straße, wobei erst Demba Skuludis, dann der Grieche unserem Antihelden hinterherjagt, weil für einen kurzen Moment die Handschellen Dembas sichtbar wer-den. Weitere Handlungsstätten sind die Liechtensteinstraße, wo die Wohnung von seinem Widersacher Georg Weiner liegt, sowie ein schwer zu verortendes Restaurant, der Residenzkeller, in welchem Demba erst beispiellos brüskiert wird, dann – wieder in Verkennung seiner Situation – die anderen zu kontrollieren glaubt, um nur erst wieder in die Flucht getrieben zu werden. Es folgt ein verstörendes Finale, das hier nicht verraten sei.

Handschelle als Metapher

Perutz hat anlässlich eines Abdrucks des Romans in der Wiener Arbeiter-Zeitung eine Bemerkung veröffentlicht, in welcher er unter anderem wie folgt festhält: »Dieses Buch wurde im Herbst 1917 geschrieben, in einer Zeit, als die Menschheit noch keine in Ketten geschlagenen Völker kannte.« Konkret bezieht er sich auf eine flüchtige Begegnung während der Kriegszeit, als er einen ungewöhnlich erregten jungen Mann beobachtet. Die Idee für die Handschellennovelle hatte er schon im Februar 1915. Starke Einfälle zeichnen Perutz-Romane aus. Die Idee mit den Handschellen wurde gleich mehrfach plagiiert, sowohl von Eric Ambler als auch von Alfred Hitchcock ist bekannt, dass sie sich dieses Kniffs bedienten. Doch dieser Stanislaus Demba, den man durchaus als jüngeren Bruder von Dostojewskijs Raskolnikow bezeichnen kann, nur mehr zwischen Klamaukund Existenzialismus pendelnd, ist so einfach nicht anderswo in Szene zu setzen. Ist doch ein Charakteristikum des Romans, dass das Verhalten Dembas fortwährend durch andere interpretiert wird, erst ist erDieb, dann Bettler, Haschischsüchtiger, Krüppel und schließlich ein Wahnsinniger mit einem Revolver unter dem Arm. Wo, wenn nicht in Wien, könnte man sich derart mitfühlender Interpretationen seitens der Mitmenschen sicherer sein?

Perutz bescheiden

Wäre Perutz erfreut, einen Beitrag über seinen Roman und sein Wien in dérive zu lesen? Als ein Student der Germanistik 1929 Perutz zum Thema einer wissenschaftlichen Arbeit machen wollte, wich dieser aus: »Sie schreiben, daß Sie mein Interesse für die von Ihnen in Aussicht genommene Arbeit voraussetzen. Um die Wahrheit zu sagen, muß ich Ihnen mitteilen, daß dieses Interesse nicht in dem Maß, wie Sie es voraussetzen, besteht. Ich bin der Meinung, daß es für junge wissenschaftliche Arbeiter wichtigere Themen gibt als die sogenannten germanistischen. Meine Bücher wollen gelesen werden und gefallen, haben aber nicht den Ehrgeiz, Objekte wissenschaftlicher Betrachtung zu sein. Ich hoffe, Sie nehmen mir diese Aufdringlichkeit nicht übel, persönlich hat mir Ihr freundliches Interesse natürlich Freude gemacht.« (zit. in Müller 1992)
Als Perutz diese Zeilen schrieb, konnte er allerdings nicht ahnen, wie froh er wenige Jahre später über Anfragen wie diese gewesen wäre. Der Roman St. Petri Schnee – eine ausgeklügelte Konstruktion, die u.a. Elemente von Science-Fiction, Dystopie, unzuverlässiges Erzählen und Historismus eindrucksvoll zu verflechten vermag – erscheint als Fortsetzungsroman in der Ullstein-Zeitschrift Die Dame bis Juli 1933, im September wird das Buch bei Zsolnay verlegt. Obwohl drei Jahre später Der schwedische Reiter erscheint, verschwindet schon 1933 einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren der 1920er Jahre aus dem Bewusstsein nicht nur einer literarisch interessierten Öffentlichkeit, sondern auch der Literaturrezeption. Im Fall von St. Petri Schnee wussten die Zensoren der NSDAP wohl genau, warum.

Das Äpfelchen rollt langsam zurück

Die literarische Landschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Torso, das Schicksal der Bücher Nachts unter der steinernen Brücke und posthum Der Leonardo des Judas steht exemplarisch für eine ganze Generation: Ablehnungen im Akkord, lange Wartezeiten auf Veröffentlichungen und so selten nicht Verlagskonkurse und ausbleibende Honorarzahlungen waren deshalb auch dem alternden Romancier beschieden. Doch nicht nur in seinen Romanen erweist sich der ausgebildete Versicherungsmathematiker Perutz als Prophet – man denke an die Führerfigur Malchin in St. Petri Schnee – auch in der Einschätzung des Schicksals seiner eigenen Arbeit. In einem Brief an seinen Bruder stellte der Autor 1949 gleichermaßen resignierend wie selbstbewusst fest: »Die wirklich maßgebenden Faktoren, die Zeitungen, die Kritik, die Verleger und die Literaturgeschichte, registrieren mich als nicht mehr vorhanden, wenn nicht gar als nie vorhanden gewesen. Umso sicherer ist meine Auferstehung in 40 Jahren, wenn mich irgendein Literaturhistoriker wiederentdeckt und ein großes Geschrei darüber erhebt, daß meine Romane zu Unrecht vergessen sind.« (Perutz 1949)
Die Präzision dieser Ankündigung erstaunt. Als dieser Literaturhistoriker ist wohl der deutsche Germanist Hans-Harald Müller zu benennen, der – es mag absichtlich gewesen sein – 1989 mit der Perutz-Ausstellung der deutschen Nationalbibliothek und der damit verbundenen Publikation zu Leo Perutz erstmalig Leben und Werk des Pragers darzustellen versucht und unisono die Nachwörter für die Neuauflagen verfasst hat. Gewiss, er ist nicht der einzige: Blickt man die letzten drei Jahrzehnte zurück, entdeckt man eine Fülle an sekundärliterarischen Arbeiten zu Leo Perutz. Eine ganze Heerschar an Germanistinnen und Germanisten merzt eine Scharte aus, die ihre Vorgänger hinterlassen haben. Es liegt in der Natur dieser Entwicklung, dass anfangs vor allem Begrifflichkeiten wie Historismus und Phantastik Kernthemen der wissenschaftlichen Arbeiten bildeten, später die dramaturgischen Raffinessen und erzählperspektivischen Herausforderungen etwa des unzuverlässigen Erzählens aufgegriffen wurden und schließlich Fragen zur Identität beziehungsweise vielmehr zu Identitätsbrüchen oder auch zu den Frauengestalten im Werk erörtert wurden: Die Rezeption arbeitet somit sukzessive die Vielschichtigkeit Perutz’scher Narration auf. Denn wenn Perutz schon nicht ein Avantgardist in stilistischer Hinsicht war, so bestimmt in narrativer.
Für die Rückkehr des Äpfelchens, das jahrzehntelang in einem ziemlich dunklen Eck verschwunden war, war aber auch das Interesse an Perutz in nicht-deutschsprachigen Ländern maßgeblich. Der Japaner Masato Murayama etwa dissertierte 1979 über Leo Perutz. Die historischen Romane in Wien. Dieser Umstand überrascht wenig, wenn wir bedenken, dass etwa durch die Exilsituation nicht nur von Perutz, sondern auch seiner Übersetzer, Bekannten und Freunde, das Werk von Perutz eher im nichtdeutschen Raum konserviert wurde, beispielsweise erfreuten sich die versponnenen Romane im spanischsprachigen Lateinamerika in den 1940er Jahren einer regelrechten Popularität und büßten davon auch später wenig ein. Nicht zuletzt dadurch, dass Jorge Luis Borges den Meister des Jüngsten Tages 1946 in seine Sammlung der besten Kriminalromane aufnahm, womit eine Kanonisierung erfolgte, die hierzulande erst allmählich festzustellen ist. Eine beachtliche online-Sammlung an Texten und Büchern sowie Verweisen zu Leo Perutz pflegt gegenwärtig der Germanist Michael Mandelartz (2008).

Gedenktafel für Leo Perutz an seinem Wohnhaus in der Porzellangasse im 9. Wiener Gemeindebezirk. , Foto: Alexander Peer
Gedenktafel für Leo Perutz an seinem Wohnhaus in der Porzellangasse im 9. Wiener Gemeindebezirk. , Foto: Alexander Peer

Das jüdische Prag

Ist mit Zwischen neun und neun das Wien in der Zwischenkriegszeit Bühne des Geschehens, so entsteht in Nachts unter der Steinernen Brücke das alte jüdische Prag aus den Ruinen der Geschichte. In einer Ausgabe zu Judentum und Urbanität darf ein kurzer Kommentar zu diesem Buch nicht fehlen. Dieser als Novellenkranz zu bezeichnende Roman verknüpft kongenial vierzehn Geschichten um die drei Hauptfiguren, den Rabbi Loew, die Jüdin Esther und Rudolf II, den Kaiser des Römischen Reiches. Im Epilog wird eine Quellenfiktion vermittelt, der Hauslehrer Jakob Meisl erzählt seinem Nachhilfeschüler die Geschichten von seinem Urahn Mordechai Meisl, dessen Frau Esther, die im gesamten Roman kaum plastisch wird, sondern vielmehr als Fee und Projektionsfläche erscheint, und dem psychisch degenerierten Kaiser, der – weil er eben nicht so funktioniert, wie er es als römisch-katholischer Führer sollte – charismatisch zwischen Vernunft und Wahn pendelt, sowie dem Rabbi Loew, der gewissermaßen zum Schöpfer dieser Geschichte wird. Die Niederschrift des Textes erfolgt jedoch erst fünfzig Jahre später. Wir haben somit drei Zeitebenen: Das blühende Prag vor dem 30jährigen Krieg, Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, zweitens das Prag der Jahrhundertwende und schließlich das Prag ohne Anzeichen jüdischer Kultur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs; ein doppelter Rahmen ist somit um die Hauptgeschichte gezogen, die dadurch auch als Requiem erscheint.
Perutz selbst bekannte mehrfach, dass ihm das Schreiben des Textes nicht früher oder rascher möglich war. Am 11. März 1951 notiert er in sein Notizbuch: »Den ganzen Tag am Epilog gearbeitet. Um 10 Uhr Meisl Gut fertig. Traum von 27 Jahren Wirklichkeit geworden.« (zit. in Müller 2007)

Utopie und Wirklichkeit

Noch länger musste die Vermählung von Rose und Rosmarin, mit welcher der Rabbi Loew durch kabbalistische Mystik die sitten- und standeswidrige Vermählung von Esther und Rudolf II. ermöglichte, warten, bis sie auch öffentlich bekannt wurde. Die schwierige Publikationsgeschichte von Nachts unter der steinernen Brücke ist mittlerweile vielfach zitiert.
Während der Verleger Zsolnay die jüdische Thematik als problematisch für das Nachkriegsösterreich und -deutschland einschätzte, war Perutz den Zionisten im eben gegründeten Israel zu wenig jüdisch. Perutz ließ sich von niemandem, auch von keiner Idee vereinnahmen. Zwar sympathisierte er in der Zwischenkriegszeit mit den Legitimisten, die eine Wiederauferstehung der Monarchie forcierten, doch ihm ging es nicht um die Rückkehr der Habsburger – in St. Petri Schnee ist ironischerweise gar von einer Rückkehr der Staufer im römisch-deutschen Reich und der Tudors in England die Rede –, sondern um die Vielschichtigkeit von Kultur, denn die Buntheit des Vielvölkerstaates vermisste er empfindlich.
Die eigentliche Heimat von Perutz war deshalb vermutlich das Wiener Kaffeehaus. Denn das, was er im Großen erträumte und zweimal in dieser so dunklen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde gehen sah, gelang im Kleinen Abend für Abend: Das Zusammensein grundverschiedener Menschen am Kaffeehaustisch, so viele Konfessionen, so viele Herkünfte, so viele Sprachen, so viele Charismen – in hitziger Debatte vereint.

Alexander Peer, geb. in Salzburg, lebt als freier Autor in Wien. Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Seine wichtigsten Bücher sind: Bis dass der Tod uns meidet (2013), Land unter ihnen (2011), Ostseeatem (2008) und (über Leo Perutz) Herr, erbarme Dich meiner! (2007). 2011 Stadtschreiber in Schwaz und 2012 Writer-in-Residence in der Villa Sträuli in Winterthur. www.peerfact.at


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Literaturliste

Literatur
Eckart, Brita; Lehmann, Klaus & Müller, Hans-Harald (1989): Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Wien: Paul Zsolnay Verlag.
Mandelartz, Michael (ab 2008): Leo Perutz – Bibliographie: Werke, Bibliographien, Materialien, Sekundärliteratur. Verfügbar unter: http://www.kisc.meiji.ac.jp/~mmandel/recherche/perutz_bibliographie.html#nocssnavi (Stand 3.10.2016).
Müller, Hans-Harald (1992): Leo Perutz. München: Beck’sche Reihe Autorenbücher.
Müller, Hans-Harald (2007): Leo Perutz. Biographie. Wien: Zsolnay.
Perutz, Leo (1949): In einem Brief an Paul Perutz vom 26. November 1949, im Nachlass Leo Perutz im Deutschen Exil-Archiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main.
Perutz, Leo (2007): Zwischen neun und neun. München: DTV.

Weitere Bücher von und über Leo Perutz:
Forster, Brigitte & Müller, Hans-Harald Hg. (2002): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien: Sonderzahl.
Peer, Alexander (2007): Herr, erbarme dich meiner! Leo Perutz. Leben & Werk. Wien. St. Wolfgang: Edition Art & Science.
Perutz, Leo (2008): Nachts unter der steinernen Brücke. München: DTV.