Märkisches Viertel oder ein Phänomen
Besprechung von »40 Jahre Märkisches Viertel« herausgegeben von Brigitte Jacob und Wolfgang SchächeBrigitte Jacob, Wolfgang Schäche (Hg.)
40 Jahre Märkisches Viertel - Geschichte und Gegenwart einer Großsiedlung
Berlin: 2004, Jovis
207 Seiten, 41 Seiten
Vierzig Jahre Großsiedlung Märkisches Viertel in Berlin-Reinickenhof nahm die Errichtungs- und Verwaltungsgesellschaft GESOBAU zum Anlass, ein Buch über die Siedlung und ihre BewohnerInnen herauszugeben. Dass unter diesen Umständen zumeist Jubelbroschüren entstehen, ist vorauszusetzen. Dass aber auch in einem solchen »Lesebuch mit verschiedenen Blickwinkeln« (die HerausgeberInnen, S. 10) spannende Erkenntnisgewinne liegen können, ist drei Autoren zu verdanken, die sich in diesem Buch positiv von den, zum Teil schönfärberischen, Beiträgen abheben.
Harald Bodenschatz beleuchtet die beiden kritischen Momente der Siedlung, ihren Entstehungszusammenhang und das Jahrzehnt nach der Fertigstellung.
Das Enstehen ist gekoppelt an einen, mitunter im Buch noch bemühten, Gründungsmythos der Wohnsituationsverbesserung. Mit Baubeginn 1963 wich diese Intention, Wohnungen für die dort in den Nachkriegsjahren ansässigen BewohnerInnen der Not- und Behelfquartiere zu errichten, bald einem Verwertungsinteresse im Hinblick auf den generellen Wohnungsmangel der Nachkriegsjahre. Ein Verwertungsdruck seitens der Stadt gegen den Bezirk schlussfolgerte in der Enthebung der Planungshoheit. Die Stadt musste das Plansoll von 20.000 Wohneinheiten pro Jahr erfüllen und erhöhte dadurch den Wohnschlüssel, also die Dichte der Einheiten pro Quadratmeter. In einer anderen Publikation nennt das Bodenschatz das Errichten einer »sozialautoritären Wohnbebauung« (Harald Bodenschatz, Märkisches Viertel. Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, Berlin 1987) .
Das Planer-Team Düttmann / Müller / Heinrichs arbeitete nach dem Prinzip der Urbanität durch Dichte, fußend auf einem streng hierarchischem direkten und personengebundenen Planungsprinzip. Müller erwähnt im Interview die Absicht, durch die von den Architekten gewünschte Kooperation mit Düttmann, dem damaligen Senatsbaudirektor Berlins, das Projekt gegenüber der Verwaltung durchsetzbar zu halten. Eine Planergruppe mit »freier Hand« – eine demokratiepolitisch höchst kritische Konstellation.
In den im Buch dokumentierten Interviews mit beteiligten Architekten (Müller als Stadtplaner / Ungers als Teilbereichsarchitekt) stellen sich überraschende Perspektiven ein. Der Erkenntnisstarrheit Müllers, der sich seiner Verantwortung und der Kritik durch den vorgeschobenen Zwang, er »musste eine Großsiedlung am Rand bauen«, entzog, wobei er doch schon längst das Zentrum entdeckt hatte, steht die Erkenntnis Ungers, dass die Hoffnung eines Umschlagens von Quantität in Qualität falsch war, entgegen. Das Urteil der Architekten, dass die Kritik Ende der sechziger und in den siebziger Jahren rein auf politische Agitation und Instrumentalisierung der BewohnerInnen für politische Ziele zurückzuführen sei, kann als Versuch gelten, aus ihrem eigenen Dilemma, mit massiver Kritik konfrontiert gewesen zu sein, zu fliehen. Bei Müller sind die Einsichten beschränkt, wenn er meint: »mich hat die berechtigte wie die unberechtigte Kritik allerdings so gut wie gar nicht beeinflusst« (S. 166), und er sieht als einzigen Fehler der damaligen Planung das »Fokussieren auf den sozialen Wohnbau« (S. 168).
Doch im selben Buch werden von Bodenschatz die konkreten Grundlagen des Protestes angeführt: 20prozentige Mietsteigerungen, ungenügende Ausstattung mit Infrastruktur wie zum Beispiel der Mangel an Kindertagesstätten und die durch den Fertigstellungsdruck teilweise problematische Bauausführung sind wohl die Auslöser gewesen. Die politische Agitation scheint hier eher eine Nebenerscheinung und ein Katalysator gewesen zu sein. Die in diesem Zusammenhang entstandenen MieterInnen-Initiativen führten in den achtziger Jahren, mit einer frühen Unterstützung durch die Errichtungsgesellschaft, zu Umbau und Adaptierungen der Gebäude sowie des öffentlichen Raumes. Es wurde erkannt, dass sich eine Stadt eben NICHT wie ein Haus bauen lässt (die zentrale Aussage Düttmanns zum Städtebau argumentierte mit dem Gegenteil). Es geht wohl darum, dem Platz die Zeit – und Veränderbarkeit – zu geben, sich als ein Ort zu etablieren, wie es Ungers als Erkenntnis aus seinem eigenen Mitwirken gezogen hat.
Denn das Märkische Viertel kann, wie der Philosoph Gerhard Schwarz im Buch vorstellt, als Spiegel der modernen Gesellschaft gelesen werden. Es ist notwendig, darauf zu reagieren, dass die heutige Gesellschaft eine der vielfältigen dynamisierten Lebensverhältnisse ist. Konfliktmoderation und das innovative Mobilitäts- und Risikomanagement stellen hier einen Ansatz dar: Das System des angebotenen Wohnungswechsels innerhalb der Siedlung bei sich ändernden Lebensumständen (ökonomisch, familiär, sozial ...) ermöglicht eine stabilere soziale Abfederung der BewohnerInnen. Als besonders muss auch die Einrichtung eines Mieterbeirates angesehen werden, dem sogar budgetäre Verfügungsmöglichkeiten von Seiten der Wohnbaugesellschaft übertragen wurden.
Schwarz beschreibt, dass eine Betrachtung der Siedlung sich nicht auf die BewohnerInnen und das Märkische Viertel als objektivierte Wahrheit konzentrieren kann, sondern sich nur mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der BewohnerInnen des Märkischen Viertels beschäftigen muss, mit dem – wie Schwarz es nennt – »Phänomen Märkisches Viertel«. Die Frage, was den Märker auszeichnet, verstelle den Blick. Der Mythos des Märkischen Viertels als Hort der Anarchie und Delinquenz (Rapper Sido) wie auch der des Märkischen Viertels als Zentrum der Ruhe und Sicherheit (ältere BewohnerInnen) existieren parallel nebeneinander. Diese Vielschichtigkeiten seien es, die das Viertel auszeichneten und einen Anknüpfungspunkt für die weitere Entwicklung böten.
Das Buch bietet, bei allen huldigenden Adjektiven, einen ganz passablen Einblick in Prozesse der Verwandlung von starren sozialutopischen bis sozialautoritären Wohnbauprojekten in soziale »Vorzeige-Projekte« am konkreten Beispiel Märkisches Viertel. Ein gelungenes Beispiel, das aufzeigt, dass an solchen Transformationen sehr stark die Initiativen und Handlungsspielräume im Verhältnis zwischen Organisation und MieterInnen entscheiden und nicht vorrangig die Architektur.
Landschaftsarchitekt. Partner bei PlanSinn Büro für Planung und Kommunikation GmbH. Mitbegründer und Redakteur bei dérive – Zeitschrift für Stadtforschung. Lehraufträge an der Universität für Bodenkultur sowie der Technischen Universität Wien.