Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


In der Diskussion über urbane Leerräum­e und temporäre Nutzungen gilt Wien als Sonderfall: Die Stadt wächst, ist massiv verplant, und es scheint deshalb, als gäbe es faktisch keine Räume unter der Wahrnehmungsgrenze von StadtplanerInnen und ProjektentwicklerInnen, die für „taktische Stadtplanung“ durch ZwischennutzerInnen zur Verfügung ständen. Sabine Pollak und ihre beiden Ko-AutorInnen Katharina Urbanek und Bernhard Eder von der Technischen Universität Wien begannen in dem Band Das Andere der Stadt mit der Suche nach genau solchen Räumen in Wien und nahmen sich als erstes den Bezirk Simmering vor, gelegen am südöstlichen Rand der Stadt und nach wie vor bestimmt von Industrie und agrarischer Nutzung. Neben Produktionsbetrieben und Gärtnereien sind mittlerweile Verkehrsverbindungen, Wohngebiete, Friedhöfe und Kleingartenanlagen wichtige Funktionsbereiche des Bezirks. Simmering besitzt eine lange Geschichte von Umnutzungen und von stetig wechselnden Funktionen in denselben Räumen, und diese Eigenschaft, eine „Freizone“ abseits der sonst geltenden Regeln der Stadt zu sein, existiert nach wie vor. Die AutorInnen schreiben: „in Simmering dehnt sich Wien aus und öffnet sich e­iner vielfältigen Programmatik.“

Zentrale Methode des Bandes auf der Suche nach „Heterotopien“ im Südosten Wiens ist die Erstellung von Karten. „Spuren urbaner Informationen“ sollten in der Stadtlandschaft aufgefunden, „extrahiert“ und schließlich in abstrahierten Karten dargestellt werden. Die Isolation der Informationen erlaubt es, diese zu vergleichen und in verschiedenen Ordnungen zu rekombinieren, dadurch neu zu interpretieren und urbanes Potenzial zu entdecken. Die 52 Karten, erstellt im Rahmen eines Forschungsprojektes, das durch die Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien finanziert wurde, sind chronologisch, thematisch oder assoziativ geordnet und heben jeweils ein wichtiges urbanes Phänomen oder eine wesentliche Raumveränderung Simmerings hervor. So wird auch die Entwicklung dieses Stadtgebiets über die Zeit sichtbar. Die Karten sind ergänzt durch thematische und assoziative Querverweise zu anderen Karten im Band und durch kurze Texte und Bilder, die die jeweils angesprochene aktuelle Situation zeigen oder historische Querverweise, thematische Kontexte und räumliche Potenziale darstellen.

Die Kartenreihe beginnt mit der römischen Limesstraße des 1. Jahrhunderts, die sich im Wesentlichen mit der heutigen Simmeringer Hauptstraße deckt. Bis heute bestimmt der in der Wiener Innenstadt beginnende und Simmering durchziehende Wiener Neustädter Kanal die räumliche Ordnung des Bezirks – der Kanals sollte Teil einer geplanten Wasserstraßen-Verbindung bis Triest sein, die nie fertig gestellt wurde; im realisierten Kanalteil wurde vor allem Holz und Baumaterial transportiert, später wurde der Graben im innerstädtischen Teil als Trasse für die Stadtbahn genutzt. Seit 1913 bildete die durch Simmering verlaufende Pressburgerbahn eine die Stadtzentren von Wien und Bratislava direkt verbindende Straßenbahnlinie, die seit 1936 nur mehr bis zur Grenze verläuft – heute wird diese Funktion von der wesentlich weniger leistungsfähigen Schiffsverbindung auf der Donau übernommen. Große Bedeutung für den Bezirk und ganz Wien besitzt der Alberner Hafen, ursprünglich ein Projekt der NationalsozialistInnenen, errichtet von ZwangsarbeiterInnen, der heute als Umschlagplatz für Baustoffe und Getreide dient. Am Nordrand des Bezirks befand sich das Gaswerk Simmering, dessen vier denkmalgeschützte Gasometer Ende der 1990er Jahre in Wohnbauten umgewandelt wurden. Simmering ist nach wie vor ein Ort der Ver- und Entsorgung der Stadt: beispielsweise durch die hier ansässigen Gärtnereien, die einen Großteil des Wiener Gemüsebedarfs decken, durch Müllverbrennungs- und Biogasanlage (die wiederum Fernwärme liefern) sowie Hauptkläranlage. Die Karten, zuerst chronologisch detailliert vorgestellt, werden schließlich nochmals thematisch geordnet zusammengefasst: Kartenfolgen zeigen dann die räumliche Struktur, die Ver- und Entsorgungsräume, „ver-rückte Orte“ sowie Wohnräume im Bezirk. Die Darstellung der Forschungsergebnisse wird ergänzt durch einen Fotoessay von Julian Mullan.


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