» Texte / Juden und Jüdinnen in der Bratislavaer Gesellschaft

Peter Salner


Unweit des Zentrums von Bratislava herrscht seit Herbst 2000 ein reger Baulärm. Vom Raum des jüdischen Friedhofes, der während des Holocausts verwüstet wurde, sind die Straßenbahnschienen verschwunden und seit Mai dieses Jahres beginnen sich allmählich die Mauern des zukünftigen Denkmals für Chatam Sofer zu erheben. Viele der Vorbeigehenden erahnen gar nicht, dass an der Stelle der letzten Ruhestätte des bedeutenden Rabbiners sich erstens ruhmreiche und tragische Vergangenheit, zweitens Probleme der Gegenwart und drittens Perspektiven der jüdischen Gemeinschaft symbolisieren.

Vergangenheit

Chatam Sofer (1762 –1839, mit bürgerlichem Namen Moshe Schreiber) kam im Jahre 1806 nach Bratislava und wirkte hier bis zu seinem Tod als Oberrabbiner und Richter der Gemeinschaft, Lehrer der hiesigen hochberühmten Jeschiwa (Talmudschule) und bedeutender Kommentator des Talmud und der Tora. Ins Bewusstsein der nächsten Generationen ging er hauptsächlich durch die nachdrückliche Erhaltung der traditionellen Werte des Judaismus ein. Er war bestrebt, die Gemeinschaft vor den Einflüssen der Umgebung zu isolieren, weshalb er sich auch vom Kampf der Juden und Jüdinnen um Gleichberechtigung distanzierte. Laut Arthur Hertzberg, einem gegenwärtigen US-amerikanischen Rabbiner, verbot Sofer die Verbreitung des westlichen Stiles in der Kleidung und in den gesellschaftlichen Konventionen. Im alltäglichen Umgang durfte nur jiddisch gesprochen werden und gebetet sollte ausschließlich in hebräisch werden. Jede Modernisierung sowie die westliche Bildung tat er als ketzerisch ab und leistete unerbittlichen Widerstand gegen die Reformbewegung Moses Mendelsohns. Sein Grab ist bis heute eine Pilgerstätte für orthodoxe Gläubige. Die Tragödie des Holocausts griff auch noch die sterblichen Überreste des längst verblichenen Rabbiners an. Den alten jüdischen Friedhof, auf dem er begraben liegt, verwüsteten die Repräsentanten des faschistischen Regimes der Slowakischen Republik im Jahre 1942. Bewahrt wurden lediglich 26 Gräber des so genannten Rabbiner-Bezirkes. Allmählich verschwanden auch sie unter der Erdoberfläche und in den 1980er-Jahren, also während der Zeit des Kommunismus, führte eine Straßenbahnlinie genau darüber. Es schien, als ob es bloß eine Frage der Zeit sei, bis das Schicksal der Überreste, aber auch das der gesamten Jüdischen Gemeinde in Bratislava, definitiv besiegelt ist.

Gegenwart

Eine Änderung der scheinbar unumkehrbaren Entwicklung brachte erst die sanfte Revolution. Der November 1989 beendete unter anderem das Schweigen, welches (bis auf eine kurze Pause während des Prager Frühlings 1968) fast ein halbes Jahrhundert andauerte. Die in der Slowakei bis dahin verschwiegene Literatur über Themen des Judaismus erschien wieder. Die Massenmedien und Presseseiten widmeten Raum für Information und Diskussionen zur jüdischen Geschichte, zum Glaubens und der Identität. Eine Änderung der Atmosphäre reflektiert auch die Tatsache, dass sich das Judentum mehr und mehr aus der Anonymität erhebt und zahlreiche Aktivitäten mit direkter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit ablaufen. Das beste Beispiel ist das feierliche Anzünden der ersten Kerze am neunarmigen Leuchter (Chanukija) im Rahmen des Chanukka-Festes, welches seit 1993 jährlich an den Orten der zerstörten Synagogen stattfindet. Diese Tradition führte kurz nach seiner Ankunft der neue Rabbiner Baruch Meyers ein. Neben Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft und Schaulustigen fehlten auch nicht offizielle Vertreter. Unter den Teilnehmenden waren als Ehrengäste u.a. Präsident Michael Kovac, ein Jahr später Parlamentsvorsitzender Ivan Gašparovic, dann der Bratislavaer Bürgermeister Peter Kresanek und andere Repräsentanten des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Trotz der bedeutenden Verbesserung der Situation überdauerten jedoch ernste, existenzielle Probleme, die die Entwicklung der Gemeinde behindern. Sie haben einerseits ökonomischen, andererseits menschlichen Charakter. Die Juden und Jüdinnen sind kein neues Element im Leben von Bratislava.

Als »die Anderen« standen sie zwar bis zum Ende des 19. Jh. hauptsächlich am Rande der Gesellschaft, trugen aber dennoch zum Funktionieren des städtischen Lebens bei. Die heutige jüdische religiöse Gemeinde will an die ruhmreichen Traditionen der Vergangenheit anschließen, welche besonders vom erwähnten Chatam Sofer und seinen Nachfolgern verkörpert wurden. Das ist keine leichte Aufgabe. In der Zwischenkriegszeit gab es in der Stadt drei Synagogen und 14 Gebetshäuser, es wirkten rund 30 jüdische Vereine, und es entfaltete sich eine gesellschaftliche, kulturelle sowie karitative Sphäre. Noch die Volkszählung im Dezember 1940, also kurz vor den Deportationen, verzeichnete mehr als 15.100 Juden und Jüdinnen. Den Holocaust überlebten weniger als 3000 von ihnen und gegenwärtig bekennen sich ungefähr 700 Personen zum Judentum. Mit der Belebung der jüdischen Gemeinschaft tauchten auch Probleme der Konsensfindung zwischen den religiösen Regeln der »Halacha« (Komplex von religiösen Geboten und Verboten) und der posttotalitären Realität der »nicht-religiösen« Gesellschaft auf. Man muss bedenken, dass sich die Mitglieder der Gemeinde das Wesen des Judentums und seiner Existenz offenbart. Bis auf wenige Ausnahmen lehnen die Angehörigen aller Generationen den Judaismus als Glauben, besonders in seiner orthodoxen Form, ab. (Auch deshalb, weil Atheismus und »Mischehen« in der Nachkriegszeit üblich waren.) Diese Haltung geht so weit, dass Einzelne, welche ansonst öffentlich ihren positiven Bezug zum Judentum deklarieren, einen Beitritt zur Gemeinde ablehnen, weil sie »religiös« ist. Die jüngere und mittlere Generation beherrscht die religiösen Riten nicht. Aufgrund des Holocausts und Jahrzehnten des Kommunismus hatten sie nicht die Möglichkeit, sich mit den traditionellen Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Faktum, dass der Holocaust physisch die Kontinuität zerrissen hat. Die Absenz der Generation der Großeltern ist evident. Eventuelle Rückkehren zum Glauben sind vereinzelt und verschieden motiviert. Die Mehrheit der Angehörigen der Gemeinschaft betont ihre »nicht-religiöse« Identität mittels der Formulierung, dass sie »ethnische Juden bzw. Jüdinnen« sind. In der gegenwärtigen Arbeit der jüdischen religiösen Gemeinde herrschen soziale Aktivitäten vor, hauptsächlich denen zugewandt, die den Holocaust überlebt haben, aber es fehlt auch nicht an kulturellen und gesellschaftlichen Unternehmungen. Die Räumlichkeiten der Gemeinde (ursprünglich Objekte der ehemaligen jüdischen Schule aus der Mitte des 19 Jh.) reichen für das wachsende Interesse nicht aus. Den wesentlichen Teil der Gäste lockt das Angebot an finanziell erschwinglicher koscherer Kost, aber auch die Möglichkeiten des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Es kommen regelmäßig Angehörige des Klubs der SeniorInnen, aber es fehlen auch nicht die jüngeren Generationen. Hier ist die Slowakische Union jüdischer Jugendlicher beheimatet, die MusikerInnen der Kapelle »Pressburger Klezmerband« proben ihr Repertoire ebenso wie die Mitglieder der Gruppe jüdischer Tänze »Simcha«. Der Vorstand der Gemeinde entschied sich deshalb im Jahre 1999 für die Erbauung einer neuen koscheren Küche. Auch dank des Verständnisses der SponsorInnen verschiedener Staaten entstand im Areal der Gemeinde ein Objekt, welches durch seine moderne Architektur nicht nur die BesucherInnen fesselte, sondern die Anerkennung slowakischer und ausländischer ExpertInnen einbrachte. Mit dem Betrieb wurde im Oktober 2000 (symbolisch zum jüdischen Neujahr) begonnen. Es steht nicht nur KostgängerInnen (inklusive der BewohnerInnen des einzigen jüdischen SeniorInnenheims in der Slowakei Ohel David, das im Jahr 1999 eröffnet wurde) zur Verfügung, sondern dient auch für kulturelle oder religiöse Veranstaltungen.

Ehemals untergegangene, genauer gesagt verbotene Vereine nahmen ebenfalls allmählich ihre Tätigkeit wieder auf. Im Jahre 1991 begann die Loge Bnai Brit erneut zu wirken. Der Name des Vereins Toleranz spiegelt die gewünschten, aber nicht immer erfüllten Ideale eines guten Zusammenlebens mit den nichtjüdischen slowakischen EinwohnerInnen der Stadt. An die vorkriegszeitliche Tradition schließt auch der Sportklub Makkabi an. Eine wichtige Rolle im Prozess der Selbsterkennung der jungen Generation spielt die Slowakische Union jüdischer Jugend, gegründet im Jahr 1990. Mit der Herausgabe der Zeitschrift Chochmes, der Organisation verschiedener sowohl lehrreicher als auch kultureller Unternehmungen interessiert sie zwanglos neue Jugendliche und vermittelt ihnen wenigstens die grundlegenden Formen und Prinzipien des Judaismus. Großen Wohlgefallen der nicht nur jüdischen Öffentlichkeit hat sich das Jüdische Forum, gegründet 1990 durch den Arzt und Professor Dr. Pavol Traubner, erworben. Dieses informelle Unterfangen zog ein breites Spektrum von Personen an und schuf einen Raum nicht nur für aktuelle »jüdische« Diskussionen, sondern auch für Kontakte mit Persönlichkeiten aus der Welt der Wissenschaften, der Kultur und der Politik. Einladungen erfolgten z. B. an Simon Wiesenthal, Präsident Michal Kovac oder den jüdischen Sänger Schlomo Karlebach.

Trotz der erwähnten Haltung eines Teils der jüdischen Gemeinschaft lebt auch das religiöse Leben auf, wenn auch nicht in der Form, die in der Vergangenheit präferiert wurde. Mit der Aktivierung der Religion kehrte, wenn auch auf anderer Ebene, der vermeintlich »tote« Konflikt verschiedener Richtungen des Judaismus zurück. Laut des Gesetzes des Slowakischen Nationalrates aus dem Jahr 1945 darf in der Stadt bloß eine religiöse jüdische Gemeinde wirken. Doch heute stellt es bloß eine formale Hürde dar, denn einer möglichen Aufteilung steht eher die geringe Zahl der Mitglieder im Wege als das veraltete Gesetz; im inneren der Gemeinschaft läuft ein stiller Streit zwischen VertreterInnen der »traditionellen« und denen der »liberalen« Ansichten.

Die begleitenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Prozesses sind neben den positiven auch die Versuche einer Rehabilitierung des ehemaligen slowakischen Staates (1939-1945) und seiner Repräsentanten mit Präsident Josef Tiso an der Spitze, obgleich sie die direkte Verantwortung für die Deportationen der Juden und Jüdinnen tragen. Anonyme Briefe und beleidigende Artikel in manchen Medien illustrieren, dass der Antisemitismus kein ausgestorbenes Phänomen ist. Entrüstung von Seiten der jüdischen Öffentlichkeit riefen mehrere Artikel in Periodika hervor, und vor allem die Publikation »Geschichte der Slowakei und der Slowaken« vom Historiker Milan S. Ïurica, der in Italien lebt. Ein Buch, das nach Beschluss des damaligen Unterrichtministeriums der slowakischen Republik an allen Grundschulen Lehrbuch hätte werden sollen, erregte Fachleute und LaiInnen.. Dem Protest jüdischer Organisationen schlossen sich VertreterInnen anderer Kirchen, HistorikerInnen, JournalistInnen und KünstlerInnen an. Antijüdische Aktivitäten waren nicht nur auf Presseartikel begrenzt, sondern wurden auch auf Straßen präsent. Im September 1993 schlugen jugendliche Skinheads mitten im Zentrum von Bratislava den Rabbiner Meyers zusammen. Drei Jahre später wiederholte sich der Vorfall. Diese Angriffe riefen Reaktionen hervor – mehr und mehr Juden und Jüdinnen waren bereit, über ihre Erlebnisse während der Shoah Zeugnis abzulegen, was wiederum mehr junge Leute für das Schicksal ihrer Nächsten neugierig machte. Dazu trugen auch die Filme Shoa oder Schindlers Liste bei. Eine wichtige Rolle spielten auch die Projekte über die Schicksale jener, die den Holocaust überlebten, z.B. »Survivor of Shoa«. Für viele bedeutete die Entscheidung zu berichten mehr als die Rückversetzung an die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens. Mit den Erinnerungen kamen auch die Elemente einer unterdrückten jüdischen Identität wieder und ein Anbinden an die verlorene Kontinuität, womit sich eine nicht immer gewollte Möglichkeit verband, erneut ein Jude / eine Jüdin zu werden. Der Prozess endete oft mit einem Beitritt zur Gemeinde.

Perspektiven

Das Suchen eines Konsenses zwischen der Rückkehr zum Judaismus, respektive einer Anlehnung an die Werte einer majoritären Umgebung, determiniert die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft. Erst die Zukunft wird zeigen, ob der jüdische Beitrag zum weiteren Funktionieren der Stadt sich eher durch Tradition oder durch Assimilation ausdrücken wird (derzeit neigt sich die Waage zu Zweiterem). Eine spezifische Rolle in diesem Prozess spielt die Persönlichkeit des Chatam Sofer. Der gewaltsam zerstörte Ort seiner letzten Ruhestätte wandelt sich nach sechs Jahrzehnten paradoxerweise in ein Symbol eines toleranten Zusammenlebens zweier Ethnien, deren beider Beziehungen in der Vergangenheit nicht immer die optimalsten waren.

Fotos: Copyright: The Holocaust World Resource Center & Academy of Fine Arts VSVU 1998-2000


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