Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Lange Zeit lautete eines der Versprechen der Stadt, in der Anonymität des Urbanen die Möglichkeit zu haben der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den damit verbundenen Konsequenzen – zu entfliehen. Ganz egal welchen Lifestyle man pflegte, welche sexuelle Orientierung man hatte, welche politischen Ansichten man teilte und in welchen Kreisen man sich bewegte – die Stadt machte Platz für individuelle Lebensentwürfe und im besten Fall ließen sich gleichgesinnte Menschen finden, mit denen der eigene Lebensentwurf geteilt werden konnte. Diese Freiheit durch Anonymität war autoritären politischen Bewegungen schon immer ein Dorn im Auge: Die Nationalsozialisten etwa installierten Blockwarte als Kontroll- und Überwachungsinstanz und damit als autoritäres Bindeglied zwischen Privatraum und NS-Terror-Regime, die als Treppen-Terrier der Ausspitzelung und Denunziation abtrünnigen Verhaltens in der Nachbarschaft dienten. Und auch die Figur der HausmeisterInnen ist im öffentlichen Gedächtnis durchaus mit einem erheblichen Ausmaß an Kontrolle verbunden.
Die Anonymität aber war Teil des Freiheitsversprechens einer modernen, individualistischen Gesellschaft. Ermöglicht oder zumindest erleichtert wurde diese individuelle Freiheit durch einen Sozialstaat, der es erlaubte, die heimatliche Scholle hinter sich zu lassen und die familiären Bande zu lockern oder gar zu kappen, indem er soziale Absicherung in Krisenzeiten garantierte. Interessanterweise hat sich der Wunsch nach Anonymität in den letzten Jahren vorrangig ins Internet verlagert, in der Stadt hingegen tritt dieser eher in den Hintergrund und wird durch die Beliebtheit von urbanen Dörfern überlagert. Das Thema soziale Kontrolle spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle. Die überwunden geglaubte Dorf- und Landromantik, unterfüttert mit der Sehnsucht nach Authentizität und Naturverbundenheit und dem Versprechen einer heilen Welt, übt auf die gestresste, abstiegsgefährdete Mittelschicht eine große Anziehungskraft aus. Bei aller Notwendigkeit für das Recht auf Anonymität im Stadtraum einzutreten, führt kein Weg vorbei am Mensch als sozialem Wesen, für das soziale Kontakte und Austausch unerlässlich sind. In einer Zeit der immer stärkeren Fragmentierung und Vereinzelung ist die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft deutlich im Anwachsen wie zahlreiche Haus- und Baugruppenprojekte zeigen. Im Gegensatz zum Land bietet die Stadt jedoch den Vorteil, sich soziale Kontakte aussuchen zu können und auch hier spielt das Thema Nachbarschaft zusehends wieder eine wichtigere Rolle.

Historisch war die räumliche Nähe der Nachbarschaft immer auch eine soziale: „Der Nachbar war von gleichem Stand, arbeitete und lebte unter ähnlichen Verhältnissen. Wer sich räumlich nah war, der war sich auch sozial nah, man war denselben Nöten und Zwängen unterworfen und zur Bewältigung des eigenen Alltags unausweichlich aufeinander angewiesen. Und viele blieben ihr Leben lang Mitglied ein und derselben Dorfgemeinschaft. Nachbarschaft war Schicksal.“ (Siebel 2015) Die industrielle Revolution läutete ein Ende für eine Vielzahl dieser Dorfgemeinschaften ein, um ihr unstillbares Verlangen nach Arbeitskraft befriedigen zu können. Nachbarschaft konstituierte sich unter völlig veränderten Bedingungen in den ArbeiterInnenvierteln neu. Mit der zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft, die dazu führte, dass nicht mehr alle BewohnerInnen einer Nachbarschaft in den selben Fabriken arbeiteten, den gleichen Lohn nach Hause brachten, von den gleichen Sorgen und Nöten geplagt wurden, übereinstimmende Interessen und Verhaltensnormen hatten, verschwand neben dem Bewusstsein einer gemeinsamen Klasse anzugehören mit den Segnungen des aufkommenden Wohlfahrtsstaates auch die ökonomische Notwendigkeit einer engen Nachbarschaft. Gegenseitige Hilfe war im Alltag nicht mehr notwendig, Nachbarschaft keine Schicksalsgemeinschaft mehr.
Walter Siebel weist in seinem Text über Nachbarschaft darauf hin, dass erst das Ende der Nachbarschaft als Produktionsgemeinschaft, wie sie in der Vormoderne durchaus verbreitet war, „die Intimisierung einer privaten Sphäre der Wohnung“ (Siebel 2015) in breiten Kreisen der Gesellschaft zum Standard machte. Erst mit dieser Entwicklung entstand das Bedürfnis nach Distanz, Abschottung und dem Schutz der Privatsphäre.
Wie wir wissen, stimmt diese Analyse aktuell nicht mehr in vollem Umfang. Das Bedürfnis Nachbarschaft wieder in einem umfassenderen Verständnis zu leben, steigt zwar nicht unbedingt generell, aber doch in erheblicheren Teilen der Gesellschaft. Verantwortlich dafür sind mehrere Phänomene. Die radikale Individualisierung der Gesellschaft hat in den besonders stark von neoliberaler Politik geprägten Staaten wie beispielsweise Großbritannien zu einer mit verheerenden Folgen verbundenen Vereinzelung und Vereinsamung von speziell alten, nicht mehr im Berufsleben stehenden Menschen geführt. Hunderttausende haben im Schnitt nur einmal monatlich die Möglichkeit eines Gesprächs mit Verwandten oder Bekannten, die Hälfte der über 75-Jährigen lebt alleine. Der Trend zu SeniorInnen-WGs, Generationenwohnen oder erfolgreiche private Initiativen wie die Online-Nachbarschafts-Plattform frag nebenan zeigen, dass das soziale Wesen Mensch wieder in den Vordergrund tritt und seine Rechte einfordert.

Ein anderes Ziel des Neoliberalismus, die Zerschlagung des Sozialstaates, trägt ebenfalls dazu bei, dass Nachbarschaften wieder als wichtige Ressource gesehen werden. Die aktuell in der Linken breit diskutierten Themen wie kollektives Eigentum und Commons wurzeln in jener Zeit, als Nachbarschaft nicht nur ein räumliches Nebeneinander, sondern ein soziales Netzwerk war. Garrett Dash Nelson erzählt in seinem Artikel für diese Ausgabe die Geschichte der (Klein-)Städte Neuenglands, die aus spezifischen historischen, gesellschaftlichen und auch räumlichen Gründen besonders demokratische Gemeinschaften bildeten, die zu einem hohen Grad auf Selbstverwaltung und Gemeineigentum basierten. Einzelne Aspekte dieser Struktur – wie beispielsweise Stadtversammlungen – haben sich in manchen Städten bis heute gehalten.
Die Krise der repräsentativen Demokratie ist eine weitere Ursache, die Nachbarschaften wieder verstärkt in den Blickpunkt rücken. Über munizipalistische Initiativen, die Nachbarschaften als zentralen Ort für eine radikale Demokratisierung sehen, mit Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau und ihrer Plattform Barcelona en Comú als populäre Aushängeschilder, war in dérive schon des Öfteren zu lesen. In der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Interview mit Dario Azzellini, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Selbstverwaltung beschäftigt, ein ausgewiesener Experte für die gesellschaftspolitischen Verhältnisse Venezuelas ist und Einblicke in die Bottom-up-entwickelten Selbstverwaltungsstrukturen gibt, die von der lokalen Nachbarschafts- bis auf die regionale Stadtebene reichen, und ihren Wechselbeziehung zu den zentralstaatlichen Organen.
Mit Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn aus der nachbarschaftlich organisierten Berliner Bottom-up-Initiative Kotti & Co haben wir über Auswirkungen für die Herausbildung sozialer Beziehungen in einer Nachbarschaft durch gemeinsamen öffentlichen Protest gesprochen. Die MieterInnen von Kotti & Co waren über die Jahre mit ständigen Mieterhöhungen konfrontiert, die 2011 ein Ausmaß erreichten, das weder trag- noch leistbar war. Bemerkenswert an Kotti & Co ist, dass es trotz der Diversität der Nachbarschaft und der gesellschaftlich marginalisierten Stellung vieler BewohnerInnen der Wohnbauten gelungen ist, sich über Jahre sichtbar und erfolgreich zu organisieren. Kotti & Co zeigt vor wie wichtig Selbstermächtigung und gegenseitige Unterstützung für eine Demokratisierung der urbanen Gesellschaften sind und welche Rolle Nachbarschaften dabei spielen können.
Um nachbarschaftliche Vernetzung und Aktivismus anzuregen und zu unterstützen, Informationen bereitzustellen und Wissen zu vermitteln, arbeitet die Berliner Plattform Tesserae Urban Social Research an der Entwicklung eines digitalen Nachbarschafts-Atlas. Lorenzo Tripodi, Teil von Tesserae und Autor eines Beitrages für diesen Schwerpunkt, sieht in nachbarschaftlichen Aktivitäten ebenso ein Potenzial für demokratische Reformen, weist aber gleichzeitig auf die Beschränkung lokaler Ansätze im Hinblick auf die übergreifenden globalen Faktoren hin. Der Nachbarschaftsatlas soll helfen, Wissen und Ressourcen auf lokaler Ebene zu mobilisieren und gleichzeitig Ebenen-übergreifende Beziehungen und Abhängigkeiten in größerem Maßstab aufzuzeigen.
Eine wichtige Funktion für Nachbarschaften haben immer auch Einrichtungen für die kleinteilige Nahversorgung und deren Funktion als soziale Treffpunkte gespielt. Die Struktur dieser Einrichtungen ist über die letzten Jahrzehnte stark ausgedünnt. In Missachtung der sozialen Funktionen von Greißlern, Gemischtwarenhandlungen und Tschecherln[1] wurden diese in großer Zahl auf dem Altar der Marktwirtschaft geopfert. Shannon Mattern steuert zu diesem Themenkreis eine Betrachtung der nachbarschaftlichen Funktion von Eisenwaren- und Gemischtwarenhandlungen in US-amerikanischen Städten bei und wie diese die Bedürfnisse und Werte der Gemeinschaft widerspiegeln und sie oft auch prägen.
Mit Alltagsökonomie setzt sich auch Leonhard Plank in seinem Beitrag Foundational Economy auseinander. Er plädiert dafür die „demokratische Kontrolle über die Grundlagen des guten Lebens vor Ort und von unten zurückzuerlangen“ und streicht die Bedeutung des kollektiven Konsums unerlässlicher Güter und Dienstleistungen des Alltags für unser aller Wohlergehen hervor.

Fußnoten


  1. Für die des Österreichischen nicht Mächtigen, der Duden sagt: ein Greißler ist ein kleiner Lebensmittelhändler, ein Tschecherl ein ebensolches, einfaches Gast- oder Kaffeehaus. ↩︎


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Literaturliste

Baumann, Zygmunt (2009): Gemeinschaften. Frankfurt: Suhrkamp.
Siebel, Walter (2015): Nachbarschaft [Stand 11.9.2018]