Iris Meder


Das Thema seiner „kritischen Anthologie“ geht der für seine scharfsinnigen Analysen der mitteleuropäischen Moderne bekannte Ákos Moravánszky mit aller Gründlichkeit an, indem er zunächst einmal das Wesen bisheriger, chronologisch aufgebauter ArchitekturtheorieAnthologien untersucht. Die präsentieren sich für gewöhnlich als instrumentalisierte Architektur(theorie)-Geschichtsschreibung: „Jene Texte wurden ausgewählt, welche neue Wege für die Praxis öffneten. Ihre Einordnung in eine Chronologie dient also zur Unterstützung der Thesen ihrer Herausgeber, die entschieden haben, welche jene ,neue Wege’ sind – sei es die Entstehung der Funktionalismuskritik und der Postmoderne oder die Möglichkeit des Widerstands gegen die Konsumgesellschaft. Die Chronologie wird also zum Instrument der Teleologie der ,Wegbereiter’ wie in den viel kritisierten Geschichten der Pioniere der modernen Bewegung“ (S. 5). Außerdem beschränken sie sich, so Moravánszky, und es fallen einem nicht wirklich nennenswerte Gegenbeispiele ein, auf Texte von Architekturschaffenden, die noch dazu einen hohen Bekanntheitsgrad im Sinne eben dieser Hagiografie der Moderne aufweisen.
Der ersten Tatsache begegnet Moravánszky durch die Unterteilung seiner Anthologie in die fünf Themenbereiche Stil, Raum, Konstruktion/Natur, Monumentalität und Ort, jeder mit einer ausführlichen Einleitung. Das beginnt dann mit Grundlegendem wie der etymologischen Herkunft des Wortes Stil. Bei den Autoren, auch hier jeder in einer etwas kürzeren Einleitung vorgestellt und innerhalb des Kapitels sinnvollerweise dann doch chronologisch, finden sich zum Themenkreis Stil u. a. Alois Riegl, Adolf Hildebrand, Georg Simmel und Leo Adler sowie Stil-Skeptiker wie Adolf Loos, Josef Frank und der hierzulande viel zu wenig bekannte Schweizer Architekt und Theoretiker Peter Meyer. Auch unter dem Sujet Raum findet man in der Architektur weniger geläufige Klassiker wie Heinrich Wölfflin, August Schmarsow, Theodor Lipps und Herman Sörgel. Zur Frage „Konstruktionen der Natur“ bringt Moravánszky u. a. den kaum bekannten Richard Streiter mit seiner Replik auf die Schriften Otto Wagners: „Wenn Wagner ausruft: ,Was kann logischer sein, als zu behaupten: Wenn der Kunst so vieles und völlig Neues an Konstruktionen zugeführt wird, muß daraus unbedingt eine neue Formgebung und allmälig ein neuer Stil entstehen’, so krankt diese Logik an der falschen Voraussetzung, Konstruktionen, Techniken seien an sich schon das Entscheidende für die Formgebung, den Stil.“
Beim letzten Kapitel, Der Ort in der Architektur, sind fast nur mehr Soziologen, Philosophen und Schriftsteller vertreten. Hätte aber zu „Der Ort der Architektur“, dem Themenkreis, der die Positionierung der Architektur, die Rolle des Orts in ihr und ihre Semantik behandelt, neben Alexander Mitscherlich, Kevin Lynch und Marc Augé nicht auch Camillo Sittes „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ vorkommen müssen, eher vielleicht als ein Auszug aus einem Roman des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas?
Und wenn Gottfried Sempers „Ueber Baustile“ und Eugène-Emmanuel Violletle-Ducs in den 1860er Jahren erschienene Definition des Begriffs Stil (zu Recht) dem 20. Jahrhundert zugeschlagen werden, warum nicht auch Rudolf von Eitelbergers und Heinrich von Ferstels „Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus“? Festel/Eitelberger schreiben dort: „Das gesunde Princip im Bauen verlangt, daß dem Zwecke des Gebäudes vollkommen entsprechend gebaut, daß also die Räumlichkeiten nach dem Maße des Bedürfnisses angelegt und eingetheilt werden. Diese Frage der Zweckmäßigkeit ist in unseren Tagen unabhängig von der Frage des Styles.“ Das war 1860.
Aber es ist natürlich das Wesen jeder Anthologie, unvollständig zu sein. Positiv ist noch anzumerken, dass sich Moravánszky jeglicher eigener Theorie der Architekturtheorie-Geschichte entschlägt, im Gegensatz etwa zu Jürgen Pahl, der in seiner 1999 bei Prestel erschienenen Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts eine wirre These von fünf „Säulen der Moderne“ aufstellt, die bereits dort hinkt, wo das Innere desselben Hauses einer anderen dieser Strömungen angehören soll als sein Äußeres. Ein wenig Kritik sei abschließend noch an der Grafik geübt, die die Primärtexte in einer kleineren und insgesamt schlechter lesbaren Schrifttype als die einführenden Texte Moravánszkys – und außerdem noch einspaltig – gesetzt hat. Außerdem macht es die allzu gediegene, wenn auch sehr stabile Bindung des bibelartigen Bands unmöglich, das Buch offen vor sich auf den Tisch zu legen, ohne dass es nach wenigen Sekunden zuklappt, was eine komplizierte Logistik mit jeweils zur Beschwerung auf eine Seite gelegten Objekten erfordert. Nichts für den Frühstückstisch also.


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