Lima
Zwischen pulsierender Metropole und der WohnraumsucheDie Vielschichtigkeit Limas erschließt sich dem Besucher/der Besucherin erst auf den zweiten Blick, und auch nur dann, wenn man bereit ist, die von diversen Reiseführern empfohlenen Routen zu verlassen und abseits der modernen und reichen Stadtviertel die Identität der Stadt zu entdecken. Es findet sich in der gesamten Stadt wohl kaum ein Aussichtspunkt, von dem aus es möglich wäre, das Stadtgebiet zu überblicken. Das liegt nicht daran, dass die Topografie keine Erhebungen aufweist, sondern vielmehr an der Form des Stadtgebiets entlang des schmalen Küstenstreifens zwischen Andenausläufern und dem Pazifik.
Aus heutiger Sicht war die Standortwahl für die Errichtung einer Hauptstadt nicht die günstigste. Aufgrund des kalten Humboldtstromes bilden sich an der Küste die garúas, eine Hochnebeldecke, welche die Stadt von Mai bis November mit nur wenigen Sonnenscheintagen fast ständig bedeckt. Der feine winterliche Sprühregen vermengt mit Emissionen überzieht Lima mit einem zähen Smog, der die Stadt in ein trübes, feuchtes und verschmutztes Licht taucht. Abgesehen davon bringen die saisonalen Schwankungen der Wasserführung der drei wichtigsten Flüsse – Río Rímac, Río Chillón und Río Lurín – Probleme in der Wasserversorgung für die zehn Millionen–EinwohnerInnen-Metropole.
Ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung Limas zu einer modernen Metropole im 20. Jahrhundert war die Möglichkeit der Ausdehnung zur Küste hin. Der als Lima Metropolitana[1] bezeichnete Agglomerationsraum ist das physische Produkt eines spezifischen sozio-historischen Prozesses, markiert durch einen gesellschaftspolitischen Zentralismus und die Anwendung ökonomischer Entwicklungsmodelle, die das Wachstum der Hauptstadt und das auf nationaler Ebene ersichtliche Ungleichgewicht begünstigt haben.
In Lima lebt derzeit etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Perus, davon offiziell etwa 35 Prozent in marginalisierten Siedlungen. In der gesamtstädtischen Betrachtung zeigt Lima heute ein unzusammenhängendes, stark segregiertes Bild zwischen Arm und Reich, eine räumlich und gesellschaftlich in eine formale und eine informelle zweigeteilte Stadt.
Lima einst
Lima wurde am 18. Jänner 1535 mit dem Namen Ciudad de los Reyes (Stadt der Könige) von Francisco Pizarro im ausgedehnten Anbaugebiet des Río Rímac gegründet. Die Spanier gaben damit Cuzco, die etablierte Hauptstadt des präkolumbischen Inkareiches, zugunsten einer gewagten Neugründung auf. Die offizielle Namensgebung ist zurückzuführen auf den 6. Jänner 1535, den Tag der Standortfindung. Im alltäglichen Sprachgebrauch bürgerte sich später der Name Lima, eine Ableitung des Flussnamens Rímac, ein.
Die Gründung der neuen Hauptstadt begann mit der Auslegung eines Stadtplanes nach einem Schachbrettmuster, analog vieler lateinamerikanischer Stadtgründungen. Die Errichtung wurde mit dem Bau der Kathedrale initiiert, welche sich an der Ostseite des für den Plaza Mayor (Hauptplatz) freigelassenen Blocks befindet. Aus dem strengen Rasterprinzip entstand in den ersten 70 Jahren ein überbautes Gebiet in Form eines Dreiecks, das um 1683 mit einer Stadtmauer, der einzigen, die je eine Hauptstadt in Spanisch-Südamerika umgab, eingegrenzt wurde. Seit der Gründung wurde die Stadt von zahlreichen Erdbeben heimgesucht. Zweimal, 1687 und 1747, wurde Lima so gut wie völlig zerstört und danach nach ihrer alten Struktur unverändert wieder aufgebaut. Schon bald, mit Übernahme der Funktion als Hauptstadt des Vizekönigreiches Peru, übernahm die Stadt wichtige politische, militärische und wirtschaftliche Funktionen und wurde auch zum kirchlichen Mittelpunkt Spanisch-Südamerikas. 1542 wurde die Stadt Sitz des Obersten Gerichtshofes, erhielt 1551 mit der Gründung der Universidad de San Marcos die erste Universität Südamerikas und hatte mit dem Hafen Callao, dem einzigen puerto habilitado an der südamerikanischen Westküste, das Handelsmonopol. Mit dem Aufstieg Limas war jedoch die Verdrängung der im Rímac-Tal lebenden Indigenen verbunden. Die Gebliebenen wohnten in der durch Grünflächen von der Kolonialstadt abgetrennten Vorstadt Santiago. Lima wurde eine kosmopolitische Stadt, in der die Kreolen bis in die Gegenwart hinein den Ton angaben.
Ein halbes Jahrhundert vor Ende der Kolonialzeit verlor Lima seine dominierende Position gegenüber den konkurrierenden Zentren wie Caracas, Santiago und Buenos Aires. Nicht nur der Verlust des Handelsmonopols an der westlichen Küste, sondern auch bürgerkriegsähnliche Wirren nach der Unabhängigkeit im Jahr 1821 waren dafür ausschlaggebend, dass Lima an Bedeutung verlor. In den ersten 350 Jahren blieb die Stadt aufgrund ihrer Begrenzung durch die Stadtmauer in ihren physischen Ausmaßen sehr stabil.
Der Grundriss des historischen Lima, das 1988 in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde, blieb bis heute unverändert erhalten. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde mit der Renovierung der bedeutendsten Plätze ein Revitalisierungsprozess in Gang gesetzt, der mit dem Brand am 29. und 30. Dezember 2001 in der historischen Innenstadt einen herben Rückschlag hinnehmen musste. Neben der menschlichen Katastrophe wurden im chinesischen Stadtteil einige Häuserblöcke schwer beschädigt.
Der Weg zur Metropole
Mit dem Abriss der Stadtmauer im 19. Jahrhundert konnte ein flächenhaftes Wachstum der Stadt nicht mehr behindert werden. Damit wurde auch der Grundstein für den Beginn der modernen Stadtplanung in Lima gelegt. Das Gelände wurde planiert, und die ersten mit Bäumen bepflanzten Avenidas entstanden. Einen wesentlichen Wachstumsimpuls in den peripheren Zonen brachte die Errichtung von Eisenbahn- und Straßenbahnlinien mit sich, u. a. die höchste Eisenbahnstrecke, die von Lima ins Landesinnere nach Cerro de Pasco verlief. Mit den verbesserten Verkehrsverbindungen zwischen dem Zentrum Limas und seinen ursprünglich dörflichen Ansiedlungen an der Küste vollzog sich auch die Abwanderung der Oberschicht aus der historischen Altstadt in die sich zu Bade- und Villenorten wandelnden landwirtschaftlichen Ansiedlungen wie Miraflores und Magdalena. Die Straßen- und Eisenbahnlinien wurden ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nach und nach wieder eingestellt. Von dem seit den siebziger Jahren geplanten Metro-Netz mit ca. 70 km Gesamtlänge wurde bis dato nur ein Teilstück von etwa 11 km im Süden Limas realisiert. Somit bleibt Lima, die viertgrößte Stadt Südamerikas, eine der wenigen Großstädte ohne ein schienengebundenes Nahverkehrssystem. Der liberalisierte öffentliche Transportsektor ist heute eine der Hauptstützen der informellen Ökonomie. Eine Linienplanung lässt sich in der Unmenge von Transportunternehmungen nicht durchsetzen. Einer nicht ortskundigen Person sei, bevor sie sich in die Wirren des Bussystems stürzt, angeraten, den Stadtplan zu studieren, um in dem hektischen Treiben auf den Straßen und an den Verkehrsknotenpunkten die Übersicht bewahren zu können. Die negativen Auswirkungen dieses Systems auf die Umwelt, die fehlende Überprüfung der Sicherheit und die Veralterung des Fuhrparks beeinträchtigen die Lebensqualität in der Stadt enorm.
Die Zentralisierung in der Politik und in der Wirtschaft auf die Hauptstadt Lima und die damit einhergegangene Vernachlässigung der ländlichen Regionen in der Strukturpolitik haben den auf globaler Ebene ersichtlichen Verstädterungsprozess im 20. Jahrhundert in Peru wesentlich verstärkt und beeinflusst. Die Hauptstadt des Landes avancierte als Folge zum Hauptanziehungspunkt für MigrantInnen aus dem ganzen Land. So ist Lima heute etwa acht Mal größer als die zweitgrößte Stadt des Landes, Arequipa, und nimmt eine übermächtige Stellung im Städtegefüge Perus ein.
Die Gründe für die Zuwanderung sind einerseits auf den Rückgang der Landwirtschaft und die Landknappheit in der andinen Region sowie auf den Versuch, in der Stadt einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg zu erlangen, zurückzuführen. Mit der wirtschaftlichen und politischen Krise ab den achtziger Jahren veränderte sich der allgemeine Kontext der Migration tiefgreifend. Mit dem Terrorismus, der seine Wurzeln in der Andenregion hat, fügte sich die Spirale der Gewalt als neues Element hinzu, was der Migration einen zwingenden und massiven Charakter gab. Nun konvertierten die Migrationsmotive in eine Überlebensstrategie der sozialen und biologischen Reproduktion, auch um der Unterordnung und Abhängigkeit von lokalen Machtgruppen zu entfliehen.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte die Bourgeoisie ihre Stadt vor dem Zuzug der bäuerlichen Bevölkerung zu verteidigen. Es herrschte die Meinung, dass die Modernisierung in die ländlichen Regionen vordringe und nicht, wie sich herausstellte, diese von der in die Städte strömenden Landbevölkerung gesucht wurde. So sollte z. B. 1946 mit einem Gesetzesvorschlag der Zuzug von Leuten aus der Provinz verboten werden.
Die in der kreolisch geprägten Stadt angekommenen MigrantInnen mussten aufgrund der Ausgrenzung alternative Methoden für ihr neues urbanes Leben entwickeln. Die Grundlage dafür bildeten die aus der andinen Tradition heraus entstandenen sozialen Netzwerke. In Selbsthilfe wurde Wohnraum durch Okkupierung von brachliegendem Land geschaffen, in MigrantInnenklubs ein soziales Leben aufgebaut und durch die informelle Ökonomie eine Form für die Sicherung des Lebensunterhaltes gefunden. Mit dem Anwachsen der Stadt ging auch eine Veränderung der urbanen Gesellschaft und des Stadtbildes einher. Die andine Kultur wurde in die Stadt mitgenommen und auf alle Ebenen des städtischen Lebens transformiert.[2]
MigrantInnen, die sich in den Kernbezirken niedergelassen hatten, wurden vielerorts delogiert. Auf der Suche nach neuem Wohnraum entstanden die ersten barrios clandestinos[3] an der Peripherie. Die Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes für wirtschaftliche Aktivitäten durch StraßenhändlerInnen und als Erweiterung des prekären Wohnraumes in den Armensiedlungen hat nicht nur auf die gesellschaftspolitische Transformation der Stadt Auswirkungen, sondern auch auf das vormals durch koloniale Architektur geprägte Stadtbild. Die Stadtmorphologie ist von nun an nicht mehr auf die auf dem Reißbrett entstandene Struktur zu reduzieren. Es fügte sich eine neue organisch wachsende Struktur von einfachen Hüttensiedlungen hinzu, die sich der Topografie angepasst und sich an der Peripherie rasant erweitert hat.
Lima heute
Die neoliberale Strukturpolitik der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinterlässt große Spuren in der Stadtstruktur Limas. Die City, das Wirtschafts- und Dienstleistungszentrum, welches sich über den Bezirk San Isidro nach Miraflores zur Küste hin zieht, wächst in der Vertikalen, während die äußere Stadt unaufhörlich und unkontrollierter denn je sich weiter in der horizontalen Ebene ausbildet. Die reparaturbedürftigen Hauptverkehrsrouten wurden ausgebaut und erneuert, um die neuen Wohn- und Konsumgebiete sowie die Zentren für Vermarktung und Warenumschlag besser anzubinden.[4]
Die Oberschichtviertel an der Küste werden neu entdeckt und mittels mit Luxusappartements ausgestatteter Wohnhochhäuser und Hotels aufgefüllt. Von hier ausgehend ziehen sich die bevorzugten Wohngebiete der Oberschicht über die gutbewachten Reihenhaus- und Einfamilienhaussiedlungen in San Isidro und Monterrico in Richtung La Molina. Diese Siedlungsgebiete liegen meist abseits der Hauptverkehrsrouten in ruhiger angenehmer Wohnlage. Der globale Trend hin zu den gated communities findet auch in der Ober- und Mittelschicht Limas aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus seinen Zugang.
Die Altstadt beherbergt heute hauptsächlich Regierungsinstitutionen und bildet gemeinsam mit Miraflores einen der touristischen Eckpunkte Limas. Die einstigen Prachtstraßen rund um die historische Altstadt sind heute vom Verkehr verstopfte und vom hektischen Treiben der StraßenhändlerInnen gekennzeichnete nicht sehr einladende transitorische Orte.
der Av. Javier Prado manifestiert sich in neuen Hochhäusern moderner Architektur, über deren Qualität und Ausprägung sich diskutieren lässt. Hier hat sich seit 2001 auch das von Hans Hollein geplante und gebaute Hauptquartier der Interbank der Hochhausskyline Limas hinzugefügt. Ausländische Telefongesellschaften, chilenische Einkaufsketten, Fast-Food-Restaurants und Autohandelsgeschäfte sprießen entlang der ausgebauten Verkehrsinfrastruktur aus dem Boden. Einkaufszentren mit Multiplex-Kinos werden an strategischen Punkten über die formale Stadt hin verteilt. Larco del Mar in Miraflores oder das Jockey Plaza Town Centre im Schnittpunkt der Panamericana mit der Av. Javier Prado sind zwei Beispiele davon. Diese Einflüsse und der Bau von schneller Architektur verändern die Stadtlandschaft radikal: Sie ist konsumorientiert und für den individuellen motorisierten Verkehr ausgelegt.
Dieser Zentrumsbereich wird durch einen immensen Gürtel aus informellen Siedlungen und genossenschaftlichen oder staatlichen Einfachsiedlungen umgeben. Physiognomisch bestehen oft keine Unterschiede zwischen den informellen Siedlungen und den genossenschaftlich entstandenen sites and services- oder core housing-Projekten. Die älteren barriadas[5] liegen zentrumsnah und sind baulich weitgehend konsolidiert, jedoch inzwischen stark verdichtet, so dass hier teilweise schon von einer beginnenden strukturellen und baulichen Degradierung gesprochen werden kann.
Die Straßen in diesen Stadtvierteln sind gekennzeichnet durch informell betriebene Handwerksbetriebe und Kleinstläden, die sich in den Bereichen zur Straßenfront hin befinden. Auf nicht bebauten Grundstücken oder in unbewohnten Gebäuden situieren sich informell geführte Kleinmärkte, die die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs für die Umgebung sicherstellen. Das Stadtviertel Gamarra im Bezirk El Agustino hat sich in den neunziger Jahren zum größten informellen Handels- und Produktionszentrum Limas entwickelt. Infolge Neueröffnungen von großen ausländischen Handelsketten in jüngster Zeit auch in diesen Zonen besteht die Gefahr, dass diese kleinteilige Struktur erheblich beeinträchtigt wird und so das dringend benötigte Zusatzeinkommen aus den Straßenläden für die ansässige Bevölkerung abnimmt.
Die informelle Stadt
Mit wenigen Ausnahmen sind die heute bestehenden Wohngebiete außerhalb der Zentrumsbezirke ungeplant und in Selbstbauweise der Bevölkerung entstanden. Die informelle Stadt ist außerhalb der Rechtsnormen entstanden und findet in der Stadtentwicklungsplanung aufgrund fehlender Information und einer resignierten Ratlosigkeit nach wie vor wenig Beachtung. Der derzeit offiziell in Peru verwendete Begriff für informelle Siedlungen ist Asentamientos Humanos (wörtlich übersetzt menschliche Siedlung). Informelle Siedlungen sind Wohnsiedlungen, die durch spontane oder organisierte Invasion auf staatlichem oder privatem Boden, meist ohne vorher installierte Infrastruktur, errichtet werden. Grundsätzlich kennzeichnen sich informelle Siedlungen durch einen hohen Grad an Selbstorganisation ihrer BewohnerInnen und eine lange Konsolidierungszeit, was sowohl die Ausstattung mit technischer, sozialer und urbaner Infrastruktur als auch den Bau und die Fertigstellung des Eigenheimes betrifft. Die Probleme in den informellen Siedlungen reichen von fehlender Basisinfrastruktur (Wasserver- und Abwasserentsorgung, Stromversorgung), fehlender Erschließung durch Straßen, fehlendem technischen Know-how im Eigenheimbau, Arbeitslosigkeit und erhöhtem Krankheitsrisiko bis zu einer hohen Kriminalitätsrate. Das größte Problem sind die restriktiven finanziellen Ressourcen sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene.
Die städtische Gesellschaft und die Politik haben die Problematik der nicht zufriedenstellenden Wohnraumsituation zu spät erkannt. Das Wohnungsdefizit war Ende der fünfziger Jahre bereits so hoch, dass der Staat durch sozialen Wohnbau, der überdies hauptsächlich an bessergestellte Gesellschaftsgruppen gerichtet war, dem Bedarf nicht nachkommen konnte. Als Alternative wurde die Entstehung der barriadas an der Peripherie geduldet. Kompetenzüberschneidungen, die Vielzahl an staatlichen Organen und eine häufige Reorganisation verhinderten überdies eine kontinuierliche Arbeit sowohl in der Wohnbau- und Siedlungspolitik als auch in der Stadtentwicklungsplanung. Somit war die Bevölkerung auf sich selbst gestellt und entwickelte aus der Notwendigkeit heraus eigene Selbsthilfestrategien. Dieses soziale Kapital der BewohnerInnen wurde erstmals Ende der sechziger Jahre von der damaligen Militärregierung unter der Führung von General Juan Velasco (1968–1975) erkannt. Durch staatliche Institutionen sollte die Eigeninitiative der Bewohnerschaft und die Mithilfe der Privatwirtschaft verstärkt angeregt und koordiniert werden. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang war der Aufbau des sistema vecinal (Nachbarschaftssystem) als neue Selbstverwaltungsstruktur in den barriadas. Mit dieser Strategie wurde eine soziale Mobilisierung unter politischer Kontrolle umgesetzt. Funktionsfähige Selbstverwaltungsorgane waren Voraussetzung für entsprechende Hilfeleistungen von staatlicher Seite im Aufwertungsprozess.
Ein weltweit bekanntes und in dieser Zeit entstandenes Modell einer barriada stellt Villa El Salvador im Süden Limas dar. Im Frühjahr 1971 kam es zu einer spektakulären Landbesetzung in Pamplona Alta an der südlichen Peripherie Limas. Am 1. Mai wurden von 200 Familien mehrere Grundstücke besetzt. Innerhalb von zwei Wochen wuchs die Anzahl auf etwa 9.000 Familien an. Aufgrund eskalierender Interessenskonflikte, des Übergreifens auf Privatgrundbesitz und politischen Drucks beschloss die Militärregierung am 15. Mai eine geordnete Umsiedlung in ein Gebiet weiter südlich. Gleichzeitig wurde auch ein Gesetz, wonach es in Lima nur noch gestattet ist, sich in Villa El Salvador anzusiedeln, verabschiedet. Noch im Juli des gleichen Jahres wurde ein städtebauliches Konzept vorgelegt. Villa El Salvador sollte keine Schlafstadt wie die übrigen barriadas werden, sondern weitgehend autark funktionieren. 1973 lebten bereits 105.000 BewohnerInnen in Villa El Salvador, und 1983 wurde die größte barriada Limas zu einem eigenen Verwaltungsbezirk erklärt. Die Entwicklung eines Wirtschafts- und Gewerbezentrums vollzog sich jedoch sehr zögerlich, wodurch einige der dafür reservierten Flächen in der Zwischenzeit von neuen Invasionen in Anspruch genommen wurden.
Die ökonomische und politische Krise der achtziger Jahre hatte zur Folge, dass die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen, insbesondere jene in den marginalisierten Siedlungen, neuerlich auf sich selbst gestellt waren. Das räumliche Wachstum Limas war in den letzten zwei Jahrzehnten durch ungeplante Expansion in Form einer Unzahl an kleinen neugegründeten informellen Siedlungen geprägt. Diese neuen Siedlungen sind vielerorts aufgrund der Bodenknappheit in für eine Bebauung ungeeigneten Extremlagen entstanden und sind in ihrer Organisationsform durch einen Rückschritt gekennzeichnet. Als Konsequenz wird die Infrastrukturausstattung immer aufwändiger und kostenintensiver. Zu Beginn der neunziger Jahre lag das Hauptaugenmerk der Nationalregierung unter Präsident Alberto Fujimori auf der Befriedung des Landes und der Stärkung der Wirtschaft durch Liberalisierungspolitik. Eine sozioökonomische Verbesserung der Situation der Bevölkerung wurde jedoch nicht erreicht. Erst mit der Umsetzung der auf nationaler Ebene durchgeführten Legalisierungspolitik von informellem Wohnungseigentum ab 1996 wurde eine neue Strategie angewandt, die auf die Eingliederung der informellen Stadt in das formale Rechtssystem abzielt. Die Wohnraumproblematik hat in den letzten Jahren wieder vermehrt Eingang in die nationale Politik gefunden. Erste positive Ansätze eines Umdenkprozesses in der Politik und die Anwendung neuer Strategien, um dem Problem des Wohnraumdefizits entgegenzusteuern, sind erkennbar.
Private Initiativen der Stadtentwicklung
Die Eigeninitiativen der Bevölkerung stellen den wichtigsten Motor in der Stadtteilentwicklung in informellen Siedlungen in Lima dar. Es existieren in den barriadas zwei unterschiedliche räumlich-administrative Konzepte: Das ist zum einen die politische städtische Administration und zum anderen die Nachbarschaftsorganisation, welche als soziales Konzept auf basisdemokratischer Ebene alle BewohnerInnen einer sozialräumlich definierten Siedlung gruppiert. Die gewählten VertreterInnen kümmern sich um alle ihre Siedlung betreffenden Anliegen und Probleme und treten als Vermittlungs- und Verhandlungspersonen mit externen Institutionen auf. Weiters wird durch Gemeinschaftsküchen, privat organisierte Schulen, Kinderkrippen, Jugendbetreuung, Elternvereine, Wachdienste etc. versucht, den Defiziten in bestimmten Bereichen entgegenzutreten, wodurch auch wichtige soziale Funktionen für das urbane Leben in informellen Siedlungen übernommen werden. Die BewohnerInnen bringen damit ihre eigenen Ressourcen (die Arbeitskraft, persönliche Erfahrungen aus dem Berufs- und Alltagsleben sowie kollektive Erfahrungen aus dem gemeinsamen Siedlungsbau etc.) in den Stadtteilentwicklungsprozess ein und zeigen damit ein hohes Verantwortungsbewusstsein für ihr Wohnumfeld. Die Projektideen für eine Verbesserung der Lebens- und Wohnqualität sind vielfältig. Die Art der Maßnahmen (Basisinfrastruktur oder Zusatzdienstleistungen), welche in Gemeinschaftsarbeit umgesetzt werden, hängen vom jeweiligen Konsolidierungsgrad der Siedlung ab. Ist eine Siedlung mit der Grundausstattung an technischer und sozialer Infrastruktur versorgt, bemüht sich die Siedlungsvertretung, neue Projektideen (z. B. Kulturhaus, Jugendclub, Internetcafé etc.) auszuarbeiten und umzusetzen. Dabei steht nicht nur die Aufwertung des baulichen Zustands der Siedlung im Vordergrund, sondern auch die Stärkung des sozialen Netzwerkes und die Verbesserung der sozioökonomischen Situation der BewohnerInnen. Grundvoraussetzung dafür ist eine kontinuierlich und gut funktionierende Organisation, die Transparenz, Arbeitsbereitschaft und Zusammenhalt zeigt.
Vielfach übernehmen dabei NGOs Funktionen, welche von staatlicher Seite nicht oder nur unzureichend erfüllt werden. Sie stellen in ihren Aktivitäten die Bewohnerschaft ins Zentrum und versuchen so, die Eigeninitiative der Bevölkerung durch Empowerment und Qualifikationsvermittlung sowie die Umsetzung von städtebaulichen Maßnahmen zu unterstützen. Die NGOs nehmen dabei eine intermediäre Funktion zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ein, bieten technische Hilfestellung an und lukrieren finanzielle Mittel aus der internationalen Kooperation.
Hervorzuheben sind die vielfältigen Aktivitäten, neben vielen Bereichen auch in der Stadtteilentwicklung, von nationalen NGOs in Peru. Die erste große Welle an Gründungen von NGOs in Peru war in den sechziger Jahren infolge der großen Budgetkürzungen an den Universitäten zu verzeichnen. Ab den achtziger Jahren sind aufgrund der Vernachlässigung der Stadtentwicklung von Seiten des Staates vermehrt Praxistätigkeiten zu verzeichnen. Somit kennzeichnen sich heute ihre Aktivitäten durch starkes Ineinandergreifen von Forschung und Praxisarbeit. Wichtig hierbei ist es, die sozialen Prozesse aufzuzeigen und die Potenziale der Gesellschaft zu stärken.
Eine kontinuierliche Stadtteilentwicklung benötigt kreative Lösungen zwischen top-down- und bottom-up-Strategien, welche je nach den Bedingungen flexibel angepasst werden können. Informelle Siedlungen bieten die Chance, eine kleinteilige Struktur und eine an die Bevölkerung angepasste ethnische Ökonomie aufzubauen, wobei das soziale Netzwerk die Basis bildet. Neben geeigneten Stadtplanungs- und Stadtteilentwicklungsstrategien ist es auch notwendig, einen Bewusstseinsveränderungsprozess in der Gesellschaft zu initiieren, um nicht nur aus rechtlicher Sicht eine Eingliederung der informellen in die formale Stadt zu erreichen, sondern auch aus gesellschaftspolitischer Sichtweise die vorherrschenden Abgrenzungen zu entschärfen. Die Stadt und ihre Bevölkerung steht immer noch vor der Herausforderung, die Chance zu nutzen, eine multikulturelle gemeinsame urbane Identität aufzubauen, welche nicht nur auf Fortschritt ausgerichtet ist, sondern auch traditionelle Elemente der andinen Kultur akzeptiert und miteinbezieht.
Fußnoten
Lima Metropolitana umfasst das urbane Gebiet der Provinz Lima und das Gebiet der konstituierenden Provinz Callao. Diese zwei administrativ getrennten Einheiten sind heute räumlich und wirtschaftlich stark verflochten. ↩︎
José Matos Mar, Desborde popular y crisis del Estado. El nuevo rostro del Perú en la decada de 1980, Lima 1980, S. 83ff. ↩︎
Illegale Stadtteile, so wurden informelle Siedlungen in der ersten Hälfte des 20. Jh. bezeichnet. ↩︎
Wiley Ludeña Urquizo, Lima: Neoliberalismus, Architektur und Stadt, in: Trialog 57, 1998, S. 5-17. ↩︎
Eine Bezeichnung für informelle Siedlung, die als soziales Konzept zu verstehen ist, das im Gegensatz zu anderen Bezeichnungen nicht mit einer politischen Ausrichtung bzw. einer bestimmten Periode verbunden ist. ↩︎
Evelyn Eder