» Texte / Konsumationsorte, Stadtstruktur und Konsumpraktiken

Siegfried Mattl


Wenige noch dazu derart kurze Texte haben den Diskurs über die Stadt so massiv verändert wie Michel Foucaults kurze Abhandlung über »Andere Räume«.[1] Dieser Aufsatz bricht das modernistische Bild der Stadt als Zirkulationsmechanismus auf und plädiert dafür, den Stockungen im urbanen Leben zumindest gleiche Aufmerksamkeit wie den Flüssen zukommen zu lassen. Die genuinen Stärken einer Stadt, so ließe sich Foucault interpretieren, sind in der Gemengelage von Orten mit globalen und solchen mit lokalen Regeln zu finden; letztere – die Cafés, die Museen, Kinos, und, warum nicht, die religiösen Andachtsstätten – bilden sozusagen die »Widerlager«, an denen sich die diskreten Routinen der Moderne brechen und die ideologische Form der rationalisierten Urbanität transparent werden kann. Im Horizont von Foucaults sonstigen Schriften läßt sich das Konzept der »Heterotopie« aber nicht als Emanzipationsmanifest, nur als Anweisung, Orte, solide, reale, architektonische Orte, als Identitäten produzierende Ensembles zu betrachten.

Muster der Konsumtion

Der Rekurs auf »andere Räume« führt dazu, traditionelle totalisierende Kategorien wie diejenige der »Reproduktion« und der Konsumtion in der Beschreibung kultureller Praktiken (auf unterschiedlichen lokalen Niveaus) aufzulösen. Das ist besonders für eine zeitgenössische Theorie der Stadt und des Phänomens der Malls, der Outlets, der Urban Entertainment Centres etc. aufschlußreich. Wie Sharon Zukin[2] notiert, ist es relevant, nach den lokalen Mustern der Konsumtion zu fragen, das heißt danach, ob die Department Stores, die Shopping Malls usw. nicht unter Umständen das einzige Terrain bilden, auf dem in ansonsten hochgradig segregierten und von Suburbanisierung geprägten Städten noch so etwas wie Kollektivität kommuniziert werden kann, ob, mit anderen Worten, Partizipation noch möglich ist. Wendet man sich Wien zu, so fällt die präzise räumliche Distribution und Fixierung unterschiedlicher Muster der Konsumtion und deren Stabilität über einen langen Zeitraum von 100 – 130 Jahren ins Auge. Über diesen Zeitraum teilten sich drei »Orte« in die Strukturierung des Konsums. Das sind die City bzw. große Teile davon, die Mariahilfer Straße, und die sogenannten Geschäftsstraßen in den Bezirken. Malls und Shopping Centres, die (ganz in der Logik der modernistischen Stadtplanung) international nach 1945 die Suburbanisierungsprozesse maßgeblich ermöglicht und beschleunigt haben, sind in Wien erst ein neueres Phänomen der späten 1970 und der 1980er Jahre. Trotz der enorm wachsenden Konkurrenz durch innerstädtische Einkaufszentren und Shopping Malls am Stadtrand binden die Geschäftsstraßen ein Drittel der lokalen Kaufkraft. Die City verbucht gegenüber der Shopping City Süd (bei annähernd gleicher Verkaufsfläche) einen um 20 Prozent höheren Umsatz. Die Mariahilfer Straße (vor der Sanierung und der Eröffnung der U-Bahn) nimmt deutlich (nach der City und der SCS) den dritten Rang ein.

Der monetären Verteilung entspricht auch eine soziale und kulturelle, bemerkenswert stabile Zuordnung. Seit den 1860er Jahren stieg die City zum Ort aristokratisch-großbürgerlicher Repräsentation auf, die sich in der Konzentration von Luxusgütern, einem demonstrativen Konsum und der Rolle der Geschmacksdistinktion für die Erreichung einer sozialen Position ausgedrückt hat. Den architektonischen Haupt-Typus dieser Form städtischer Konsumkultur stellten die Warenhäuser entlang der Kärtner Straße und des Grabens, die sich in Wien mit rund 50 Jahren Verspätung gegenüber ihren Londoner und Pariser Vorbildern ab den 1860ern etablierten. (In Maßstab und Stil nahmen sie – abgesehen von der Sockelzone und dem 1. Stock – zumeist betonte Rücksicht auf das architektonische Ensemble und vermieden jede Exzentrik.) Ein anderer Typus für andere Menschen prägt(e) die Mariahilfer Straße. Aufgewertet durch die Straßenbahn und deren Elektrifizierung entwickelte sich die Hauptdurchzugsstraße des 7. Bezirks seit den 1890er Jahren zum Zentrum von Großkaufhäusern, die sich in Gestalt und Funktion an die Department Stores von der Art eines »Macy´s« anlehnten. Die Mariahilfer Straße wurde zum Focus eines kleinbürgerlich-proletarischen Konsumtionsort von Massengütern, insbesondere von Konfektionsware, und eines rationalistischen Kaufverhaltens. Die Geschäftsstraßen schließlich entstanden aus der Überbauung der alten Haupt- und Ausfallsstraßen, die in der Gründerzeit in die urbane Struktur integriert worden waren. Sie konzentrierten sich (und konzentrieren sich heute noch) auf Güter des Alltagsbedarfs, beziehen ihren Charakter aus der starken Durchmischung, und basieren auf den Einzelhandelsgeschäften, die in der Sockelzone der Wohnhäuser eingerichtet sind. (Der Einzelhandel absorbiert in Wien mit 66.000 Beschäftigten immer noch neun Prozent [!] der Arbeitsplätze.)[3] Ihre kleinteilige Struktur bildete ein wichtiges, sozial integrierendes Element der Nachbarschaften.

Es gibt ein Bild vom Wiener Graben, das wie kein anderes die Theatralität unterstreicht, mit der die Waren von der Stadt Besitz ergriffen haben, auch wenn – oder gerade weil – die Menschen mit den Waren die Positionen getauscht haben. Bei dem Bild handelt es sich um eine Fotografie vom Fronleichnams-Umzug des Jahres 1899[4], die folgende Szenerie bieten: im Vordergrund defilieren in der Straßenmitte die militärischen und kirchlichen Würdenträger vor dichten Reihen sitzender und stehender Zuseher; diese nehmen den Bild-Mittelraum ein. Im oberen Bildraum – der für uns bemerkenswerte Bildausschnitt – sieht man ein Publikum, das sich auf zwei Etagen in den großflächigen Schaufenstern des Warenhauses Rothberger (1895, Helmer&Fellner) eingemietet hat. Das Faszinierende an dieser Fotografie ist, daß sie keinen endgültigen Entscheid zuläßt, wer nun die Akteure, und wer die Voyeure sind. In diesem Sinne exponieren sich vor allem diejenigen, die im Schaufenster die Stelle der sonst dort präsentierten Waren eingenommen haben, obwohl sie den Regeln nach eigentlich die passiven Konsumenten repräsentieren. Walter Benjamin hat über die Effekte der Waren geschrieben, die sukzessive zum Mittelpunkt des urbanen Lebens geworden sind und zu dessen verkannter Triebkraft: sie erzwingen beim Publikum die Spekulation auf etwas nicht sogleich zutageliegendes und versetzen die sie umgebende Menge in einen Rauschzustand; einen Zustand, der sie zugleich vergessen läßt, welche triviale Geschichte der Berechnung, Ausbeutung und Monotonie in die Ware selbst eingegangen ist.[5] Das scheint das »Ereignis« am Ort der Konsumtion auszumachen: ihr »Sinn« ist kommunikativ offen. Man könnte deshalb die oben beschriebene Situation auch als Wettstreit interpretieren, wobei sich die Körper in den Auslagen von den Waren deren ortsgebundene magische Qualität leihen, um die sozial höher rangierenden Personen im Defilee zu »verführen«. Dann lebte in dieser Situation die über Geschmacksdistinktionen entwickelte gesellschaftliche Rivalität von Aristokratie und Bourgeoisie in hyperrealer Form wieder auf.

Spaces of Modernity

Neuere Theorien über die Stadt und die Konsumtion stellen die von Marx inspirierte Kritik am Warenfetisch infrage. Autoren wie Martyn J. Lee insistieren darauf, daß die Ware als kulturell umstrittenes Medium aufzufassen ist, bei dessen Konsumtion die Intentionen redefiniert werden können, die in ihre Produktion eingegangen sind.[6] Wie immer: man wird akzeptieren, daß die städtischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts durch Konsumtionsorte und deren Raum-Zeit-Regime ihre Prägung erhalten haben. Sharon Zukin spricht von den »spaces of modernity«, von Geschäften, Restaurants, Museen usw., die technologische und soziale Veränderungen sowohl vermarktet wie auch akkulturiert haben. Department Stores, die paradigmatischen Stätten hochkapitalistischer urbaner Konsumtionskultur, sind zwischenzeitlich als soziale Labors entdeckt worden, in denen die männlich dominierte »politische« Öffentlichkeit durch eine kulturell-weibliche Gegenöffentlichkeit überflügelt worden ist. Und tatsächlich waren die Department Stores (um 1900) nur zu Graden rein kommerzielle Orte, viel mehr aber bedeutend durch die Imaginationen – durch Lichtbild- und Reisevorträge, Sportsäle, Debattier-Klubs, Schreibräume, Eisringe auf den Dächern und vieles andere mehr – die sie ihren Kundinnen boten.[7] Ältere Texte wie die Victor Matajas aus 1910 nahmen für die Warenhäuser in Anspruch, mit ihrem System des Fixpreises und der Vergleichsmöglichkeiten maßgeblich zur Entwicklung von Kalkül und Rationalität im Alltagsleben beizutragen. Nicht zu vergessen die neue Visualität der Stadt, die auf der modernen Reklame beruht.[8] Im Jahr 2000 kann die Adaptierung der Wiener Innenstadt an internationale Trends des innerstädtischen Window-Shoppings noch kleine »Kulturkämpfe« auslösen. Der Sprecher der Kaufleute am Graben nutzt jedenfalls starke Worte gegen das, was er die »Verjahrmarktung« einer »exklusiven« Shopping-Meile nennt – gegen die Verdrängung der »alteingesessenen« Handelsfirmen durch global agierende Labels. (Kurier, 16.9.2000) Tatsächlich hat die Arbeitsteilung zwischen den drei zuvor genannten Wiener Konsumtionsregionen über lange Zeiträume hin eine besondere Struktur konserviert, die zweifelsohne die lokale Identität Wiens außerordentlich gefördert hat. Die Kombination von Fantasie und Rationalität, die für die Department Stores reklamiert worden ist, hat hier nie wirklich Fuß fassen können. Der Gegensatz zu anderen Metropolen läßt die Wiener Feingliederungen erst interessant erscheinen.

Die City wurde als erste von den »spaces of modernity« erfaßt. Die Innenstadtkaufhäuser zeigten aber ihr eigenes Gepräge.[9] Das Haas-Haus am Stock-im-Eisen-Platz (1867) diente der Präsentation industriell erzeugter Teppiche, das Warenhaus Wahliss, Kärntner Straße 17 (1879), ebenso Haas&Czjzek, Kärntner Straße 5 (1883) derjenigen von Porzellan. Diese und ein gutes Dutzend anderer Kaufhäuser der Gründerzeit beeindruckten durch neue Materialien, Aufzüge, elektrisches Licht und so weiter. Sie avancierten damit zu den Vorposten des modernen Stadtlebens. Aus der Perspektive der consumer culture allerdings bieten sie ein ambivalentes Bild. Sie waren in erster Linie Firmenrepräsentanzen, orientiert auf das Exquisite der Marke, und damit berechnet auf ein Publikum das vor allem an der Nobilitierung seines Konsums interessiert war. Während der bereits genannte Victor Mataja an den Department Stores vor allem die Aufschließung von Marktrationalität durch Preisauszeichnung und Qualitätsvergleich betonte, inszenierten die Wiener Warenhäuser die Ware in ihren Auslagen als Kulturgut. Doch dies war nur eine Option, und in der Architekturgeschichte wird der anderen »typischen« Wiener »Kaufhauskultur«, repräsentiert durch Namen wie Knize, Goldman&Salatsch, Retti und Schulin bzw. Adolf Loos und Hans Hollein, ein weitaus größerer Einfluß zuerkannt. Günter Feuerstein hat die Architektur der Schwellen hervorgehoben, die diese Wiener Varianten von Konsumkultur charakterisiert. Anstatt die Ware den Blicken preiszugeben, wird sie durch die Ladengestaltung gegen die Straße hin abgeschirmt und als Geheimnis inszeniert, gerade noch durch mehr oder weniger referentiell gestaltete Zeichen markiert. Es erfordert schon eine intime Kenntnis der Geschäftsusancen, um diese Schwellen zu überschreiten.[10]

Kaufhäuser in Wien

Die Kaufhäuser der Mariahilfer Straße haben die Differenzen der City-Etablissements zu den Department-Stores nur teilweise kompensiert. Das »Herzmansky« (1897), das »Gerngross« (1904) und das »Stafa« (1911) blieben so wie die anderen (insgesamt 17) Großkaufhäuser Wiens schon in der Dimension weit zurück. Während »Wanamaker's« und ähnliche bis zu 5000 Beschäftigte hatten, übertraf von den Wiener Häusern nur ein einziges die Anzahl von 300. Dazu kam, daß sie nicht den für Department-Stores typischen Warenmix offerierten, sondern ein beschränktes Sortiment, zumeist Textilien und Haushaltsgeräte, führten. Im Grunde waren sie also erweiterte »Fachgeschäfte«, die ihr spezifisches Klientel nicht mit künstlichen Welten gewinnen mußten und daher auch weniger in Spektakularität investierten. In den 1920ern, während international die erste Phase von Konsummassengütern anhob, setzte sich überdies der »organisierte« und moralisch gesättigte Konsum durch, der in Wien über die GÖC (die Großeinkaufsgemeinschaft der Consumgenossenschaften) gesteuert wurde. Nichts kennzeichnet die bescheidene Dimension des organisierten Konsums mehr, als die von den Werbe-Professionisten hoch gelobte Revue der GÖC aus dem Jahre 1929, wo mit avancierten Mitteln für Zündholzer, Seife und Kakao geworben wurde.

Konsumtionsorte, Stadtstruktur und Konsumpraktiken stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Wenn die Department-Stores die Ausdifferenzierung der Großstadt in mehrere, durch Schnell- oder Untergrundbahnen verbundene »Knoten« (und ein mobiles Publikum) zur Voraussetzung zu haben scheinen, so schlug Wien eine andere Richtung ein. Hier blieb die Orientierung auf das »Zentrum« ungebrochen, während die Umstellung des Verkehrssystems auf die Straßenbahn (mit ihren kurzen Intervallen) die funktionsgemischte Straße unterstützte, die wiederum als »starke« Kommunikations- und Versorgungseinheit für die sozial und räumlich stabilen, durch die Mieterschutzbestimmung seit 1917 nochmals konservierten Bezirke wirkte. Die Geschäftsstraßen repräsentieren nun aber einen radikal anderen Konsumtionsort als die zuvor genannten. Sie sind, nach Sharon Zukin, Orte der Identitätsbestätigung, die sich durch gemeinsame soziale Aktivitäten, basierend auf Klasse, Ethnizität, Geschlecht u.a. einstellt. »Neighborhood shopping streets,« meint Zukin, »espacially when they are connected with ethnicity, social class and gender, are sites where identities are formed.«[11] Modernisierungsprozesse bereiten im Regelfall diesem urbanen Raum bereits um 1900 – 1920 ein Ende. Nicht so in Wien. Die Gemischtwarenhandlung bildete gemeinsam mit den Bäckereien, Fleischereien, den Papier- und Spielzeug-Geschäften sowie Trafiken mehr denn je das Rückgrat des städtischen Konsums und setzte die bestimmenden Akzente für das »Geschäftige« im Straßenraum. Die Grundlage ihrer Zählebigkeit war nicht zuletzt, daß sie auf persönlichen Kredit verkauften, und fallweise mit Rabatten oder sonstigen Kompensationen aushalfen, ebenso wie Barzahlung noch in den 1960ern nicht zwingend war. Die Zahl der Kleinhändler hat in den Jahren zwischen den Kriegen nicht nur nicht ab-, sondern geradezu explosionsartig zugenommen, 1925 schätze die Arbeiterkammer ihre Zahl mit 85.000 auf das Doppelte von 1913.[12] Selbst in den 1960er Jahren, als sich die sozialökonomischen Voraussetzungen erheblich gewandelt hatten und die »fordistische Massenproduktion« das Regiment schon übernommen hatte, bestimmte in Wien nach wie vor die face-to-face-Beziehung zwischen Händler und Klient die Konsumtionskultur. (In den Krisenjahren mußten auch Fachgeschäfte und Warenhäuser auf Formen von Warenkredit zurückgreifen, der sozusagen persönlich auszuverhandeln war. Shopping hat in Wien deshalb bis in die 1970er Jahre hinein noch eine vormoderne Note von wechselseitiger Abhängigkeit, von Vertrauensbeziehung, und von »Treue«.)[13]

Kultur der Unterscheidung

In dem schon klassischen Text »Die Großstädte und das Geistesleben« hatte der deutsche Soziologe Georg Simmel 1903 die grundlegende Funktion der Waren für die Dynamisierung des urbanen Lebens unterstrichen. Kaufen und Verkaufen, Ware gegen Geld, so Simmel, lösen erst die sonst durch Tradition und komplizierte Verpflichtungen geregelten Beziehungen der Menschen auf und bringen Entscheidungs- und Verhaltensfreiheiten mit sich, die der Stadt eine »Kultur der Unterscheidung« bringen. Für Simmel bestand die Großstadt gerade aus dieser Kultur der Ware und des Geldes.[14] Das Wiener Beispiel spricht hier von einer gewissen Ambivalenz. Auch wenn die Bestimmungen Simmels im großen Ganzen zutreffen mögen, so finden sie doch einen höchst präzisen sozialgeographischen Ausdruck und können nicht als universelle Prinzipien vorgefunden werden. Die um 1900 existente Aufspaltung in drei »Orte« mit korrespondierenden Stilen fundamentiert heute noch eine urbane Kultur mit stark partizipatorischen Zügen. Der imaginative Hedonismus in der City wird nicht als anstößig betrachtet, sondern in seiner Theatralität von allen irgendwie akzeptiert, als urbanes Schauspiel (ohne Eintrittsgebühr) vielleicht sogar genossen. Die Mariahilfer Straße kompensiert dies mit radikaldemokratischen, zweckorientierten Stilen, in denen die kulturellen Distinktionen nicht sonderlich wirksam werden – jedenfalls nicht am Ort und in den sozialen Handlungen. Dann gibt es aber immer noch die kleinen Einheiten der Nachbarschafts-Geographie, die sozusagen »lokalen« Regeln folgen und über die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs hinaus eine eminente Rolle als kommunikative Orte spielen. Die »Neue Urbanität« der 1990er Jahre ist international von einer Semi-Privatisierung des urbanen Raumes begleitet gewesen. Einen erheblichen Teil davon eroberten sich die neuen Konsumtionsorte, die durch gesellschaftliche Ausschlußprozesse politisch brisante Konfliktzonen schaffen. Wien scheint hier wieder einmal auf paradoxe Weise von der Versteinerung seiner Strukturen, die nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hat, zu profitieren. Das Spektakel der Ware findet hinreichend Raum und amalgamiert sich mit älteren Formen der »Konsumkultur«, was es »sozial verträglich« macht. Die schwerwiegenden Veränderungen mit nachhaltigen Folgen für die urbane Struktur vollziehen sich vor dem neuen Glanz der City und der robusten Erscheinung der Mariahilfer Straße in den »übersehenen« Bereiche der Nachbarschaften. Sie, die kleinen Geschäfte, fallen aber nicht den postfordistischen Konsumpraktiken zum Opfer, sondern, wie es den Anschein hat, den innerstädtischen Einkaufszentren, die dem Planungsinventar einer früheren Zeit angehören und ohne die Verdichtungseffekte des forcierten U-Bahnnetzes wohl kaum ihre Attraktivität gefunden hätten. Die Suche nach Funktionen für die verschwindenden »Geschäftsstraßen« wird vernünftigerweise wohl bei den örtlichen sozialen Aktivitäten ansetzen müssen, denen sie lange Zeit Raum offeriert haben.

Dieser Text ist die bearbeitete Fassung eines Vortrags, den Siegfried Mattl bei einem Symposium - veranstaltet im Rahmen von »making it« - gehalten hat. In der im Mai erscheinenden Umbau Nr. 18, der Zeitschrift der österreichischen Gesellschaft für Architektur, wird es eine ausführliche Dokumentation dieses Symposiums geben.

Fußnoten


  1. Abgedruckt in Jan Engelmann (Hrsg.): Foucault. Botschaften der Macht, Stuttgart 1999. ↩︎

  2. Sharon Zukin: The Culture of Cities, Oxford 1995. ↩︎

  3. Stadtprofil 10/ Werkstattberichte 11. Zentrensituation im Raume Wien. Hrsgg.v. MA 18, Wien 1966. ↩︎

  4. abgebildet in Franz Hubmann: Wien. Metamorphosen einer Stadt, Wien 1992, S.175. ↩︎

  5. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt/M. 1997, S.54f. ↩︎

  6. Martyn J. Lee: consumer culture reborn. The cultural politics of consumption, London/ New York 1993, insb.S.49/50. ↩︎

  7. Vgl. Mica Nava: Modernity´s Disavowal. Women, the City and the department-store; in: dies./ Alan O´Shea (Hrsg.): Modern Times. Reflection on a century of English modernity, London/ New York 1996, S.38ff. ↩︎

  8. Victor Mataja: Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben, Leipzig 1910. ↩︎

  9. vgl. Andreas Lehne: Wiener Warenhäuser 1865 – 1914, Wien 1990. ↩︎

  10. Günther Feuerstein: Wien heute und gestern. Architektur – Stadtbild – Umraum, Wien 1977, S.35. ↩︎

  11. Zukin, a.a.O., S.190/91. ↩︎

  12. Eva Singer-Meczes: Einkaufen in Wien 1918 – 1933 (I). Greissler Konsumgenossenschaften Warenhäuser, dipl., Wien 1987, S.43. ↩︎

  13. Andrea Ellmeier: Konsumentinnen. Einkaufen in Wien (II). Eine Analyse konsumgenossenschaftlicher Frauen(presse)politik und bürgerlicher Frauen- und Kundenzeitschriften, dipl., Wien 1990. ↩︎

  14. Georg Simmel: Die Großstadt und das Geistesleben, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd.I, Frankfurt/M. 1995, S.116ff. ↩︎


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