» Texte / Klassenkampfurbanismus und Mitmach-Revolution

Nicole Theresa Raab


Inmitten der nicht abreißenden medialen Aufmerksamkeit und rechtzeitig zur akademisch-publikatorischen Aufarbeitung der Protestbewegungen des vorangegangenen Jahres ist David Harveys Textesammlung Rebel Cities – From Right to the City to Urban Revolution erschienen.
Für Henri Lefebvre war das Recht auf Stadt ein Aufschrei, welcher der Krise des alltäglichen Lebens geschuldet war, sowie eine Forderung, daraus alternatives, städtisches Leben zu schaffen. Den Ausgangspunkt der Lektüre bietet Lefebvres Begriff von* revolutionärer Bewegung*, der in Harveys Augen unzureichend ist. Er möchte die neuen sozialen Bewegungen nicht als intellektuelles Erbe Lefebvres untersuchen, sondern die Vorgänge auf der Straße selbst betrachten. Da das Recht auf Stadt nie existiert habe, ginge es ihm darum, wie dieser leere Signifikant mit Bedeutung gefüllt werden kann.
In sieben Kapiteln – fünf davon sind zwischen 2002 und 2011 anderweitig veröffentlichte Artikel – skizziert Harvey eine neue Phase des antikapitalistischen Kampfes, in die wir (vermeintlich) eingetreten sind. Darin weist er die StädterInnen als neues revolutionäres Subjekt aus. Die Stadt versteht er dabei als »neue Fabrik», als zentralen Ort der Wertproduktion. Zudem postuliert er, die Aneignung der Produktionsmittel durch das Subjekt wäre nun ersetzt durch ein Recht auf Stadt. Letzteres sei dabei eine Frage nach den Möglichkeiten, die Stadt entsprechend eigener Wünsche zu gestalten. Harvey untersucht den Zusammenhang zwischen Urbanisierung und Kapitalakkumulation und gelangt zu dem Schluss, dass beide Prozesse einander gegenseitig bedingen und antreiben. Innerhalb der Stadt zeigt sich das geographische Muster der Kapitalakkumulation etwa durch Prozesse der Gentrifizierung. Die kapitalistische Urbanisierung führt dazu, dass die Stadt als politische und soziale Allmende (commons) durch private Interessen zerstört wird. Es liege ihm jedoch auch daran, Städte nicht nur als Disziplinierungsapparate zu sehen, sondern auch auf emanzipatorisch-antikapitalistische Potenziale hin zu untersuchen. Er gelangt zur Ansicht, dass alternative Formen der Urbanisierung ein zentraler Ausgangspunkt für antikapitalistische Praxen sein müssen. Aktuell verbreite sich der Protest der neuen sozialen Bewegungen, welchen Harvey Klassengehalt unterstellt, über die urbanen Netzwerke wie ein Lauffeuer. Zum Abschluss gibt Harvey einen kurzen Einblick in zwei rezente Bewegungen, die Londoner Aufstände von 2011 und Occupy Wall Street.
In seinen Ausführungen gelingt es Harvey nicht, die Beschreibung des gegenwärtigen Elends und die Ungleichheiten, die der Kapitalismus produziert, mit einer Kritik der Mechanismen gesellschaftlicher Verhältnisse in Beziehung zu setzen. Einzig der Widerspruch zwischen Privatisierung und dem Streben nach Allmende wird von ihm herausgearbeitet, was allerdings einen Allgemeinplatz darstellt. Insgesamt dominiert der Eindruck, dass der Autor von dem verzweifelten Wunsch getrieben ist, sich in Zeiten revolutionärer Hoffnungslosigkeit ein neues revolutionäres Subjekt herbeizuzaubern. Harveys Schlussfolgerungen fallen immer wieder hinter seine Beschreibungen zurück. In seinem Appell an KultuproduzentInnen etwa, ihre Wut gegen Kommodifizierung zu richten, blendet er den von ihm selbst beschriebenen Verwertungszwang aus. Inwiefern urbane, alternative Praktiken vom kapitalistischen Verwertungsprozess ausgenommen sein sollen, kann er nicht begründen. Insofern bleibt deren Entgegensetzung offen. Dies entspricht nicht einer dialektischen Analyse, die Interessenswidersprüche aus der inneren Verlaufsform kapitalistischer Vergesellschaftung herausarbeitet.
In Harveys Erläuterungen zur kommenden sozialistischen Stadt offenbart sich seine begriffliche Inkohärenz. Überraschender Weise sind nun nicht die neuen sozialen Bewegungen das neue revolutionäre Subjekt. Er meint »Stadt produzieren« wörtlich und spricht von einer »neuen Art des Proletariats« in Form von BauarbeiterInnen, LastkraftwagenfahrerInnen, TransportarbeiterInnen, GerüstebauerInnen und StahlarbeiterInnen sowie allgemein »dem Prekariat«. Die Rolle der PlanerInnen als StadtgestalterInnen bleibt durchwegs unangesprochen. Völlig im Unklaren wird der/die LeserIn auch darüber gelassen, was genau das emanzipatorische Potenzial städtischer Bauarbeiten der oder der sozialen Bewegungen sein soll. Harvey schafft es nicht, dieses näher zu definieren. Als Positivbeispiele »oppositioneller Bewegungen« bezieht er sich exemplarisch auf Hamas und Hisbollah, die in ihrem »antikapitalistischen Kampf« vermehrt auf urbane Strategien der Revolte setzen. Harvey bewirbt hier antisemitische, fundametalistisch-reaktionäre Gruppierungen als Best Practice-Beispiele für alternative Urbanisierung.
In einer Mischung aus orthodoxem Marxismus-Leninismus und angesagter, poststruktualistisch-postoperaistischer Multitude-Theorie begründet Harvey seine »Rekonzeptualisierung der Natur der Klasse». Dabei verkennt er jedoch, dass sowohl die ArbeiterInnen- wie auch die KapitalistInnenklasse ideologisch in die bürgerliche Gesellschaft integriert sind und es daher kein Subjekt gibt, das diese per se transzendieren kann. Auch Harveys Forderung an linke Analyse, doch mit konkreten Alternativen zum Bestehenden aufzuwarten, ist kritisch zu sehen. Die Absenz von vermeintlichen Lösungsvorschlägen stellt keinen Einwand gegen die Stichhaltigkeit von Kritik dar. Vielmehr basiert die Legitimität von Kritik darauf, ob sie ihren Gegenstand trifft.
Das Kapitel zu Occupy Wall Street erschöpft sich in einer Hassrede auf die Wall Street Banker*.* Da die Bewegung selbst keine Forderungen gestellt hat, nutzt Harvey die Gelegenheit, deren leere Sprechblasen mit Inhalt zu befüllen. Das tut er wörtlich, indem er Zitate setzt, wo es de facto keine gibt. Zuletzt vergleicht Harvey die Abwehr von Verantwortung für die »barbarischen und unmoralischen Prinzipien und Praktiken« der »Wall-Street-Gesellschaft« mit jenen von VertreterInnen des Nationalsozialismus wie Adolf Eichmann. Mit diesen kruden Ansichten steht Harvey im Verlagsprogramm von Verso allerdings nicht alleine. In der sehr einseitigen Nahost-Konflikt-Sektion des Hauses findet sich eine reichhaltige Auswahl an Publikationen namhafter antizionistischer und antisemitischer AutorInnen.
Die thematischen Terrains, auf welchen Harvey sich bewegt, wie etwa die Frage nach Wechselwirkungen zwischen Verdrängungsprozessen und der Kritik am modernen Städtebau à la Jane Jacobs, sind zweifellos spannend. Bei der Lektüre des Buches zeigt sich aber, dass viele Versprechen nicht eingehalten werden. Der Klappentext nennt konkrete Orte und Bewegungen, die einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden sollen. Diese gibt es schlichtweg nicht.
Interessant wäre es doch gewesen, zu untersuchen, welche Rolle die Linke selbst im Gentrifizierungsprozess spielt, oder wie man diesen aus einer linken Perspektive kritisieren kann, ohne deren Betroffene sogleich zum revolutionären Subjekt stilisieren zu müssen. Angesichts der Tatsache, dass Harvey ein für die Stadtforschung so bedeutender Autor ist, ist es bedauerlich, dass er im vorliegenden
Werk nicht an vorangegangene interessante Beiträge, wie The Condition of Postmodernity, anknüpfen kann. Diese Rezension bezieht sich auf die englische Ausgabe des Buches.Rebel Cities erscheint als Rebellische Stadt im Oktober auf Deutsch – man höre und staune – bei Suhrkamp.


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