Kleinhandel in Großsiedlungen
Peter Arlt im InterviewDer Kiosk ist eine kommerzialisierte Kleinarchitektur im öffentlichen Raum. In Europa ist sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer heutigen Bedeutung als Verkaufsstand für Trink- oder andere Waren des täglichen Gebrauchs an belebten Orten der Stadt präsent. Wer kennt sie nicht, die kleinen Gebäude mit dem Interaktionsfenster, die am Stadtrand oder auch an zentrumsnahen Orten stehen. Selbst das Architekturzentrum Wien hat ihnen eine eigene Ausgabe seines Periodikums Hintergrund gewidmet. Aber wie stehen sie im Zusammenhang mit großen Siedlungsstrukturen?
Das von der Bundeskulturstiftung Deutschlands geförderte Projekt »Kioskisierung« wird von einer Forschungsgruppe bearbeitet: Benjamin Förster Baldenius, raumlaborberlin, darstellender Architekt aus Berlin, Jens Fischer, niko31, Architekt und Stadtplaner aus Leipzig, sowie dem freien Stadtsoziologen Peter Arlt, beraten von Simone Hain, Architekturhistorikerin in Berlin.
Die Gruppe raumlabor-berlin und Peter Arlt haben bereits 2002 mit dem Projekt »Kolorado – Perspektiven für Halle-Neustadt« einen strategischen Ansatz als Methode zur Umstrukturierung einer großen Siedlung erarbeitet, der vor allem urbanistisch programmatische und soziale Ziele verfolgt.
Seit Juni 2004 untersucht die Gruppe an den vier Standorten Halle/Neustadt (D), Bratislava/Petržalka (SK), Łódz/Retkinia (PL) und Moskau/Chertanovo (RUS) Kioske in Großsiedlungen.
dérive: Inwieweit ist das Forschungsinteresse aus eurer Beschäftigung mit dem Projekt »Kolorado« in Halle-Neustadt hervorgegangen? Der Kiosk selbst taucht ja überall in der Stadt auf. Woher kommt die Idee der Kombination von großer Siedlungsstruktur und Kiosk im Projekt?
PeterArlt: In Deutschland gibt es viele Forschungsarbeiten über »schrumpfende Städte«, und mit den Projekten in Dessau oder in Berlin-Marzahn und Cottbus hatten alle Gruppenmitglieder bereits Projekte zu diesem Thema bearbeitet. Bei den Maßnahmen in diesen Gebieten wurden zumeist kulturelle Initiativen gesetzt – z. B. Hotel Halle Neustadt etc. –, und da war es uns wichtig, einmal gezielt die sozialen und ökonomischen Komponenten zu untersuchen.
Der Mangel an Arbeitsplätzen und weniger die Architektur selbst ist ja das primäre Problem, das zu Wegzug und schrumpfenden Städten führt. Wobei hier wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass sowohl in Bratislava wie in Lodz und Moskau kein Wegzug aus diesen Siedlungen erfolgt. Es stellt sich aber immer die Frage: Gibt es Arbeitsplätze vor Ort? Ist da etwas Neues entstanden? Gibt es, wenn einerseits Supermärkte mehr oder weniger überall entstehen, auch Initiativen, die von unten kommen? In den neunziger Jahren war im Osten die Zunahme des Straßenhandels sehr auffällig – Straßenmärkte, wilde Märkte und Kioske entstanden an allen Ecken und Enden, und da stellte sich uns die Frage: Wie funktioniert Straßenhandel? Wie können die Menschen davon leben? Wo haben sie ihre Waren her, und wo lagern sie diese? So entstand ein Interesse daran, zu erforschen, wie dieser Handel sich konstituiert.
Dann haben wir uns auf Kioske konzentriert. Sie haben ja eine pittoreske Form – jeder findet sie nett –, sie haben das Image, autonom und anarchistisch zu sein – mobil und überall aufzustellen – und haben etwas Sympathisches. Fast jeder außer den Stadtplanungsämtern findet sie sympathisch. Ihre stärkste Phase war von nach der Wende Anfang der neunziger Jahre bis 1995/96. Danach zeichnete sich ein leichter Abschwung ab, und nun wird der Abbau massiver, es wird von den Ämtern richtiggehend bereinigt. Das Ziel ist, zu sehen: Was gibt es für ökonomische Strukturen in den Siedlungen und welche Relevanz haben diese? Sind die Kioske eine Vorstufe, aus der dann große Geschäftsleute hervorgehen? Oder gehen die alle bankrott?
dérive: Ist der Grund des Verschwindens in der Bereinigung von oben zu finden oder darin, dass sich die Kioske wirtschaftlich nicht lange selbst tragen können?
PeterArlt: Beides. Mittlerweile sehe ich sie als eine Urform des Kapitalismus: Wenn ich gar nichts habe, muss ich auf der Straße sitzen; wenn ich nur ein wenig zusammengespart habe, kann ich mir schon einen Kiosk leisten. In unserer Vorstellung sind Kioske ja zumeist klassische Ein-Mann- oder Ein-Frau-Betriebe. In Wirklichkeit sind die BesitzerInnen aber meistens Ketten mit Angestellten. Es gibt die EinzelunternehmerInnen natürlich schon auch – damals nach der Wende gab es diese Aufbruchstimmung »jeder wird selbständig, dann bin ich mein eigener Herr« – so beginnt Kapitalismus. Das bereinigt sich dann logischerweise im Laufe der Zeit, indem die Leute dann Karriere machen und einen richtigen Laden haben oder in Konkurs gehen, weil es einfach nicht zum Überleben taugt. Ich würde das eher als einen ganz klassischen wirtschaftlich-kapitalistischen Entwicklungsprozess sehen.
dérive: Bei den meisten Umbau- oder Restrukturierungsprozessen wird ja versucht, die homogenen Siedlungsstrukturen aufzuweiten und Vielfalt einzuführen, wie z. B. durch eine neue Funktionsdurchmischung von Gewerbe und Wohnen. Wie aber kann das funktionieren? Gibt es gerade beim ökonomischen Schrumpfungsprozess, der begleitet wird von der Tendenz der Menschen, sich von dort zu entfernen, überhaupt eine Möglichkeit, Gewerbe anzuziehen, so dass dieses dann auch funktioniert? Stellt der Kiosk vielleicht die erste Eigeninitiative dar, um dann das Gebiet zu durchmischen?
Peter Arlt: Die meisten Menschen, die dort einen Kiosk besitzen und betreiben, wohnen auch in der unmittelbaren Umgebung. Durch diese Initiativen weicht sich die monofunktionale Struktur auf, und das finden wir grundsätzlich gut. Eine Geschichte, die sich immer wieder wiederholt, ist, dass sich Supermarktketten ansiedeln wollen. Natürlich passiert das regional unterschiedlich. In Bratislava liegt die Kompetenz der Entscheidung, ob sich ein Supermarkt in Petržalka ansiedeln darf oder nicht, bei der Bezirksverwaltung und nicht bei der Stadtverwaltung. Es wird also alles bezirksintern aufgeschlüsselt, und Petržalkas Verwaltung sagt: »Überall, wo sie wollen«, denn sie sind jedem Investor dankbar. Während es in Lodz zum Beispiel umgekehrt war. Dort sagt die Stadtverwaltung: »Nein, das haben wir bewusst hintan zu halten«, weil es von ihr nicht als positiv angesehen wird, wenn dann überall in großen Siedlungsstrukturen Supermärkte gebaut werden.
dérive: In Petržalka sieht man dann aber, dass diese Großstrukturen wie das riesige neue Einkaufszentrum der Stadt eine Aufwertung bringen, aber nichts dazu beitragen, dass das Quartier kleinteiliger und durchmischter wird. Und daher läuft dies den Bestrebungen der Vielseitigkeit im Quartier total entgegen.
Peter Arlt: Die Bestrebungen gibt es ja dort gar nicht.
dérive: Man muss halt doch immer wieder feststellen, dass die ökonomische Aufwertung, die man erreichen kann – und das ist doch meistens ein Ziel – halt nach den Gesetzen der Ökonomie, also dem Markt entsprechend, stattfindet.
Peter Arlt: In Petržalka gibt es eigentlich keinen Grund, warum man irgendeinem Investor irgendetwas vorschreiben sollte. Da gibt es ja auch keine gezielte Entwicklung, wie »Supermärkte am Rand und nicht in der Mitte« – es gibt keine Strategie: Wo Platz ist – und der ist schnell einmal wo –, können die Investoren hinbauen, wenn sie wollen. Das hängt mit der Verwaltungsstruktur zusammen.
Es gab einmal eine Strategie auf der Verwaltungsebene, Petržalka, das ein riesiger Bezirk Bratislavas, ist in drei zu teilen. Diese Bezirke hätten dann von der Größenordnung her auch den anderen Bezirken der Stadt entsprochen. Dies geschah mit dem Hintergedanken, so intern Konkurrenz zu schaffen. Dann muss man sich als Stadtteil dem anderen gegenüber besser z. B. mit besserer Wohnqualität positionieren. Das ist aber nie passiert. Es wird alles zentral verwaltet, und es gibt einen Bezirksbürgermeister, und dementsprechend beliebig ist das dann auch, wenn sich ein Betrieb ansiedeln will. Man kann eigentlich keine übergeordnete Strategie erkennen, stadtplanerisch mit der Struktur umzugehen. Das ist also wirklich überall anders – in Lodz, in Halle und in Moskau auch.
dérive: Wenn man davon ausgeht, dass ein Problem die disperse soziale Infrastruktur ist, kann dann der Kiosk –im Prinzip ja so etwas wie ein schnelles Geschäft –, der präsent vor Ort ist mit einer ansprechbaren Person, im öffentlichen Raum einen Anlaufpunkt bilden? Welche Rolle spielt der Kiosk im Sozialgefüge solcher Siedlungen?
Peter Arlt: Die soziale Funktion – Geld spielt natürlich auch eine Rolle – ist auf jeden Fall da. Wie gesagt, sind die im Kiosk Arbeitenden zum Großteil auch aus dem Gebiet. Das heißt, man kennt sich schon aus früheren Zeiten. Es ist aber kein schnelles Geschäft, da man sich dort auch trifft. Wir haben schon Situationen erlebt, dass sehr lange geplaudert wurde, als wir, weil wir das Geschäft nicht stören wollten, abseits auf ein Interview warteten. Zum Beispiel sind PensionistInnen bei den Zeitungskiosken beschäftigt, weil sie billige Arbeitskräfte sind. Dann kommt die ehemalige Arbeitskollegin, die nichts zu ihrer Pension dazu verdienen muss, vorbei, und die plaudern dann halt. So lange bis eine Kundin oder ein Kunde kommt. Wenn man mit den Leuten spricht, dann ist die Ansprache mindestens so wichtig wie die Waren, die ja meistens ein wenig teurer als im Supermarkt sind. Die Funktion, dass man zum Kiosk geht, um jemanden zum Reden zu haben – denn die institutionellen Treffpunkte werden ja alle – ich übertreibe jetzt ein wenig – tendenziell geschlossen –, diese Sozialfunktion übernimmt dann der Kiosk.
Die Arbeitsbedingungen sind allerdings sehr schlecht. Im Sommer ist es sehr heiß, im Winter sehr kalt. Es gibt keine Dämmung – bauphysikalisch eigentlich das Letzte, und die meisten Kioske haben keine Toilette. Da gibt es dann den Kioskbetreiber, der sagt, er wohnt gleich um die Ecke, dann geht er schnell heim, wenn es sein muss. Andere haben Abkommen mit Restaurants oder Geschäften, die in der Nähe sind, geschlossen. Da gibt es aber dann Fälle wie: Das Geschäft sperrt um 18 Uhr zu und der Kiosk hat bis um acht Uhr offen, die im Kiosk Arbeitenden können dann zwischen 18 und acht nirgendwo auf die Toilette gehen. Mir geht es dann vor allem darum, die Arbeitsbedingungen und die Entwicklung des Geschäftes aufzunehmen.
dérive: Kleingewerbe wie dieses hat ja auch mit der regionalen Wirtschaftsstruktur zu tun. Die Auflösung der Betriebe der ehemaligen DDR und der dadurch verursachte Arbeitsplatzmangel, der dann Freisetzung und daraufhin das Abwandern der Personen bedingt – ist diese Auflösung eine Sonderform im Osten Deutschlands, die auf das Kleingewerbe wirkt?
Peter Arlt: Auflösung hat es überall gegeben, denn Lodz ist zum Beispiel eine Industriestadt – Textilindustrie –, in der auch die großen Betriebe geschlossen wurden. Es wird immer behauptet, Lodz habe den höchsten Anteil an Einzelunternehmen. Es gibt ca. 90.000 Einzelhandelsbetriebe. Das kann man sich nur schwer vorstellen, denn das wäre jedeR achte BewohnerIn von Lodz. In Bratislava zum Vergleich haben sich die internationalen Konzerne einen Platz geschaffen: chemische Industrie, Automobilindustrie etc., die natürlich auch viele Arbeitsplätze schaffen.
dérive: In diesem Kontext ist Bratislava sicher ein Sonderfall, weil sich gerade in den letzten Jahren eine Dynamik entwickelt hat, die sich mit denen in Lodz und Halle nicht vergleichen lässt. Dort ist aber das Hauptproblem der Wohnungsmangel, bei gleichzeitig fehlenden Investitionen im Wohnungsbau und dem Fehlen eines Wohnbauprogramms. Damit erklärt sich auch die Bedeutung dieser Siedlungen.
Peter Arlt: Ja, und die sind weiterhin begehrt.
dérive: Die Frage des Abrisses ist hier völlig indiskutabel, weil er eine den Wohnungsmangel verschärfende Maßnahme ist. Jeder Abriss bedingt einen Neubau, der wesentlich teurer kommen würde. Es gibt keine Alternative, und daher wird der Zwang, mit dem Bestand umzugehen, sehr hoch. Doch die EigentümerInnenstruktur ist für die klassischen Sanierungsmaßnahmen problematischer. Allerdings muss es kein großes Problem sein, denn es sind Situationen, wie sie in klassischen Stadterneuerungsgebieten auftreten, wo man auch mit unterschiedlichen MieterInnen und EigentümerInnen zu tun hat und trotzdem mit entsprechenden legistischen Möglichkeiten sowie mit Anreizen und Förderprogrammen einen Sanierungsprozess in Gang setzten kann.
Peter Arlt: Das ist der grundlegende Fehler, dass wir eigentlich noch glauben, dass es in den ehemaligen Ostblock-Staaten noch immer der Staat ist, dem alles gehört. In Wirklichkeit ist das viel weniger der Fall als im Westen Europas. Hier besteht viel mehr stadtplanerischer Einfluss als dort. In Lodz oder in Bratislava muss man sich wirklich mit mehreren mehr oder weniger privaten Genossenschaften auseinandersetzen, oder mit einzelnen EigentümerInnen sowie EigentümerInnengenossenschaften.
dérive: In Bulgarien ist für eine Sanierungsmaßnahme die Unterschrift jedes einzelnen Eigentümers erforderlich, und gleichzeitig müssen die Eigentümer meistens einen finanziellen Beitrag leisten. Da unterschreibt zum Beispiel nie im Leben eine Pensionistin, die sich finanziell gerade so über Wasser hält. Und dann steht alles still.
Peter Arlt: Auch in Bulgarien war schon vor der Wende Wohnungsbesitz großteils privat. Wir haben immer geglaubt, im Osten sei alles staatlich gewesen, aber Bulgarien war ein Sonderweg, denn 90 Prozent der Wohnungen waren schon vor der Wende in Privatbesitz. Die Siedlungen hat der Staat gebaut, aber die Wohnungen wurden verkauft.[1]
dérive: Daraus folgt dann aber eine komplizierte Besitzstruktur und die Frage – wenn ich wieder den Kiosk einbringe –: Mit wem habe ich zu verhandeln, wenn ich dort einen Kiosk aufstellen möchte?
Peter Arlt: Zumeist mit Genossenschaften. In Lodz ist es so, dass der Stadtteil mit 50.000 BewohnerInnen in vier Mikrorayons zerfällt, für die jeweils eine eigene Genossenschaft zuständig ist, auch wenn es PrivateigentümerInnen gibt. Das bedeutet, dass für die Aufstellungsanfrage dann die jeweilige Genossenschaft zuständig ist. Es ist also nicht so zentral geregelt wie beim Bezirksparlament in Petržalka.
Aber eindeutig ist beim Kiosk gar nichts, denn es gibt ihn laut deutscher Bauordnung, und so ist es auch in Polen und der Slowakei, gar nicht. Der Antrag fällt unter die vereinfachten Verfahren. Grundsätzlich unterliegt der Kiosk der Bauordnung, aber er wird z. B. in der Slowakei als »einfache Bauten« tituliert, und bei diesen sind es nicht mehrere Verfahren – zuerst Bauantrag, dann Vorgenehmigung bzw. Genehmigung –, sondern es werden alle Verfahren auf einmal behandelt. In Halle ist der Adressat für eine Einreichung die Stadt, aber dann streiten die Ämter untereinander, welches zuständig ist. Es gibt kein Amt, das dieses Verfahren koordiniert.
Im ganzen ehemaligen Ostblock ist die Stadtplanung verpönt. Das ist ja fast ein Schimpfwort – »das ist ja Kommunismus, und das haben wir hinter uns«, heißt es dann, wenn mit Stadtplanung argumentiert wird und etwas umgeordnet werden soll. In deren Augen herrscht in Westeuropa überall vom Planungsverständnis her Kommunismus. Es gibt daher auch kein Amt, das für einen solchen Antrag zuständig ist, und daher waren wir am Anfang immer bei den falschen Stellen. Die haben uns dann erklärt, es gebe »schon noch so eine Art Stadtplanungsamt«, aber die hätten kaum mehr Kompetenzen und weisen den Antrag zurück mit den Worten: »Da sind wir leider nicht zuständig – da müssen Sie aufs Bezirksamt gehen oder zu den Genossenschaften – wir begutachten das, aber das hat eh keine Konsequenzen.« Sie haben eine sehr eigenartige Situation in der Stadtplanung, sofern sie es noch gibt. Bratislava hat keinen Stadtplanungsdirektor mehr, der Posten wurde 1996 abgeschafft.
dérive: Das bedeutet ja eigentlich, den Markt freizulassen und sich dann diesem unterzuordnen. Das Pendel schwingt allerdings auch schon wieder zurück. Das Problem bei Privatisierungen oder bei der Liberalisierung ist aber, dass dies ein fast irreversibler Prozess ist. Dass es sehr schwer ist, später wieder andere Strukturen aufzubauen.
Peter Arlt: leicht, aber heute ist es sehr schwer, eine Wohnung zu kaufen oder zu mieten, der Mietwohnungsmarkt ist fast über Nacht weggebrochen. Und das ist in Kasachstan nicht anders oder in Polen. Dasselbe Dilemma. Es wurde nach der Wende alles privatisiert, und man konnte viel erwerben – es war fast jedem möglich, seine eigene Wohnung zu kaufen, und das haben auch fast alle gemacht – nur diejenigen, die jetzt eine eigene Wohnung suchen, stehen quasi vor dem Nichts. In Ostdeutschland ist das durch den Leerstand kein Thema, in Bratislava aber ist das ein zentrales Problem.
dérive: Am Ende des Projekts soll ein Kiosk entwickelt werden. In welchem Zusammenhang soll der dann tätig sein?
Peter Arlt: Die Funktion des Kiosks soll sich aus der Forschung ergeben. Wir wollten eben nicht nur forschend tätig sein. Von 10. bis 12. März 2005 haben wir mit WissenschaftlerInnen, die zur Thematik Mikroökonomien gearbeitet haben, im Berliner Hau1 – Theater am Halleschen Ufer – ein Symposium zum Thema organisiert. Dies bildet für uns dann den Übergang und die Grundlage, um etwas Eigenes zu entwickeln. Wir wollen ja mit diesem Kiosk auf Reisen gehen. Wir werden alle Städte bereisen, in denen wir geforscht haben, und damit unsere Ergebnisse zurückbringen. Eine große Reise also, die dann in Halle endet.
Es hat sich auch während der Arbeit viel verändert. Unsere Thesen stimmen eigentlich alle nicht mehr, aber das macht nichts. Der Ausgangspunkt war: Im Osten gibt eine Kioskkultur, und in Deutschland fehlt diese. Die »Kioskisierung« haben wir weniger auf die anderen Länder bezogen, unser Ziel war eigentlich Halle. Das ist alles sehr fraglich, also auch die These, die wir im Titel haben, ich weiß es wirklich noch nicht. Es wird eine Aktion geben mit dem Ziel, vor Ort – also in diesem Fall dann Halle – etwas zu schaffen, das dann eben auch sozioökonomisch funktioniert. Natürlich spielt Ästhetik auch immer eine Rolle, aber es soll kein Kunstkiosk werden, sondern etwas, das die Situation widerspiegelt, also auch eine ökonomische Funktion hat.
dérive: So etwas wie ein kleines Implantat – ein Element wird geimpft –, wie die »tools« bei eurem Projekt »Kolorado« in Halle-Neustadt?
Peter Arlt: Genau. Ein Kiosk ist so eine Zelle, die etwas ausstrahlt oder Aktivität anzieht oder abgibt. Wie das aber ausgeht, wird sich dann Mitte 2005 weisen.
dérive: * Vielen Dank für das Gespräch*
Infos und weiterführende Informationen:
www.raumlabor-berlin.de
www.peterarlt.at
Fußnoten
Dazu ergänzend einige Zahlen einer Interreg IIC-Studie des IRS – Leibniz Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Deutschland aus dem Jahr 2000: In Bratislava wohnten 77 Prozent der BewohnerInnen in Großsiedlungen, in Bratislava-Petržalka gab es keinen Leerstand, die Verteilung der Eigentumsverhältnisse war: 17 Prozent staatliche bzw. kommunale Wohnungen, 38 Prozent Genossenschaftswohnungen und 45 Prozent selbstgenutztes Wohnungseigentum. Im Vergleich dazu hatte die Großsiedlung Sofia-Mladost keinen Leerstand bei 3 Prozent staatlichen bzw. kommunalen Wohnungen und 97 Prozent (!) selbstgenutztem Wohnungseigentum. ↩︎
Landschaftsarchitekt. Partner bei PlanSinn Büro für Planung und Kommunikation GmbH. Mitbegründer und Redakteur bei dérive – Zeitschrift für Stadtforschung. Lehraufträge an der Universität für Bodenkultur sowie der Technischen Universität Wien.