Jutta Blume

Jutta Blume studierte Landschaftsplanung in Berlin und ist Autorin von Kurzgeschichten.


Das Berliner Künstlerhaus Tacheles ist längst in jedem Reiseführer zu finden und ein Muss für jeden Berlin-Besuchenden. 1990 von KünstlerInnen besetzt steht es in Zusammenhang mit einer Welle von Aneignungen ungenutzter Orte im Ostteil Berlins, vor allem in der Spandauer Vorstadt in Berlin-Mitte. Die Besetzungen in Mitte standen dabei von Anfang an eher für eine künstlerische Nutzung von Freiräumen, während die gleichzeitige Besetzungswelle im Bezirk Friedrichshain eher mit einer ‚politischen' Linie in Zusammenhang gebracht wird. Während der Bezirk Friedrichshain für einen späten Häuserkampf in den 90er Jahren bekannt wurde, fand man in Mitte verborgene Bars und Galerien, deren Charme gerade in jener Verborgenheit bestand, und von denen die meisten eher lautlos verschwanden, wenn die entsprechenden Objekte in Sanierungsprojekte überführt wurden. Das Tacheles hingegen ist einer jener wenigen Orte, die weder verborgen blieben noch dem klammheimlichen Verschwinden zum Opfer fielen. 1997 wurde das gesamte Gelände von 30000 qm Größe, das die Oranienburger Straße mit der Friedrichstraße verbindet und momentan zum größten Teil unbebaut ist, von der Fundus-Gruppe gekauft. Seit 1998 besteht ein Mietvertrag mit dem neuen Eigentümer für das Tacheles. Der Vertrag besteht vorerst bis zum Jahr 2008 und sieht eine Miete in Höhe von einer DM plus Betriebskosten vor. Was bewegt einen Investor dazu, ein Gebäude in bester Lage in Berlin zu einem solchen Schleuderpreis zu vermieten? Laut Investor Anno-August Jagdfeld wird das Tacheles integriert in das auf der Freifläche zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße neu entstehende Johannisviertel, das erste Projekt des ‚New Urbanism' in Berlin, mit dessen Planung das Architekturbüro Duany Plater-Zyberk beauftragt ist. Eine Integration, wie sie auf den ersten Blick unmöglicher nicht sein könnte. Während das Tacheles in seiner ruinenhaften Struktur erhalten bleibt, wobei natürlich die Ruine derart domestiziert wurde, dass sie allen gängigen Sicherheitsstandards entspricht, wird das Johannisviertel als vermeintlich historisches Viertel mit engen Gassen, Türmchen und Erkern entstehen. Man interessiert sich dabei wenig für die wirkliche Geschichte des Ortes, und so wird auch die architektonische Anbindung an die Spandauer Vorstadt gründlich misslingen, wie der Architektursoziologe Werner Sewing von der TU-Berlin betont.

Auf eine Rekonstruktion historischer Bauten kommt es dem New Urbanism-Architekten Duany allerdings auch gar nicht an, das ‚historisierende' Element ist nichts als Fassade. Wird der ‚New Urbanism' von europäischer Seite oft für seine historisierende Fassadengestaltung belächelt, deren Geschichte bestenfalls bis zur Erfindung der Main-Street in Disneyworld zurückreicht, besteht sein inhaltliches Programm doch aus anderen Elementen. New Urbanism ist in erster Linie eine Antwort auf den Suburban Sprawl, wie er sich vor allem in Nordamerika findet, und in Berlin sich bestenfalls ansatzweise in den letzten zehn Jahren seit der Maueröffnung entwickeln konnte. New Urbanism wendet sich gegen die Zersiedelung der Landschaft und das Leben in Schlafstädten. Das Städtische wird - allerdings in überschaubarem Rahmen - wieder hervorgehoben. Wichtige Prinzipien des New Urbanism sind die Nutzungsmischung, soziale Mischung, Fußgängerfreundlichkeit, die Orientierung an regionaler Architekturtradition und architektonische Vielfalt. Mit diesen Prinzipien soll das Nachbarschaftsgefühl und der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder aktiviert werden. Diesen Grundsätzen würde wohl jeder zustimmen, wie Andres Duany beim Architekturgespräch zum Thema Tacheles im März 2001 feststellte.

Zum einen zeigen die Projekte des New Urbanism - sowohl in den USA sowie auch das in Berlin geplante Johannisviertel, dass die Umsetzung nicht unbedingt den europäischen Vorstellungen von Urbanität entsprechen, und dass die Auslegung der Prinzipien des New Urbanism relativ ist, zum anderen lässt sich an den Projekten des New Urbanism zeigen, dass es vor allem um eine verkaufsgerechte Inszenierung geht und auch die Umsetzung der Prinzipien selbst teilweise nur als soziale Fassadengestaltung erfolgt.

Betrachtet man vier der in der Charta des New Urbanism festgeschriebene Prinzipien und ihre Umsetzung, stößt man jedoch auf erhebliche Widersprüche:

- Nutzungsmischung: Für das Johannisviertel war in der Planung ursprünglich ein Wohnanteil von 25 Prozent vorgesehen. Der Bezirk forderte 35 %. Inzwischen ist der Wohnanteil auf 29% heraufgesetzt worden. Für die Stadträtin für Stadtentwicklung Dubrau stellt dieser jedoch noch Verhandlungsmasse dar. Absehbar ist, dass er 30 % nicht übersteigen wird. Der Rest der Fläche sind dem Einzelhandel, Gaststätten, einem 4-5 Sterne-Hotel und Büroflächen vorbehalten. Für die zukünftigen BewohnerInnen wird das heißen, dass sie eine kleine Minderheit in einem vor allem touristisch genutzten Gebiet darstellen.

- Soziale Mischung: Das Prinzip der sozialen Mischung bezieht sich in den amerikanischen Projekten des New Urbanism vor allem auf unterschiedliche Einkommensklassen innerhalb der weißen Mittelschicht. Im Falle des Johannisviertels wird auch damit kaum zu rechnen sein. Choice - die Leitidee von Duany, die er als das demokratische Prinzip schlechthin betrachtet - bezieht sich darauf, seinen Wohnort und den Baustil des Hauses wählen zu können, vorausgesetzt, der Kaufpreis dafür kann gezahlt werden. Die Teilnahme an »Choice« fängt in den USA an, wenn eine Familie ca. 7000 US-Dollar für einen Kaufkredit auf den Tisch legen und ein gesichertes Einkommen nachweisen kann. Wer diese Kriterien nicht erfüllt, muss leider draußen bleiben.

- Fußgängerfreundlichkeit: Diese bezieht sich vor allem auf die Bewegung innerhalb der Nachbarschaft. Für amerikanische Verhältnisse mag es revolutionär sein, dass Bürgersteige und Stadtplätze vorhanden sind - für Berliner Verhältnisse sicher nicht. Und während die fußgängerfreundlichen Hauptstraßen zum Flanieren einladen sollen, befinden sich auf der Rückseite Zugangsstrassen zu den Garagen, wie sie für Suburbia typisch sind. Unterhalb des Johannisviertels werden 850 PKW-Stellplätze auf 3 Etagen entstehen.

- Eine Orientierung an regionaler Architekturtradition besteht hauptsächlich darin, vorgefertigte Fassadenelemente an moderne Fertighäuser zu kleben. Andres Duanys Vorliebe für historisierende Architektur erklärt sich hauptsächlich dadurch, dass sich diese besser verkauft.

Dass die private Kleinstadt des New Urbanism nun auch im Zentrum Berlins Fuß fassen kann, entspricht der derzeitigen politischen Linie in dieser Stadt, in der immer mehr öffentlicher Raum privatisiert wird. Neu ist für Berlin, dass eine Fläche dieser Größenordnung bislang weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit beplant werden konnte. Nachdem Jagdfeld die Ergebnisse von zwei städtebaulichen Wettbewerben abgelehnt hatte, vergab er einen Direktauftrag an das Büro aus Miami. Im September sollten die Pläne öffentlich ausgelegt werden. Ob öffentlicher Kritik im Nachhinein stattgegeben wird, bleibt allerdings fraglich, sagte Jagdfeld im Rahmen des Architekturgesprächs im März doch noch, man solle abwarten, bis das Projekt gebaut sei, und dann könne man es immer noch verurteilen.

Wenn dem New Urbanism der Vorwurf der Disneyfizierung der Stadt gemacht werden kann, dann im Hinblick auf die private und käufliche Version des Städtischen. Nicht (allein) die Kulissenstadt ist das Disneyhafte, wie Duany richtig sagt, sondern die Aspekte des Überschaubaren und Sicheren, des Vielfältigen, das nicht ins Unvorhersehbare zu entgleiten droht. Der New Urbanism bejaht das Urbane nur bis zu dem Punkt, an dem es berechenbar bleibt. Dementsprechend bauen die Architekten des New Urbanism vor allem Kleinstädte und wenige Projekte innerhalb von Metropolen. Darüber hinaus wird an den Kassen von Disneyland ein Eintrittspreis zur heilen Welt entrichtet, mit dem erst die Gleichheit zu allen anderen Individuen erkauft werden kann. Die sozialen Widersprüche bleiben vor der Tür, genauso wie die Besitzlosen. So wird es wohl auch am Tacheles geschehen, sowohl bezogen auf die wirklichen BewohnerInnen dieses neuen Stadtteils, die durch den Kauf- bzw. Mietpreis selektiert werden, als auch auf seine BesucherInnen, die diesen Ort als einen Ort des Konsums aufsuchen werden.

Ob im Johannisviertel so etwas wie nachbarschaftliche Gemeinschaft entstehen können wird, wird es sich bei einem relativ geringen Wohnanteil doch eher um ein touristisch genutztes Gebiet handeln, bleibt fraglich. Dennoch ist das in der Charta des New Urbanism verankerte Streben nach nachbarschaftlicher Gemeinschaft und Identität des Ortes als tendenziell konservatives Prinzip zu kritisieren. Soziales Engagement wird auf die unmittelbare Umgebung gelenkt und damit von globaleren Anliegen abgelenkt. Im Fall des New Urbanism bezieht es sich auf eine Umgebung, deren Sozialstruktur durch das Prinzip von Angebot und Nachfrage - Choice im besten Sinne Duanys - auf die obere Mittelschicht beschränkt wurde. Partizipation findet auf der Ebene zwischen Eigentümern und Projektmanagement statt.

Die Förderung des sozialen Engagements und die Identifizierung mit der unmittelbaren Nachbarschaft sind an sich keine Erfindungen des New Urbanism, sondern eine aktuelle Tendenz in der Stadtpolitik, die in Berlin z.B. auch im Rahmen des Quartiersmanagement zum Tragen kommt. Das Quartiersmanagement ist ein Programm zu Aufwertung sogenannter abrutschender Quartiere, die vor einer Ghettoisierung bewahrt werden sollen. Tatsächlich geht diese Aufwertung mit steigenden Mieten und sozialer Verdrängung einher. Zudem fördert das Quartiersmanagement das Empowerment der BewohnerInnen, wobei für konkrete Projekte relativ wenig Gelder vergeben werden. Ziel ist es eher, Kiezinitiativen an die Vermarktung ihres Kiezes heranzuführen. Was sich als soziales Projekt gibt, dient letztendlich der Integration kleinteiliger Subunternehmen (Kiez) in das große Unternehmen (Stadt). Das sich besser verkauft, was sauber und überschaubar ist, ist dabei selbstverständlich. Ein kreatives Potential wie das Vorhandensein künstlerischer Projekte steigert die Vermarktungsfähigkeit.

In diesem Rahmen werden private Initiativen in die Gesetze der Vermarktung integriert - ob durch staatliche Projekte oder private Investoren wie im Falle des Tacheles. Was in jedem Fall verloren geht, ist die autonome Aneignung von Freiräumen. Ehemals durch KünstlerInnen angeeignete Freiräume werden so wie das Tacheles zum Aushängeschild für durch und durch kapitalistische Projekte. Das Tacheles wird kein Einzelfall bleiben. Ähnliche Projekte, die für eine Vermarktung interessante Flächen besetzen, stehen ebenfalls vor der Entscheidung zwischen marktwirtschaftlicher Integration und Aus. Das Pfefferberg-Gelände in Berlin-Mitte, Gelände eines ehemaligen Brauereibetriebes, jetzt Veranstaltungsort und Sitz von verschiedensten im Pfefferwerk organisierten sozialen und kulturellen Initiativen wird schon jetzt umgebaut - auch hier soll u.a. ein Hotel entstehen - und die Zukunft des RAW-Geländes in Berlin Friedrichshain bleibt ungewiss. Für das seit 1994 brachliegende Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks in unmittelbarer Nähe zur Spree, auf dem einige denkmalgeschützte Gebäude stehen, besteht ein Nutzungsvertrag mit den dort ansässigen, in einem Verein organisierten KünstlerInnen, dieser läuft aber zum Ende des Jahres aus. Derzeit sucht die Vivico, von der Eigentümerin, der Deutschen Bahn AG, mit der Vermarktung beauftragt, Investoren für das Gelände, das noch von verschiedensten künstlerischen und (sub)kulturellen Projekten genutzt wird. Auch diese könnten über kurz oder lang in einen Erlebnispark integriert werden. Der Kunst kommt in diesen Erlebnisparks nur noch als Animationsfigur vor, die KünstlerInnen erfüllen die Aufgabe der Animateure im Mickey-Maus-Kostüm.


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Literaturliste

Bodenschatz, Harald: New Urbanism. Die Neuerfindung der amerikanischen Stadt. In: StadtBauwelt (145) 2000, S.22-31.

Bodenschatz, Harald; Kegler, Harald: Städtebaureform auf Amerikanisch: Projekte des New Urbanism. In: StadtBauwelt (145) 2000, S. 42-59.

Bukatman, Scott; There's Always Tomorrowland: Disney and the Hypercinematic Experience. In: October (57) 1991, S.55-78.

Congress for the New Urbanism: Charta des New Urbanism. New York u.a. 2000.

Duany, Andres: Eine Gegenrede: Nichts als Vorurteile!. In: StadtBauwelt (145) 2000, S. 36-41.

Sorkin, Michael: Wir seh'n uns in Disneyland. In: Arch+ (114/115) 1992, S.100-110.